Mme de Staël – oder was ein reaktionärer Geist bewirkt

Wir schreiben das Jahr 1790. Germaine de Staël erwartet das zweite ihrer fünf Kinder. Nicht alle sind ehelich. Sie ist unglücklich mit Baron Magnus Staël von Holstein verheiratet, der siebzehn Jahre älter ist, aber dank seines Amtes – er ist schwedischer Botschafter – der Familie immerhin ein Leben in Paris ermöglicht. Germaine de Staël schont sich nicht. In ihrem Salon entsteht der Entwurf für die erste Verfassung von 1791. Als aber die Revolution mehr und mehr zur Schreckensherrschaft wird, flieht sie in das väterliche Schloss am Genfer See, beginnt eine Liaison mit dem Schriftsteller Benjamin Constant, kehrt mit ihm nach Paris zurück, merkt, dass Napoleon dort ein zunehmend diktatorisches Regime aufbauen will und geht in erbitterten Widerstand zu ihm. Sie schreibt ein Buch nach dem anderen, kritisiert, dass in Frankreich eine viel zu große Ehrerbietung gegenüber der Antike auch noch unter den zeitgenössischen Schriftstellern herrscht und fordert ihre Mitmenschen dazu auf, den Blick nicht nur in die Vergangenheit, sondern in die Gegenwart der nord- und mitteleuropäische Kulturen zu richten. Sie lernt Deutsch, was sie allerdings nie richtig beherrscht, reist 1803 nach Weimar, trifft dort Wieland, Schiller und Goethe und verbringt mit August Wilhelm Schlegel mehrere Monate in Italien. Inzwischen ist sie junge Witwe – ihr Mann ist 1802 gestorben – und versucht vergeblich, Benjamin Constant zu einem dauerhaften Bekenntnis zu ihr zu bekehren. In Wien beginnt sie 1807 das Buch, das nicht nur ihren Ruhm zementieren, sondern auch das Bild von Deutschland in Frankreich über Jahrhunderte hinweg beeinflussen sollte. Es trägt den durchaus anspruchsvollen Titel Über Deutschland. Fertiggestellt 1810, wird es in Frankreich sofort zensiert und vernichtet. Man will kein deutsches Vorbild vorgehalten bekommen. Napoleon kann keine anderen Götter neben sich dulden.

Mme de Staël muss außer Landes, verliebt sich am Genfer See erneut, bekommt ein weiteres Kind und tritt eine lange Reise an, die letztlich in London endet. Sie macht währenddessen immer wieder Stimmung gegen Napoleon. Dank der Gewissenhaftigkeit von Schlegel, der die Korrekturfahnen ihres Buches über Deutschland aufgehoben hatte, kann sie es in London drucken lassen. Nach der Abdankung Napoleons kehrt sie nach Paris zurück, unterstützt König Ludwig XVIII., stirbt aber 1817 im Alter von 51 Jahren. Den Siegeszug ihres Buches in ganz Europa erlebt sie aber noch.

Über Deutschland prägt beispiellos das Bild Deutschlands in der französischen Öffentlichkeit. Warum? Lassen wir Germaine de Staël sprechen:

Es gibt in Deutschland Schätze von Ideen und Kenntnissen, welche die übrigen Nationen Europas in sehr langer Zeit nicht erschöpfen werden.

Auch das poetische Genie, wenn der Himmel uns dasselbe zurückgibt, könnte einen glücklichen Antrieb von der Liebe für die Natur, für die Künste und die Philosophie erhalten, welche in allen Gegenden Deutschlands gärt. Zumindest aber wage ich die Behauptung, dass jeder von uns, der sich einer ernsten Arbeit, sie bestehe worin sie wolle, widmen will, in Hinsicht der Geschichte, der Philosophie und des Altertums die Bekanntschaft der deutschen Schriftsteller, die sich damit beschäftigt haben, nicht entbehren kann.

Frankreich kann sich einer großen Zahl von Gelehrten höchsten Ranges rühmen; allein selten sind in ihren Kenntnisse mit philosophischem Scharfsinn verbunden gewesen, während beide in Deutschland gegenwärtig beinah unzertrennlich sind. (…)

Als ich das Studium des Deutschen begann, kam es mir vor, als ob ich in eine ganz neue Sphäre träte, worin sich das auffallendste Licht über alles verbreitete, was ich bis dahin auf verworrenste Weise empfunden hatte. Seit einiger Zeit liest man in Frankreich nur Memoiren und Romane, und wahrlich nicht aus bloßem Flattersinn ist man ernsthafter Lektüre minder fähig. Der Grund liegt vielmehr darin, dass die Begebenheiten der Revolution die Franzosen gewöhnt haben, nur auf die Kenntnis der Tatsachen und der Personen einen Wert zu legen. In den deutschen Büchern über die abstraktesten Gegenstände findet man die Art von Interesse, welche nach guten Romanen lüstern macht, d.h. nach dem, was sie uns über unser eigenes Herz sagen. Der unterscheidende Charakter der deutschen Literatur besteht darin, dass alles auf das innere Dasein bezogen wird; und da dies das Geheimnis der Geheimnisse ist, so knüpft sich darin eine grenzenlose Neugierde. 1

Es ist verständlich, dass Napoleon solche Sätze nicht gefallen. Allein der erste Satz idealisiert Deutschland bereits: Es gibt in Deutschland Schätze von Ideen und Kenntnissen, welche die übrigen Nationen Europas in sehr langer Zeit nicht erschöpfen werden. Da wird Deutschland auf einen Sockel gehoben, als Vorbild stilisiert und im weiteren Verlauf sieht Mme de Staël überall in allen Regionen Deutschlands gar den Nährboden für Natur, Künste und Philosophie. Sie regt an, sich mit deutscher Literatur zu beschäftigen. Und sie lässt die Franzosen, das Volk, dessen Sprache in allen besseren Kreisen Europas gesprochen wurde, schlecht wegkommen. Mme de Staël kreiert ein Bild von Deutschland als Land der Dichter und Denker. Ja, es ist kein Deutscher, der den Weg dieses Begriffes geebnet hat, es ist eine Frau aus der romanischen Schweiz, die mit einem Franzosen verheiratet war und sich schriftstellerisch betätigt. Wahrscheinlich hat Napoleon keine Zeile des Buches gelesen, das immerhin über 800 Seiten dick ist. Frankreich will er als die „grande nation“ sehen, da passt es nicht ins Bild, dass die Franzosen ernsthafter Lektüre nicht fähig seien, wie es Mme de Staël schreibt. Sie nennt den Grund: Die Revolution hat dazu geführt, dass sie nur auf Kenntnis der Tatsachen und Personen einen Wert legen. Nein, nicht die Franzosen seien an diesem Zustand schuld, die alles überschattende Revolution ist die Quelle. Mme de Staël, die die Revolution ja erst unterstützt hat, aber die Ausweitung zum „terreur“, zur Schreckensherrschaft ablehnte, bezieht hier eine völlig andere Position als ein berühmter Deutscher, den es nach Frankreich zog: Der junge Heinrich Heine schaut sehnsuchtsvoll nach Frankreich und merkt: Dort wagt man etwas, da bewegt sich die Zeit, da will ich hin. Man kann Heine viel vorwerfen, sicher aber nicht, dass für ihn nur Tatsachen und Personen entscheidend waren. Beide, er und fast eine Generation vor ihm Mme de Staël, kämpfen für Liebe und Freiheit und doch sind beide in ihrem Zugang zu Frankreich und Deutschland meilenweit voneinander entfernt. Heine widmen wir ein eigenes Kapitel, daher zurück zum obigen Text: Mme de Staël bescheinigt der deutschen Literatur auf das innere Dasein bezogen zu sein. Die innere Welt, das, was zu Herzen geht. Dies zu lesen, das mache – so ihre Worte – die eigentliche Güte der Literatur aus. Und eine solche findet sie vorrangig in Deutschland.

Wie kommt es, dass im frühen 18. Jahrhundert ein solches Bild Deutschlands entstehen konnte? Zwischen 1792 und 1815 wüten überall in Mitteleuropa Kriege. Napoleons Siegeszug und sein Untergang beherrschen die Zeit. Lange sieht es so aus, als wäre er unbesiegbar. Das Heilige Römische Reich deutscher Nation endet 1806 mit der Abdankung des letzten Kaisers Franz II. Deutschland ist weit davon entfernt, ein Nationalstaat zu sein, aber es wird als Kulturnation mit zersplitterten Kleinstaaten angesehen, das zwar kein einigendes kulturelles Zentrum hat, aber eine beachtliche Reihe von Mäzenen, die in ihren Residenzstädten für hohe kulturelle Dichte sorgen. In Deutschland kommt die Romantik zügig in Gang. In Jena treffen sich junge Menschen, allesamt bemüht darum, das Bewusstsein und nicht die Zeit zu revolutionieren. Das ist es, was Mme de Staël anzieht.

Autonomie ist ein Zauberwort, das sich in allen möglichen Schaffensbereichen zeigt. Kein Zentralismus, trotz widrigster politischer Umstände die Möglichkeit einer kulturellen Blüte. Mme de Staël will Deutschland als ein Land zeigen, in dem es anders zugeht als in Frankreich. Ihr geht es nicht um das Territorium Deutschland, nicht um geographische Grenzen, sondern um das „Allemagne pensante“, das denkende Deutschland.

Als das Buch erscheint, ist die Zeit reif für solche Gedanken. Mme de Staël ist wahrlich nicht die erste, die das denkende Deutschland bewundert. Und sie ist Realistin genug, um auch Kritik zu üben. Der Romanist Wolfgang Leiner schreibt:

So falsch es wäre, anzunehmen, Mme de Staël habe ein bis dato völlig unbekanntes Deutschland entdeckt, so verfehlt wäre es auch zu glauben, ihr Deutschlandbild stehe in völligem Gegensatz zu den Vorstellungen all der französischen Beobachter, die das Deutsche als eine Art Umkehrung französischer Ideale gesehen hatten: souplesse/Schwerfälligkeit, Esprit/Pedanterie, Eleganz/naive Unbeholfenheit, Spontaneität/langes Überlegen. Das Deutschlandbild der Mme de Staël ist entgegen einer weitverbreiteten Annahme keineswegs ein Bild, in dem alles in hellen Farben gehalten wird. 2

Germaine de Staël geht auch mitunter hart ins Gericht mit Eigenschaften, die sie bei Deutschen beobachtet:

Dem Deutschen fehlt es, mit wenigen Ausnahmen, an Fähigkeit zu allem, wozu Gewandtheit und Geschicklichkeit erfordert wird. Alles beunruhigt ihn, macht ihn verlegen; er bedarf ebensosehr der Methode im Handeln als der Unabhängigkeit im Denken. (…) Die Deutschen, die sich dem Joche der Regeln in der Literatur nicht unterwerfen können, möchten, dass im Leben ihnen alles vorgezeichnet würde. Sie verstehen sich nicht darauf, mit den Menschen zu verhandeln, und je weniger man ihnen Gelegenheit gibt, sich bei sich selbst Rat zu holen, desto mehr ist man ihnen willkommen. 3 (36)

An dieser Stelle kommt mir der Blick auf Deutschland sehr aktuell vor. Gewandtheit und Geschicklichkeit in Verhandlungen mit Frankreich fehlen, die Nachrichten aus aller Welt beunruhigen uns immer noch, das nennt man heute „German Angst“. Es scheint mir, als hätte sich an dem, was Mme de Staël vor zweihundert Jahren beobachtet hat, nicht viel geändert.

Das Bild der Mme de Staël ist differenziert, es enthält Licht- und Schattenseiten. Sie geht akribisch vor, beschreibt in einem langen ersten Teil Sitten, geht im zweiten Teil über zu Literatur und Kunst und in den folgenden dann zu Philosophie, Moral und Religion. Es ist das Werk einer mutigen Frau, die die Zeit kritisch begleitet, sich nicht unterbuttern lässt und wirkliches Interesse am Nachbarn hat. Sie will den anderen verstehen, ja, aber sie will auch das Gute im anderen für sich nutzbar machen.

Die Rezeption des Werkes ist gewaltig. Am nachhaltigsten ist, dass durch das Buch Deutschland zum Thema in französischer Literatur wird.

Anne Germaine de Staël: Über Deutschland, hg. Von Monika Bosse, übersetzt von Friedrich Buchholz, Samuel Heinrich Catel und Julius Eduard Hitzig auf Grundlage der deutschen Erstausgabe von 1814, Frankfurt (Insel Verlag) 1985

1S. 470f. im Kapitel „Von den literarischen Reichtümern Deutschlands und von seinen berühmtesten Kunstrichtern, August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schlegel“

2S. 87 in: Wolfgang Leiner: Das Deutschlandbild in der französischen Literatur, Darmstadt (Wissenschaftliche Buchgesellschaft) 1991

3S. 36 im Kapitel „Sitten und Charakter der Deutschen“

Besuch im Füllermuseum: Der virtuelle Literaturkreis on tour.…

Am 15.9.2023 herrschte full house im Heidelberger Füllermuseum – einige Damen und Herren, die beim virtuellen Literaturkreis zum Teil seit Jahren mit dabei sind, hatten einen eindrücklichen Vormittag. Das Füllermuseum, – nicht nur einzigartig in der Region sondern das einzige seiner Art überhaupt, wird seit Jahren aufgebaut und geführt von Thomas Neureither, der selbst aus einer Heidelberger Füllfederhalterdynastie stammt. Heidelberg war einst die Hochburg der Produktion, – ein Umstand, der heute nur noch marginal erkennbar ist.

Herr Neureither begeisterte uns. Er erzählte nicht nur vom Unterschied des händischen und maschinellen Schreibens, wir hatten Gelegenheit, die unterschiedlichen Stufen der Entwicklung von der Feder bis zum Füllfederhalter selbst auszuprobieren, wie bekamen einen Einblick in die komplizierte Zusammensetzung eines Füllers und auch erklärt, was einen guten Füller wirklich ausmacht. Herr Neureither hat sich sein enormes Wissen nicht angelernt, er lebt darin.

Der Vormittag verging wie im Flug und wurde durch ein sehr fröhliches Mittagessen in Handschuhheim abgerundet.

Ein gelungener “Betriebsausflug”, der ob des großen Interesses mit Sicherheit erneut von mir angeboten wird.

Advent im Hochgebirge,Teil 8

Also ging er und ging aus dem Tag hinaus und in die Nacht hinein, ging und ging.

Benedikt geht mit seinen Tieren und den Schafen zur Hütte. Aber seine Rechnung geht nicht auf, wie es nun einmal im Leben so oft ist. Der erwartete Postkutscher ist nicht da, nur dessen Pferde. Benedikt will auf ihn warten, ihm ist es wichtig, dass die Seinen Nachricht von ihm erhalten. Aber auch dieser Plan geht nicht in Erfüllung. Benedikt besinnt sich und will Knorz nicht zu lange allein mit den Schafen in der Einsamkeit stehen lassen. Die mit Heu versorgten Pferde sollen dem Postkutscher Signal genug sein, um zu wissen, dass er da war. Er hofft, dass der Kutscher diese Botschaft zu den Seinen bringt. Und einmal mehr ist ihm das Wetter feindlich gesonnen. Der Wind wird zum Sturm, zu Gebirgswetter, zu Winterwetter zu richtigem Schneesturm. Und Benedikt ist von diesem Tosen wie von einer Mauer eingeschlossen.

Das Bild geht unter die Haut. Die Weite der Landschaft birgt eine tödliche Gefahr. Sie wird zur Mauer, sie wird zum Gefängnis, da keinerlei Orientierung möglich ist. Benedikt wird sich seiner Schwäche bewusst. Er, der wahrlich ein gutes Gespür für die Unbillen der Natur besitzt, der erfahren ist und dem Übermut oder Tollkühnheit fremd sind, er weiß, was die Stunde schlägt. Er weiß um seine Todesgefahr und vielleicht ist dieses Wissen für ihn lebensrettend. Er verfällt nicht in Panik oder Schockstarre. Er handelt bedächtig und erkennt an, dass er nicht allmächtig ist.

So ohnmächtig ist der Mensch. So wenig nützt es, wider den Stachel zu löcken, wenn er von stärkeren Mächten geführt wird.

Benedikt weiß, dass er sich den Gesetzen der Natur beugen muss, wenn es eine Chance geben soll, dass sein Unternehmen gelingt. Die Hütte, das Loch, irgendein Schutz will sich nicht finden. Aber Benedikt gibt nicht auf.

Aber Benedikt fand doch einen Ausweg. Es ist des Menschen Aufgabe, einen Ausweg zu finden – vielleicht seine einzige. Nicht nachzugeben. (…) Wenn die Füße nicht mehr wollen, gut, dann muss man darauf verzichten.

Wie leicht hört sich das an und wie schwer ist das umzusetzen. Der Mensch hat die Aufgabe, nicht aufzugeben. Das kann in bestimmten Situationen als Hohn aufgefasst werden. Menschen, die am Rande stehen, deren Kraft am Ende ist, wenn man diesen Menschen sagt, dass es ihre Aufgabe sei, nicht aufzugeben, muss man mit heftigen Gegenreaktionen rechnen. „Du hast ja keine Ahnung, was ich hier stemmen muss!“ Das wäre eine mögliche Antwort. So richtig zufrieden ist der Mensch eigentlich nur, wenn alles funktioniert. Wehe, ein Zahn macht Probleme, mag er noch so klein sein, er kann die Welt des Menschen ordentlich in Schräglage bringen. Und was würde wohl der antworten, dessen Füße nicht mehr wollen, wenn man ihm sagt, er möge darauf verzichten? Ich höre im Geiste die Antwort: „Du hast gut reden!“

Aber welche Wahl hat Benedikt? Aufgeben oder weitermachen? Er wählt den zweiten Weg und ruht sich in einer kleinen Schneehöhle aus, eifrig darauf bedacht, nicht einzuschlafen. Wer jetzt einschläft, der wird nicht mehr wach, das weiß er. Draußen ist es noch kälter als üblich, der Sturm wird eher heftiger, seine einzige Chance besteht darin, seine Höhle zu finden. Das nackte Leben zu schützen. Und siehe da, – am wenigsten weiß Benedikt, wie das möglich war – er findet seine Höhle. Und dort kommt er allmählich zu sich.

Was Kaffee ist, weiß nur, wer ihn in einer Höhle unter der Erde getrunken hat, bei 30 Grad Kälte und inmitten einer Wüste von Unwetter und Bergen.

Seine Kleider trocknen. Zwei Tage noch und dann ist Weihnachten, das weiß Benedikt und der Blick auf seine Vorräte sagt ihm: Sie reichen nicht mehr.

Gunnarsson macht nun einen Absatz im Text und schaltet sich mit der rhetorischen Frage auktorial ein:
Ist noch mehr von Benedikt und seiner siebenundzwanzigsten Adventwanderung zu erzählen?

Ja, denn sie ist noch nicht zu Ende. Im Zeitraffer erfahren wir nun, was die nächsten zwei Tage noch geschieht: Der Gletscherfluss ist noch nicht zugefroren, er kann also nicht mit seinen Skiern darüberfahren, sein Versuch, direkt ins Dorf zu gelangen wird dadurch vereitelt. Er findet weitere Schafe und bringt sie erst einmal in die Obhut von Knorz. Der zweite Weihnachtstag bricht an und jetzt beschließt er, dass es nur noch einen Ausweg gibt. Er macht sich ohne Knorz und die Schafe auf nach Botn.

Wie mag es in ihm aussehen? Die Entscheidung, hier aufzugeben, ist ihm nicht leicht gefallen. Es ist aber eine vernünftige Entscheidung, auch wenn er sich eingestehen muss: Mission nicht erfüllt. Völlig ausgemergelt, eher dem Tod als dem Leben nahe, kommt er in der Zivilisation an. Die erste Frage, die er dort stellt, ist:

Wo ist der junge Benedikt?

Er ist nicht zu Haus, er ist mit einigen jungen Leuten in die Berge gegangen. Und siehe da, sie bringen die Schafe und Knorz auf den Hof zurück. Die Bauern, die bereit waren, nach Benedikt und den jungen Leuten zu suchen, brauchen nicht mehr aufzubrechen. Es hat sich alles gefügt. Und die Weihnachtszeit bricht an. Schön an diesem Ende ist, dass es offensichtlich mehrere Menschen gibt, die sich sorgende Gedanken machen und dann auch handeln.

Wir wissen nicht, ob Benedikt nun den Stab abgibt an Jüngere. Wir wissen auch nicht, ob all die, die ihn aufgehalten haben, die Grimsdals, der Bauer, der seinen unreifen Knecht auf die Suche nach den Fohlen geschickt hat, ob sie alle eine Lehre aus ihren Fehlern ziehen. Das alles bliebt im Unklaren.

Wir sind mit Benedikt durch diesen Advent gewandert. Ein Advent, der jedem von uns mit Sicherheit nicht nur die Vorfreude auf Weihnachten beschert hat. Viele Sorgen gehen mit in jeden Tag, egal in welcher Jahreszeit. Wie viele Fragen lässt der Text offen, wie viele nehme ich mit in meine Weihnachtszeit? Mir ist klar, ich hätte weder die Kondition noch das geistige Durchhaltevermögen, um Benedikts Weg zu gehen. Aber er rückt auf so eindrückliche Weise die Welt zurecht, dass es schlicht gut tut, diesen Text zu lesen. Was ist der Mensch? Diese Frage stellt sich am Ende des Lesens mit Klarheit? Er ist begabt mit Denken, aber er ist gleichzeitig abhängig von der anderen Kreatur. Hier im Text sind es Leo und Knorz, ohne die die Suche nach den verlorenen Schafen erfolglos geblieben wäre. Menschliche Größe hängt mit Demut zusammen, mit Einbindung in den großen Kontext der Welt. Es geht hier beileibe nicht um Benedikt. Die Geschichte lese ich als Parabel eines Menschen, der die Natur respektiert, der sehr sensibel auf die Bedürfnisse seiner Umwelt reagiert, der um seine Arbeit für die und in der Welt weiß. Benedikt ist kein Egoist, er ist auch kein Abenteurer, Benedikt ist ein Mensch mit einem klaren Ziel vor Augen, das er zugegebenermaßen nur mit Idealismus erreichen kann.

Lassen wir ihn nun in seiner Weihnachtsfreude wieder zu Kräften kommen. Die Erzählung schließt mit dem Satz:

Und so war denn auch diese Adventswanderung vorüber, der Dienst beendet, und Benedikt wieder unter Menschen – für eine Weile.

Es ist anzunehmen, dass er sich im folgenden Advent wieder aufmacht, um die Schafe zu suchen, die verloren sind. Und es ist anzunehmen, dass sich mancher von den Leserinnen und Lesern, die die vergangenen Wochen mit Benedikt unterwegs waren, im kommenden Jahr wieder das Buch vornimmt und erneut die große Wanderung nach drinnen macht, wie es im Text heißt. Die Geschichte kann zu einem Ritual der Adventszeit werden. Große Literatur. Die zeigt sich bereits im ersten Satz der Geschichte:

Wenn ein Fest bevorsteht, machen sich die Menschen dazu bereit, jeder nach seiner Weise.

Advent im Hochgebirge, Teil 7

Hier draußen in Nacht und Einsamkeit und Mondlicht kam ihm wieder eine Ahnung von Feiertag, von Advent, ein Nachhall von Tönen in der Luft, von Glockenklang, von Erinnerungen an Sonne und Heuduft, von Hoffnung auf ein Sommerland. Oder nicht? Am Ende war es nur eine besondere Art von innerer Stille.

Wieder ist es Nacht, wieder ist da Einsamkeit und Stille und diese Stimmung ist es, die Benedikt an Feiertag, Advent, Glockenklang, Sonne, Heuduft und Sommerland denken lässt. Hinter jedem Begriff stehen klare Assoziationen, positive Bilder, absolut nicht vereinbar mit der rauen Umgebung, die ihn im Moment umgibt. Äußerliche Stille dringt in sein Inneres und erzeugt diese Bilder. Die Tiere um ihn, sein Leo und sein Knorz, tun ihr Übriges. Es ist eine angespannte Stille:

Denn jetzt schlug die Stunde.

Sie brechen auf, noch ist es Nacht, windstill, sie gehen ins Ungewisse.

Doch schön ist’s mit den Sternen zu wandern und gleich ihnen in Bewegung zu sein.

Die drei gehen ihren Weg, ohne Hektik, wohlbedacht, angstfrei, obwohl rundum schwarzblankes nächtliches Eis ist. Die Wanderung wird zu einem Gedicht: sie wurde im Blut zu einem Gedicht. Also im Schmerz? Und wie ein Gedicht wird sie auswendig gelernt, das heißt dann auch vertraut. Was ich auswendig kenne, das ist mir vertraut, das habe ich vielfach bereits erfahren, von dem kann ich vielleicht auch sagen: Das brauche ich. Es ist ein Ritual. Die Psychologie heute weiß um die Wichtigkeit von Ritualen für Menschen. Sie geben Orientierung, sie sind Leitplanken, ohne sie wird Wesentliches nicht sichtbar. Und ja, sie bringen Ruhe.

Endlich kam tiefe Ruhe in Benedikt.

Diese Ruhe kommt mitten in der äußersten Anspannung, mitten im anstrengenden Weg in ihn. Gunnarsson gewährt uns einen tiefen Einblick in seinen Benedikt. Er findet ein starkes Bild für dessen Gemütszustand:

Ihm war wie einem Mann zumute, der am Ertrinken war und plötzlich den Kopf aus dem Wasser streckt und gerettet ist.

Diese Anstrengung, den Kopf über das Wasser zu bringen, führt zum Überleben. Auch diese Metapher lässt sich spielend vervielfachen: Wann sind Menschen am Ertrinken? Sicher nicht nur, wenn sie von Wasser umgeben sind, sondern wenn alles einfach zu viel wird, wenn eigentlich noch nicht einmal die Kraft da ist, den Kopf über Wasser zu halten. Aber ein winziger Moment scheint auszureichen, um den Schalter umzulegen. Benedikt bemerkt, dass ihm die Luft wie Quellwasser entgegenströmt. Hier hätten sicher viele Deutschlehrer einen dicken Bezugsfehler markiert, Luft, die wie Quellwasser strömt! Aber Dichter dürfen so poesievoll schreiben und Leser dürfen diese Poesie auch verstehen. Wie schön! Benedikt erkennt: Dies war sein Leben! Und diese Erkenntnis bringt ihn zum Einssein mit sich, er hadert nicht, er vergeudet keine Kraft, er erkennt: So und wahrscheinlich nur so ist mein Leben. Alle kräfteraubenden Gedanken sind weg. Er heißt dieses absolut heftige und schwere Leben willkommen. Sorgen sind verschwunden, vielleicht bleibt eine: Wer wohl seinen Part übernehmen wird, die Tiere zu retten? Aber auch hier ist er zuversichtlich: Irgendjemand wird wohl kommen. Und diesem Irgendjemand wünscht er solche Begleiter, wie er sie hat: Leo und Knorz, die Tiere, für die er die Verantwortung trägt.

Benedikt kennt sein Ziel. Es ist unverkennbar, dass das eine wesentliche Aussage von Gunnarsson ist, wahrlich kein Vertreter von: Der Weg ist das Ziel. Nein! Sein Protagonist hat ein klares Ziel vor Augen und um dies zu erreichen, ist ein Weg erforderlich. Dieser Weg ist nicht beliebig, er hat eine klare Ausrichtung, auch wenn er oft genug unwegsam ist. Benedikt geht nicht ziellos drauflos, er weiß, wohin er will.

Und es wird Tag und mit dem Anbruch des Tages schwindet die Stille der Nacht. Winde beginnen ihr teuflisches Spiel, lassen Konturen verblassen, schneegraues Land und schneegrauer Himmel werden eins. Ein neuer Schneesturm braust den dreien um die Ohren. Gerade vom Ertrinken gerettet, kommen sie jetzt nicht in säuselnde laue Lüftchen, sondern in einen mörderischen Sturm. Das ist kein guter Weg, gerade jetzt, wo die Kraft ohnehin schon mehr als angegriffen ist. Atmen ist kaum noch möglich, so heftig werden die drei gebeutelt. Benedikt hofft, sein Loch zu finden, das er Hütte nennt und das er bereits vor siebenundzwanzig Jahren gebaut hat. Aber in dieser menschenfressenden Gebirgswüste ist Orientierung nicht mehr möglich.

Leben und Tod liegen hier auf den Schalen der Waage – wohin sinkt die Schale?

Die Balance ist schwer zu halten, alles droht zu kippen. Mut ist der einzige Helfer. Man macht weiter. So einfach ist es.

Benedikts Tastsinn hilft ihm. Er findet einen Stein, den er kennt. Dieser signalisiert ihm: Du bist schon über dein heutiges Ziel hinaus gegangen. Er muss nun zurück, läuft im Zickzack, spielt dabei ein gefährliches Spiel, da Orientierung kaum möglich ist. Und dann – war es Zufall? – findet er sein Loch, seine Hütte. Mit eindringlichen Bildern beschreibt Gunnarsson hier einen Menschen, der allein auf sich gestellt, aber mit Verantwortung für seine Tiere weitermuss, auch wenn die Kraft zu Ende geht. Benedikt ist nicht auf der Flucht, aber die Bilder sind die, von denen auch Menschen erzählen, die den langen Marsch über das zugefrorene Haff im Zweiten Weltkrieg nach Westen hinter sich gebracht haben. In solch existentiellen Situationen gibt es keine Alternativen. Die einzige Möglichkeit ist weitergehen, in Bewegung bleiben, nicht aufgeben. Gunnarsson wechselt jetzt, am Loch angekommen, die Perspektive. Nicht mehr Benedikt, sondern seine Schaufel übernimmt die Regie.

Jetzt begann die Schaufel ihre Arbeit.

Sie wird personifiziert, sie muss jetzt die Arbeit leisten. Und sie gehorcht. Der Mensch braucht solche Werkzeuge zum Überleben. Die drei betreten das schützende Loch und wieder geht das Ritual los: Erst werden die Tiere versorgt, dann der Mensch. Sie teilen ihr Essen und auch wenn das Brot gefroren ist und zwischen den Zähnen knirscht, so scheinen sie zufrieden.

Den Mann mochte er sehen, dachte Benedikt, der es herrlicher auf seinem Schloss hatte und sicherer in den Bedrängnissen des Lebens, dazu noch mit der Aussicht, in den nächsten Tagen ein paar Schafe vom Hungertode zu erretten und seiner Gemeinde wie der Allgemeinheit und Allschöpfung nützlich zu sein. „Denn merk dir das, Leo, selbst der Papst in Rom hat es nicht besser und feiner als du und ich, oder ein reineres Gewissen.“

Den Papst werden keine Sorgen plagen, ob er die nächsten Tage noch satt wird. Wohl aber Benedikt. Nun geht auch noch das Licht im Loch aus. Finsternis. Keine natürliche Finsternis breitet sich aus, sondern eine bedrohliche. Das Atemloch fehlt. Auch wenn Benedikt kaum klare Gedanken fassen kann, er stößt geradezu instinktiv die Tür auf und sorgt im Loch für Frischluftzufuhr. Mitten in der Nacht nach einem bleischweren Schlaf brechen er und Leo auf. Der Tag ist zwar windstill, aber sie finden kein lebendes Schaf, nur noch Kadaver. Benedikt ist ausgezehrt, er hadert mit Gott und der Welt, er zweifelt und er gibt sich seiner Erschöpfung hin. Aber von Aufgeben ist bei ihm keine Spur. Am nächsten Tag ändert sich die Lage, dieses Mal sind alle drei auf der Suche. Und ihre Hartnäckigkeit wird belohnt.

Das Glück, das ihn gestern bei klarem Himmel im Stich gelassen hatte, kehrte wieder und begegnete ihm hier mitten im Schneetreiben.

Sie finden fünf Schafe, welch ein Erfolg. Aber damit ist nicht genug getan. Die Schafe sind untereinander uneins und nur schwer zusammenzuhalten. Das kostet ihn alle Kräfte.

Das Bild ist beeindruckend gewählt. Hier wird eine riesige Anstrengung beschrieben, eine Suche nach verlorenen Schafen, die letztlich belohnt wird. Sie werden gefunden. Aber statt sich zu fügen, driften sie auseinander und drohen die ganze Mühe zunichte zu machen. Auch hier kann leicht die Sinnfrage gestellt werden. Wozu der ganze Aufwand, wenn offensichtlich die, für die er betrieben wird, so undankbar und wenig kooperativ sind?

Die Schafe können nicht ahnen, was ihnen sonst gedroht hätte. Sie wissen gar nicht, dass sie gerettet worden sind und dass Knorz nur bei ihnen bleibt, um sie zu schützen. Der Leithammel erweist sich bei der Suche und dem Heimholen als klug und weitsichtig. Benedikt und seine wachsende Tierfamilie verbringen die folgende Nacht nicht im Loch, sondern in der Hütte. Sie hoffen, dort den Postboten zu treffen, der Nachrichten von Benedikt nach Hause übermitteln kann. Benedikt weiß sehr wohl, dass sich Menschen um ihn sorgen und will ihnen ein Lebenszeichen zukommen lassen. Vom Feld, von feindlicher, gefährlicher Umgebung aus. Wie nah ist der Text jetzt an unserer derzeitigen Situation, wenn wir nach Osten blicken.

Advent im Hochgebirge, Teil 6

Benedikt liegt völlig erschöpft auf seinem Lager, er weiß, dass die schwerste Arbeit jetzt erst kommt. Ohne die Aktion Grimsdal wäre er vielleicht bereits auf dem Heimweg. Nun hat er die gesamte Mühe, die verirrten Schafe aufzuspüren, noch vor sich. Was wäre, wenn …? eine Frage, die wohl jeder kennt.

… stattdessen lag er hier, verschlissen wie seine alten Kleider. Auch innerlich zerrissen.

Und wie er so liegt in der finsteren Hütte, da klopft es. Ja, er hat sich nicht verhört.

Es war ein junger Mann, daheim aus der Nachbarschaft, Jon auf Fjall. „Hast du unsere Füllen gesehen?“

Ein weiterer Umweg für Benedikt bahnt sich an. Hier steht ein völlig unerfahrener junger Mann vor ihm, geschickt von seinem Bauern, um verlorene Füllen aufzuspüren. Grimsdal hatte wenigstens Männer dabeigehabt. Die konnten Verantwortung für sich selbst tragen. Hier aber steht ein junger Mann, dessen Alter uns nicht genannt wird, aber Benedikt weiß, dass er viel zu unerfahren ist, um sich in dieser rauen Landschaft zu orientieren. Benedikt selbst war 27 Jahre, als er zum ersten Mal in die Berge ging, um Schafe aufzuspüren, die den Winter sonst nicht überleben würden. Dieser junge Mann muss demnach viel jünger sein. Keine Spur von Wut über die Verantwortungslosigkeit des Bauern ist bei Benedikt zu spüren. Aber er übernimmt sofort die Verantwortung für den jungen Mann und entscheidet blitzschnell, dass er ihm helfen wird. Er überlegt dabei sogar, dass ein Ruhetag seinem Knorz auch gar nicht schaden kann.

Meinst du wirklich, du hättest Zeit, dass wir uns zusammen etwas umsehen könnten“, fragte Jon, unfähig zu Hintergedanken und Heimlichtuerei.

Diese Textstelle berührt mich in besonderem Maß. Der junge Mann hat keine hinterlistigen Gedanken. Er hat einen Auftrag zu erfüllen und er muss gehorchen, um seine Stellung zu behalten. Benedikt hingegen weiß, dass der große Fehler nicht beim jungen Mann und erst recht nicht bei den Füllen liegt, sondern bei dem Bauern, der alles andere als umsichtig handelt, weder gegenüber seinen Tieren noch gegenüber seinem Knecht. Er kommt nicht gut weg hier in der Textstelle. Und nun bekommt Benedikt eine Frage gestellt, die viele von uns sicher in einem anderen Kontext kennen. Die Frage, ob er Zeit habe, ihm beim Suchen der Füllen zu helfen. Wir können sogar umformulieren: Hast Du Zeit, dich um das eigentlich Wichtige im Leben zu kümmern? Was ist Zeit? Wofür verwende ich sie? Was ist mir wichtig, was muss auf Platz 2? Auch hier entscheidet jeder nach seiner Weise. Benedikt hat eigentlich keine Zeit zu verlieren, er hat wenig Proviant, er hat nur ein überschaubares Maß an Kräften und er weiß auch, dass die Tiere nicht endlos fit sind. Er weiß, dass er unter Zeitdruck steht. Und doch ist die Frage, ob er Zeit hat, für ihn obsolet. Zeit ist dann besonders kostbar, wenn sie nicht da ist. Nein, das ist kein Paradoxon, das ist die Quelle für den Weg, den er bestreitet.

Was heißt Zeit“, antwortet Benedikt, und es tat ihm einerseits wohl, aber doch auch ein bisschen weh, dass der Bursche mit seiner Hilfe offenbar nicht gerechnet hatte.

Hier ist er mir so sympathisch, dieser Benedikt. Er ist nicht altruistisch. Nein, es tut ihm auch gut, dass er signalisiert bekommt: Hey, ich brauche Dich! Und ja, das kann ich sehr gut nachvollziehen. „Mama, hast du Zeit für meine Kinder?“, diese Frage ist mein Kontext. Und ja, sie tut gut, ich merke, da ist großes Vertrauen in mich gegeben und das freut mich. Gleichzeitig würde ich mich wundern, ja, vielleicht fühlte ich mich sogar übergangen, wenn meine Töchter erst gar nicht fragen würden. Zu merken, dass man gar nicht gefragt wird, obwohl eine Frage das Naheliegendste wäre, das kann auch wehtun. Von daher hat mich diese Textstelle wirklich berührt.

Die Fohlen werden am nächsten Tag gefunden, Benedikt verabschiedet sich von dem jungen Mann mit dem Hinweis:

Und wenn ich auch nicht weitergekommen bin, es muss doch jeder einsehen, dass diese Woche nicht verloren war.“

Weiß Gott, Zeit für den anderen zu haben, das ist nie verlorene Zeit. Und hier wird sogar angefügt, dass er die Worte als Entschuldigung dafür versteht. Benedikt entschuldigt sich. Bei wem? Für was? Hier spielt der Unbekannte mit, der hinter dem Text steht und vielleicht „Gesellschaft“ heißt. Bei wem muss ich mich entschuldigen, wenn diese oder jene Aufgabe nicht fristgemäß erledigt ist? Jeder müsse einsehen, dass die Woche nicht verloren gewesen sei. Ist Benedikt hier nicht zu blauäugig? Unsere Gesellschaft tickt anders, jedenfalls fallen mir genügend Beispiele ein, in denen die Zeit für den anderen, in der man normalerweise nichts verdient, in der man nicht an der eigenen Karriere bastelt, in der man schlicht nur menschlich ist, nicht immer als sinnvoll angesehen wird.

Benedikt macht sich noch am gleichen Tag auf in die Berge. Er ist müde. Er weiß, dass das Bisherige nur ein Kinderspiel war gegen das, was noch kommen wird. Aber er bricht auf. Advent.

In anderen Jahren war er um diese Zeit schon zurück in der Zivilisation. In seinem Kirchspiel, in seiner Gemeinde im sonntäglichen Gottesdienst. Und sein Herz war da jeweils voller Dankbarkeit und Festtagsstimmung. Er überdenkt, dass er auch in manchen Predigten, in denen es um Furcht und Angst geht,

diese Angst erkannt hat, die er selbst auch vor dem Tod, ja und auch vorm Leben hatte. Aber er hat diese Angst in den Bergen begraben. Jetzt ist es meist so still in ihm und um ihn. Still wie in den Bergen.

Die meditative Stimmung, die hier beschrieben wird, der Zustand der Furchtlosigkeit und Ruhe, den viele Menschen anstreben und nie erreichen, den hat Benedikt gefunden. Wie nur? Das Bild vom Grab in den Bergen, in dem die Angst liegt, ist rätselhaft. Er hat seine Angst in den Bergen begraben. Berge sind groß, ihnen gegenüber wirke ich winzig. Sie sind erhaben, machen demütig, sie fordern Respekt ein und gleichzeitig sind sie Inbegriff der Schönheit der Natur und lassen im Staunen verstummen. Vielleicht fühlt sich Benedikt als Teil dieser Bergwelt, die hält und trägt, aber auch unberechenbar sein kann. Dieses Wissen, Teil eines Großen zu sein, nimmt ihm womöglich die Angst. Und dann hat er begriffen, dass er weitermachen muss:

Er muss die Müdigkeit und Schwere abzuschütteln, suchen und den Tag ausnutzen, um hinein- und hinaufzukommen – ein Stück Weges.

Er will hinein und hinauf in die Berge, ins unwegsame Gelände, ins Offene eben. „Was sich ins Bleiben begibt, schon ist’s das Erstarrte“, hat Rilke wunderbar formuliert. Der Antrieb, der von innen kommt, die Quelle am Sprudeln halten, das ist die große Aufgabe, deren Reichweite Benedikt in voller Dimension kennt. Und wieder kommt eine Störung: Der Postmann mit seinem Gehilfen zieht vorbei, sie haben noch nicht einmal Zeit für einen Kaffee, ihre Ablösung sitzt irgendwo fest, sie müssen sie suchen. Auch dieser Postmann handelt, auch er ist nicht dem Fatalismus erlegen. Stattdessen nimmt Grimur von Jökli, der Fährmann, den gekochten Kaffee Benedikts dankend an. Die Männer sprechen miteinander. Dabei zeigt sich, Jökli hat die unlautere Absicht von Grimsdal und auch von dem Bauern sehr genau durchschaut. Er hätte anders gehandelt, er kritisiert scharf Benedikts Handeln. Er steht eher auf der Seite Sigrids, in dessen Haus Benedikt eingekehrt war am Beginn seines Weges. Sie hatte ja auch die Absichten Grimsdals sehr schnell durchschaut. Grimur redet Benedikt ins Gewissen, er benennt klar, was aus anderer Sicht auch kritisiert werden könne an seiner Jahresschlusstour, wie er sie nennt. Das er nämlich seinen Tieren etwas zumute, das allein aus Tierschutzgründen schon verwerflich sei. Dass es offensichtlich sei, dass Benedikts Vorräte nicht reichen würden und er daher jetzt mit ihm, Grimur nach Hause gehen müsse und und und. Ja, keine Widerrede.

Der Text springt unkommentiert gleich nach diesem Abschnitt in eine völlig andere Welt. Benedikt geht unbeirrt seinen Weg weiter hinauf in die Berge. Aber erst übermannt ihn ein Traum: Er überlegt, was es bedeutet, über einen Gletscherstrom zu setzen.

das ist, als käme man in ein anderes Land, fast in ein anderes Leben. Innerlich geht ein Riss durch einen – wie wird man wiederkommen?

In rascher Beschreibung – ein großer Kontrast zu den langsamen akribischen Passagen –findet er Schafe, arbeitet sich schwer durch den Schnee, Leo und Knorz sind teils bei ihm, im anderen Moment wieder fort, die Schafe sind so, wie sie sind, teils faul, teils widerspenstig, alles andere als dankbar, es ist nicht leicht, sie zusammenzuhalten und der Weg ist beschwerlich.

Da taucht ein Mann neben Benedikt auf, ihm zugleich freundlich und feindlich gesinnt. Benedikt läuft weiter, wie ein Gletscherstrom. Der Text unterschlägt, dass er erneut in einer bewohnten Hütte unterkommt. Hier sind Sprünge, die das Lesen schwer machen. Benedikt schläft jedenfalls in der Nacht in der Hütte, steht mittendrin auf und bricht auf in Begleitung des Knechts der Hüttenleute, der ihm beim Tragen hilft. Er wird ihn bis zu dem Loch im Berg begleiten, das dann der Ausgangspunkt für seine weitere Tour wird. Sie überqueren den Fluss und hier verabschiedet er sich von dem Knecht:

Schönen Dank und komm gut über – und grüß daheim!“

Wir verlassen Benedikt für heute, der nun in der völligen Einsamkeit angekommen ist. Die Bilder seines Traums stehen mir klar vor Augen. Er ist im anderen Land, er hat den Fluss überquert. Innerlich geht ein Riss durch ihn. Er weiß, dass er jetzt Bärenkräfte braucht. Und natürlich schwingt die Frage mit:

Wie wird man wiederkommen?

Advent im Hochgebirge, Teil 4

Schnee und Sturm und Felsgestein
Stählt den Fuß und übt das Bein.
Immer hinterm Ofen sein,
Macht das Leben arm und klein.

Benedikt findet seinen Rhythmus in dieser Strophe, mit der er geradezu einen intimen Dialog führt: Lass sie unter uns beiden bleiben. Sie gehört ihm, er will sie nicht mit den Männern teilen, aber das kann allein schon wegen des heftigen Windes nicht geschehen, der einander zugeworfene Worte in Fetzen reißt. Gunnarsson beschreibt die Wanderung der Gruppe wie einen Zug durchs Schlachtfeld, von den scharfen Geschossen des Treibschnees durchlöchert. Harkon Grimsdal bietet Schnaps an, beschwört mit einer dunklen Liedstrophe auch die Geister. Der kurze Tag ist bereits wieder vorüber, wieder ist es Nacht und ein Mond zeigt sich hinter zerrissenen Wolken.

Die Leser werden in diese Eiseskälte hineingezogen, in der jeder für sich gegen die Naturgewalten kämpft. Jeder auf seine Weise. Gunnarssons Schilderung ist naturalistisch, die Bilder sprechen für sich, ein Kommentar ist nicht nötig. Seine Wanderer sind Schatten in der Nacht und in der Schneewüste. Maler der Romantik könnten in solch einer Beschreibung eine gute Vorlage für ihre Bilder finden. Auch ich kenne diese Stimmung. Wenn alles zu viel wird, wenn es einfach nicht Tag werden will, wenn mich die Lust und die Energie verlassen, dann ist diese Beschreibung passend. Dazu brauche ich wahrlich nicht die Bergwelt Islands. Alles im Text ist plastisch, so präsent, dass mir unwillkürlich kalt wird und ich die Heizung an meinem Schreibtisch höher drehe. Auch wenn ich hier im Warmen sitze, bin ich doch mitten drin in dieser Nacht, suche Orientierung, überlege mir, ob Benedikt die noch hat. Hier kommt die Frage auf, was trägt, wenn nichts mehr trägt. Eine Frage, die uns im Text noch einige Male begegnet. Was macht ein Mensch, der den Weg nicht mehr sieht, dessen Kräfte zu Ende gehen, der noch nicht einmal weiß, ob die ganze Anstrengung lohnt? Die Männer Harkoms, eigentlich arme Gestalten, schlagen alle Fragen in den Wind. Ihre Devise: Nur gehen. Und dann – ja, ich empfinde es fast als Hohn – kommt der Verweis auf die Vertrauenswürdigkeit von Benedikt, Knorz und Leo, dem Trio, das sie Dreieinigkeit nennen.

Dreieinigkeit hat eine klar umrissene Bedeutung. Gott Vater, Gott Sohn, Gott Heiliger Geist: die Trinität. Aus Sicht der Männer Grimsdals wirken die drei Weggefährten wie die Dreieinigkeit. Das Wort steht für Göttliches, Erhabenheit, Sicherheit, Verlässlichkeit, Achtung, ja auch Unerreichbarkeit. Es bringt zum Ausdruck, dass da eine große Distanz zu allem da ist, was schwach und vergänglich ist. Problematisch ist der metonymische Gebrauch aus dem Munde der Männer Grimsdals. Sie haben mit der eigentlichen Dreieinigkeit nichts am Hut, nutzen aber den Begriff, um ihn auf Benedikt, Leo und Knorz zu übertragen. Die Verhöhnung liegt genau in dieser Übertragung.

Die Männer verlassen das Schlachtfeld der Schneewüste nach achtzehn Stunden Wanderung. Die Kriegsmetaphorik wird beibehalten: Pulver, Blitz, Krach, Kanone, schießen. Das Gefecht ist noch nicht zu Ende, es pausiert nur. Benedikt findet die Hütte, kaum erkennbar unter dem Schnee und zwar haargenau. Er wird aus Sicht der Männer jetzt zum Zauberer und Meister:

Dieser Benedikt war doch ein Zauberer und Meister von Kopf bis Fuß. Sehr viele menschliche Fehler waren jedenfalls an ihm nicht zu entdecken, aber als Ersatz dafür allerdings zwei ganz unmenschliche: er spielte nicht und trank keinen Schnaps.

Zum einen Bewunderung zum anderen Verachtung. Nicht zu spielen und keinen Schnaps zu trinken, das ist geradezu unmenschlich, suspekt und schmälert dadurch aus Sicht der Grimsdals das Ansehen Benedikts. Solange er diese Fehler nicht behebt, wird er nie einer von ihnen werden können.

Das Feuer in der Hütte ist schnell entzündet, Benedikt versorgt erst seine Tiere. Die Hütte, bestehend aus zwei Räumen, von denen einer ein Stall ist, erscheint wie ein Schlösschen. Das einfachste Quartier kann die gleiche Funktion erfüllen wie das prächtigste, welch schöne Aussage. Es ist wahrlich nicht nur in einem Viersterne-Hotel Erholung möglich. Was brauche ich wirklich? steht da als Frage unbewusst im Raum. Die Hütte bietet dem Menschen, was er jetzt braucht. Die Einsamkeit bleibt draußen vor der Tür. Sie ist kein Abstraktum, nein, sie ist Person, Mitspielerin im Geschehen. Die Personifikation, die Gunnarsson hier verwendet, ist bewusst gesetzt. Die Einsamkeit steht vor der Tür, drinnen herrscht Gemeinschaft, aber das Wissen, dass sie dort draußen lauert, das ist da. Ja, drinnen herrscht eine Zweckgemeinschaft, aber immerhin eine Gemeinschaft. Benedikt genießt es, mit Menschen zusammen zu sein, selbst wenn sie manchmal etwas geschwätzig sind.

Aus dem Zauberer und Meister Benedikt, aus der Dreieinigkeit wird nun ein Kleinod.

Ja, du bist ein Kleinod, Bense“, sagte Harkon.

Auch hier fällt die Geschmacklosigkeit in seinen Worten ins Auge. Bense, so wurde Benedikt bislang nie genannt, das klingt nach Kumpel. Und ein Kumpel ist Benedikt wahrlich nicht. Er sieht sich auch nicht als Lebensretter, dem eine Medaille gebühre. Benedikt wird sich fragen, warum er ausgerechnet mit der Medaille in die Kirche gehen soll, wie Harkon Grimsdal ausführt. Und warum sollte ihm eine Summe Geld aus dem Ausland zustehen? Weder Bense noch Medaille noch Geld sind Begriffe, die für Benedikt passend sind. Hier klafft eine große Lücke zwischen dem, was er ist und dem, was von außen in ihm gesehen wird. Benedikt lässt auch dieses Mal Harkon reden. Seine lange Ansprache bleibt unkommentiert. Prallt sei von Benedikt ab? Hört er sie einfach nicht? Oder ist sie ihm zu unwichtig, um darauf einzugehen? Zwei unvereinbare Welten treffen aufeinander, in denen die Männer unterwegs sind. Auch hier eine unauflösbare Ambivalenz, wie so oft im Text. Harkon Grimsdal weist Benedikt unmissverständlich darauf hin, dass er, ein Mann ohne Schafe, weder Medaille noch Geld herzaubern könne, sprich, ihm nichts geben könne außer der Zusage, er habe beides verdient. Leere Worte, auf die Benedikt wirklich hätte verzichten können. Ja, hol’s der Teufel, für Harkon Grimsdal ist jetzt der Kaffee das Nächstliegende und was die Schafe da draußen machen, das steht in den Sternen. Die Welt des Verantwortungsbewusstseins, die für Benedikt Maß seines Handelns ist, prallt auf die Welt des Fatalismus, für die Grimsdal steht. Willensfreiheit und Vorherbestimmung stehen einander gegenüber. Wie frei ist der Mensch, eine der zentralen Fragen der Philosophie wird hier angedeutet, bleibt aber undiskutiert im Raum stehen. Harkon Grimsdal beendet seine Ansprache mit dem fatalistischen Satz:

Man weiß nie, wie der nächste Tag aussieht. Und andererseits passiert selten etwas so Schlimmes, dass man sich nicht noch Schlimmeres denken könnte.“

Bla, bla … Geschwätz eben, aus Sicht von Benedikt.

Dieser Satz könnte auch in Denis Diderots Jacques, der Fatalist und sein Herr stehen. Der Roman, 1792 erstmals veröffentlicht, passt weitaus besser in unsere Welt als in die Zeit vor zweihundert Jahren. Ist alles vorherbestimmt, ist also mein Tun nicht der Rede wert oder kann ich Einfluss nehmen auf den Lauf der Dinge? Wir haben bei Gunnarsson zwei Figuren, die ganz anders als bei Diderot ein klares Ziel vor Augen haben – Tiere retten -, aber ihre Vorstellungen davon, wie dies zu geschehen hat, sind unvereinbar. Benedikts Welt ist die Welt der Sorge, des Überlegens und des bedächtigen Handelns, Grimsdals Welt ist die des Geschehenlassens. Gunnarsson bewertet nicht, aber er schreibt so, dass deutlich wird, welche der beiden Sichtweisen die seine ist.

Der heiße Kaffee und das Essen wirken. In der Hütte wird es warm, die Strapazen des Tages fallen ab. Die Stimmung ist gut, die Männer genießen die Erholung, kein Ton trübt die Aussicht auf die Wiederaufnehme des Kampfes, die der nächste Tag bringen wird. Sie sind im Hier und Jetzt, sie leben Gemeinschaft. Aber bald siegt die Müdigkeit und sie legen sich schlafen. Stille.

Advent im Hochgebirge, Teil 5

Da lagen sie wie hingeworfen, vier schlafende Männer in einer Gebirgshütte, im Schnee begraben.

Ihre Atemzüge, ihr Schnarchen und auch die Geräusche, die die Tiere von sich geben, spiegeln in der Hütte das Unwetter, das draußen wütet, und gleichzeitig gleicht die Hütte einem Grab, das unter der dicken Schneedecke liegt. Gunnarsson arbeitet mit Kontrasten: Grab zum einen, Unwetter zum anderen. Das Unwetter draußen wird naturalistisch als eine Wanderung der Schneewolken beschrieben, hinter denen die Himmelszeichen vorüberziehen. Die Himmelszeichen werden personalisiert, sie sind geradezu greifbar. Dynamik, Kampf und Kraft auf der einen Seite – Ruhe, Grabesruhe auf der anderen. Der Mensch zwischendrin. Und dann kommt der einfache, als Aufruf zu verstehende Satz:

Es war Zeit zu erwachen.

Advent. Zeit der Wachsamkeit, Zeit der Wanderung, Zeit des Aufbruchs. Die Männer werden wach; irgendetwas rief sie. Sie machen sich wieder auf den Weg, die Analogie der Wanderung von Maria und Josef hin zu einem Ziel durch unwegsames und gefährliches Gelände bietet sich an. Ein neuer Tag beginnt, die Schafe Grimsdals sind nicht so leicht zu finden wie erhofft. Aber sie werden gefunden und einen wesentlichen Anteil daran hat Knorz, der Leithammel.

Der drauflosgeht, bis er im Schnee festsitzt und ausgegraben werden muss, und der die anderen ununterbrochen ansteckt mit seiner Kraft und seinem Mut.

Dieses Tier, das immer wieder im Schnee versinkt und wieder ausgegraben werden muss, wird zum Rettungssymbol. Von außen betrachtet war nicht zu erkennen, warum ausgerechnet ein Hammel große Dienste leisten soll bei einem solchen Unternehmen. Aber nun zeigt sich, dass auch das, was augenscheinlich erst einmal eher als Hindernis angesehen wird, durchaus lebenswichtig sein kann. Fast versteckt sehe ich hier Gunnarssons Hinweis, Nutzloses oder Hemmendes nicht gleich auszusortieren, sondern es aus einer anderen Perspektive anzusehen und zu überlegen, was damit geschehen kann. Harkom erkennt jetzt, dass die ganze Aktion ohne Knorz vielleicht gescheitert wäre. Und er sieht auch plötzlich die Qualitäten von Leo, dem Hund. Dieser erkennt auch ältere Spuren im Schnee. Er sieht das, was ein menschliches Auge vielleicht nicht sieht. Und er hat den Instinkt, Verstecke der Schafe zu finden.

Ja, er wittert sogar, wo sie liegen, eingeschneit in Gruben und Senken.

Auch Leo wird zum Lebensretter, mehr noch als die Menschen. Hier kommt die Ehrfurcht vor der Schöpfung so richtig zum Tragen. Beide Tiere sind unersetzlich, der Mensch würde ohne sie scheitern. Das Aufeinander-Angewiesensein wird thematisiert, die ungemeine Vielfalt der Begabungen angesprochen. Jeder wird nach seiner Weise gebraucht. Der Ton des ersten Satzes der Erzählung gibt den Rhythmus vor. Jeder ist nach seiner Weise eingebunden, alle sind wichtig. Hier gibt es ein Miteinander zwischen Mensch, Tier und Umwelt. Harkom begreift, was die Tiere leisten, wägt Kosten und Nutzen gegeneinander ab und überlegt,

Ob Benedikt sich nicht entschließen könne, ihn zu verkaufen.

Gunnarsson schreibt den Satz in der erlebten Rede, nicht im direkten Gespräch: Ob er sich entschließen könne, ihn zu verkaufen? Da hat sich Harkom wohl nicht getraut, den Satz direkt an Benedikt zu richten, dieser errät aber dessen Gedanken und geradezu ironisch mutet der folgende Satz an:

Aber Benedikt kann sich nicht entschließen. Nein, nein.

Allein der Gedanke, er könne ihn verkaufen, weil nun offensichtlich ist, was Benedikt ohnehin wusste, dass nämlich Leo unersetzlich ist, ist derart absurd, dass auf ein solches Ansinnen nur mit feinem Hohn geantwortet werden kann.

Einen Papst schleppt man nicht so mir nichts dir nichts auf den Markt. Und abends saß man gemütlich in der Hütte und entbehrte Benedikt nur ungern bei dem gemeinsamen Vergnügen.

Zweimal man, zwei unterschiedliche Perspektiven. Beim ersten Satz ist es eine Verallgemeinerung, die einem Anspruch von übergreifender Bedeutung gleichkommt: Man macht das nicht. Beim zweiten Satz bezieht sich das man ganz eindeutig auf die kleine Gesellschaft der Männer Grimsdals, zu der Benedikt so partout nicht gehören will. Ihnen bleibt auch jetzt nichts übrig, als zu dreien zu spielen, mit dem vierten Mann blind.

Die Konzeption dieses Textabschnitts, so bildlich sie auch sein möge, zeigt klar, dass eine wirkliche Umkehr, ein gegenseitiges Verständnis im Grunde ausbleibt. Jeder bleibt sich in seiner Weise treu, beide Weisen sind aber unvereinbar. Benedikt mit seinen beiden Tieren und Harkom mit seinen Männern bilden eine Zweckgemeinschaft, die in dem Moment beendet sein wird, wo die Mission zu Ende ist. Auch hier wieder die Ambivalenz, der rote Faden des Textes.

Vier Tage braucht die Gruppe, um alle Schafe Grimsdals einzusammeln. Alle werden gefunden. Alle sind gerettet. Eine wunderbare Botschaft. Benedikt überlässt die Gruppe im Moment des Aufbruchs nach Hause nicht sich selbst, sondern führt sie noch zurück auf den Weg ins Tal. Und da

bekam (er) seinen Dank, einen dreifachen Händedruck und einiges Kopfnicken und ein paar Abschiedsworte.

Das wars. Benedikt hat wahrscheinlich nicht mehr erwartet. Aber die Aufzählung ist selbstredend: dreifach, einiges, ein paar. Basta.

Wo ist die Umarmung? Wo ist der tiefe Blick in die Augen? Wo ist das anerkennende Streicheln der Tiere? Der Text schweigt hier. Wahrscheinlich gibt es auch nichts darüber zu berichten. Die Chance ist verpasst. Der Dank bleibt oberflächlich. Aber Gunnarsson bewertet nicht, nein, er lässt seinen Protagonisten zurück zur Hütte schlendern – ein Wort, das ich in diesem Kontext völlig ungeeignet finde. Wie heißt es wohl im dänischen Original? In dieser rauen Landschaft schlendert es sich nicht. Benedikt ist müde, ausgelaugt, er hat nur einen Gedanken: Ausruhen!

Nichts als ausruhen. Sich sammeln, wieder ganz werden – auch innerlich. Advent …Wie lange der letzte Sonntag schon vorbei war.

Was genau wird hier beschrieben? Wenn Grimsdal seine Schafe ordnungsgemäß eingeholt hätte, wäre Benedikt mit seinem Vorhaben schon weiter, vielleicht sogar schon am Ziel. So hat sein eigentlicher Weg ja noch gar nicht begonnen. Alle Strapazen stehen ihm noch bevor. Er macht das, was jeder Sportler vor einem Wettkampf tut: Er sammelt sich. Er macht das, was auch ein gläubiger Mensch in Vorbereitung des Weihnachtsfestes tut: Er geht in sich. Er kommt zur Ruhe, er besinnt sich auf das, was ihn eigentlich ausmacht. Benedikt will Kräfte bündeln. „Bitte nicht stören, ich bin gerade bei mir!“, so betrachte ich diesen Benedikt, der mir ungemein sympathisch ist, der da in seinem Bett liegt und seine Hand auf Leo ruhen lässt.

Gunnarsson schaltet sich nun als auktorialer Erzähler in die Geschichte ein:

Der Mensch hat viele Arten, sein Leben zu leben. Manche reden, andre schweigen. Manche müssen mitten unter ihren Mitmenschen sein, um sich wohl zu fühlen, andere werden erst richtig sie selbst, wenn sie ganz allein sind, jedenfalls hin und wieder.

Gunnarsson breitet ein Bild von den Unterschieden der Menschen aus. Auffällig ist, dass er dem Menschen die Autorität zubilligt, über sein Leben zu entscheiden: Er hat es in der Hand, wie er lebt. Da ist kein Fatalismus, hier wird Regie geführt. Und jeder auf seine Weise. Von Benedikt heißt es, er sei nicht menschenscheu, aber während der Adventswanderungen brauche er die Stille. Er weiß wohl, was er für sich braucht, er kennt sich, er weiß, was er tun muss, um sich nicht zu verlieren. Gunnarsson wertet auch hier nicht. Andere brauchen vielleicht die Unterhaltung, Benedikt braucht sie nicht. Dorftratsch ist nicht die Welt von Benedikt. Aber offensichtlich verstärkt sich die Abneigung gegen diesen im Laufe der Zeit.

Ganz so schlimm wie diesmal war es freilich in früheren Tagen mit seiner Empfindlichkeit nicht gewesen. Ja, man wurde alt.

Eine Selbsterkenntnis, eine Form der Reflexion, die ihm vielleicht auch zu Bewusstsein bringt, dass nicht alles an den anderen liegt ,sondern auch von ihm abhängt.

Wir verlassen Benedikt und nehmen die rhetorische Frage mit in den dritten Advent:
Wohin war der Friede und die tiefe Ruhe vom letzten Sonntag?

Advent im Hochgebirge, Teil 3

Benedikt ist gerade bei Sigrid und Pjetur auf Botn angekommen und das Ritual beginnt. Die Bäuerin begrüßt ihn, dann kommt der Bauer, danach eine Horde Kinder. Der älteste Sohn trägt den für die Familie völlig ungewöhnlichen Namen Benedikt, im gesamten Umland gibt es nur zwei, die diesen Namen tragen. Es bleibt in der Schwebe, warum dieser Name gewählt wurde, eine Unzahl an Möglichkeiten sind vorstellbar. Keine wird auch nur angedeutet. Nach der Begrüßung werden erst einmal die Tiere versorgt. Danach gehen Benedikt und Pjetur schweigend zurück zum Haus. Das Ritual ist Teil von Benedikts Wanderung.

Sie schlossen sorgfältig die Tür und gingen nachdenklich zum Wohnhaus hinüber, bei einem unsicheren Mondlicht, das kaum Licht zu heißen verdiente. Es war beinahe Finsternis. Kalte Windstöße umsausten sie merkwürdig plötzlich und drohend aus einer undurchdringlichen Nacht heraus. Seltsam, wie Menschen, die durch die Finsternis wandeln, einander verloren gehen.

Hier ist es wirklich Nacht – keine lichthelle, eine düstere, in der sogar auch der Mond nur unsicheres Licht ausstrahlt. Finsternis, Kälte, Verlust sind geradezu greifbar, alles andere als wohlige Wärme. Menschen gehen auch hier schon einander verloren. Aber es kommt noch dicker. In der Verlassenheit der Berge wartet noch weit mehr an Finsternis Kälte und Verlustgefahr. Da gibt es keine nahen Atemzüge mehr, nur steinerne Tiefe und Schauer bis in die Haarwurzeln.

Auch wenn ich nicht mit Benedikt in dieser feindlichen Kälte bin, schwirren mir viele Beispiele aus unserer Zeit durch den Kopf, auf die diese Bilder zutreffen. Wenn alles kippt, wenn Orientierung fehlt, wenn der Boden unter mir genauso unsicher ist wie das Mondlicht über mir. Das alles sind Situationen, in denen die Kerze einsam brennt. Benedikt und Pjetur gehen zurück zum Wohnhaus, vor dem eine Kerze brennt.

Ein einsames Licht ist fast wie ein Mensch, fast so verlassen wie eine zweifelnde Seele.

Die beiden Männer löschen das Kerzenlicht, bevor sie in die Stube treten mit dem Hinweis, dass dies ein Liebesdienst für ein Licht sei, wenn es man es sich nicht nutzlos verzehren lässt.

Ich halte inne beim Lesen. Wie viel gibt Gunnarsson hier von sich preis? Er betrachtet das Kerzenlicht und sinniert darüber, dass dies fast so verlassen sei wie eine zweifelnde Seele. Ja, es flackert und ein Windstoß kann ausreichen, dass es verlischt. Es ist kein starkes Licht, aber auch kein kaltes. Es ist angreifbar, und es zu vergeuden heißt, ihm den Liebesdienst verweigern. Gunnarsson spielt mit der Lichtmetaphorik, kontrastiert unsicheres Licht mit einsamem Licht und dienendem Licht. Vielleicht sollte ich meinen Kerzen einmal genauere Aufmerksamkeit schenken, kommt es mir in den Sinn.

Drinnen in der Stube herrscht jedenfalls wohlige Wärme, Benedikt erhält ein fürstliches Abendessen. Und dann die Störung: Es klopft und Harkon Grimsdal steht mit seinen Männern vor der Tür. Aber die Herberge ist eigentlich voll. Der erwartete Gast ist da, andere will man gar nicht haben an diesem Abend, der doch so besonders ist, kommt er nur einmal jährlich vor. Die Grimsdals kommen unerwartet und werden entsprechend von Sigrid kalt begrüßt. Wir kennen den weiteren Verlauf schon. Benedikt ist weit milder mit Grimsdal und seinen Mannen als Sigrid. Was können die Schafe dazu, dass ihr Herr nicht wachsam war?

Alle müssen nun warten, da es der Sturm unmöglich macht, das schützende Haus zu verlassen. Wie überbrücken die Einzelnen diese Zeit? Benedikt schnitzt mit den Kindern und erzählt Geschichten und Märchen. Die Grimsdals spielen Karten und gönnen sich ab und zu einen Schnaps, lesen in der Zeitung und kommen zum Schluss, dass im Ausland nicht nur das Vieh, sondern auch Menschen erfrieren, dass also das Schicksal seinen Gang gehe und es sich zeigen wird, ob die Schafe den Sturm überstehen. Und dann spielen sie erneut eine Runde Karten, zu dritt mit dem Vierten blind. Benedikt hingegen macht sich Gedanken um die Tiere, weiß, dass man nicht damit rechnen kann, dass sie verständig genug sind, sich auf die Höhen zu flüchten und also erfrieren werden. Er haushaltet mit seinen Kräften und geht schlafen. Mitten in der Nacht steht er auf, geht nach draußen und beschließt aufzubrechen. Er weckt die Grimsdals, die eigentlich lieber im Bett bleiben wollen, und wird mit der Frage konfrontiert:

Übernimmst du die Verantwortung?

Benedikt reagiert klug. Ja, er übernehme die Verantwortung für Knorz, Leo und sich selbst. Und damit ist klar: Die anderen müssen die Verantwortung für sich selbst tragen. Das Vorhaben ist gefährlich, außer dem großen Mut, es aufzunehmen, gehört auch eine klare Vorstellung dazu, was es heißt, sich in Gefahr zu begeben. Ich muss für mein Leben einstehen, ich kann die Verantwortung nicht abschieben, die Botschaft ist klar, sie braucht keine großen Worte. Daher läuft Harkon Grimsdal mit seinem Geplapper auch ins Leere, ein großer Kontrast zu Benedikt, der ruhig und sorgfältig seine Vorbereitungen zum Aufbruch trifft:

Benedikt holte aus seinem Sack eine kleine Decke hervor, die er Knorz auf den Rücken band, damit sich der Schnee nicht in seine Wolle festsetzte und ihn unterwegs belastete. Der Bauer von Grimsdal fragte, ob Papst Leo nicht auch ein Meßgewand bekäme. Benedikt ließ ihn reden, band eine Schnur um Knorzens Horn und – „Also los!“

Wann rastet ein Mensch aus? Wenn ich mich in Benedikt hineinversetze, dann wäre bei mir jetzt die Geduld endgültig zu Ende. Wohl wissend, dass da ein Weg bevorsteht mit Menschen, die offensichtlich völlig andere Vorzeichen setzen, die ihren Vorteil im Kopf haben, die auf Kosten anderer Scherze machen, die vielleicht noch nicht einmal merken, dass diese Scherze Verhöhnung und Verletzung zugleich sind, würde ich in Benedikts Fall aus tiefster Brust sagen: Eben reicht’s.

Aber Benedikt sagt: „Also los!“ Woher nimmt er diese Kraft so zu reagieren?

Benedikt konzentriert sich auf das, was wesentlich ist. Und jetzt, bei diesem Aufbruch ins Ungewisse, ist es wesentlich, dass seine beiden Begleiter volle Aufmerksamkeit erhalten. Zu den Männern Grimsdals, die nun mitgehen, kein Wort. Knorz blickt den Ernst der Lage und akzeptiert den Entschluss seines Herrn sehr wohl zeigend, dass dieser ihm eigentlich gegen den Strich ginge. Aber er fügt sich. Leo hingegen verhält sich ähnlich wie Benedikt:

Er ließ sich weder reizen noch unterkriegen; er war ja hierin wie in allem ein richtiger Papst, ließ sich nicht anfechten, biss nicht ein einziges Mal wieder, sondern war ganz davon erfüllt zu zeigen, dass er auch nicht von gestern war.

Hier ist es wieder, das Wort Papst. Isländer haben wenn, dann überwiegend protestantischen Glauben. Mit dem Papst in Rom haben sie nichts am Hut. Einen Hund als richtigen Papst zu bezeichnen, das ist im strengen Sinn Ketzerei. Aber ich glaube nicht, dass es Gunnarsson hier um Glaubensbelange geht. Er nimmt Papst als Synonym für Beständigkeit, Weitsicht, Ausdauer, Verlässlichkeit und Zukunftsgerichtetheit: Leo weiß, dass er nicht von gestern war. D. h. er braucht die ihm zugeschriebenen Eigenschaft jetzt konzentriert für die bevorstehende Anstrengung. Er gibt alles, um zu zeigen: Auf ihn kann Benedikt bauen. Und Benedikt steht hier stellvertretend für die Welt. Unwillkürlich kommt mir Mt. 16,18 in den Sinn: „Auf diesem Fels werde ich meine Kirche bauen.“ Ja, Leo wird zu einem Felsen in der Brandung, die als Schneesturm daherkommt. Auf ihn ist Verlass. Er ist Benedikts unverzichtbare Orientierung.

Die Gruppe wandert unverdrossen. Denn wenn man den Fuß vor Fuß setzt und die Richtung einhält, geht es voran.

Ein schönes Bild, bei dem sich die Übertragung auf den Advent geradezu anbietet. Ein Fuß vor den anderen setzen, die Richtung beibehalten, das Ziel vor Augen. Es geht voran, wenn auch langsam. Hier sind die Leerstellen des Textes besonders hervorzuheben. Da steht erst einmal nichts von der Kraftanstrengung, die es kostet, einen Fuß vor den anderen zu setzen, kontinuierlich, immer wieder. Da kann man sich die inneren Widerstände dazudenken, die in jedem kämpfen, die Fragen nach dem Sinn der Aktion, möglicherweise auch die Angst davor, dass das ganze Unternehmen scheitern könnte. Existenzielle Angst, die immer da ist, wenn die Kräfte zu Ende gehen, wenn der Weg nicht mehr sichtbar ist, wenn Orientierungslosigkeit droht.

Die Gruppe kommt auf eine Lichtung, der Sturm verliert an Kraft. Sie erkennen Konturen. Miteinander reden ist nicht möglich, der Wind war immer noch steif. Jeder ist für sich allein, auch wenn sie gemeinsam unterwegs sind. Das Bild der Einsamkeit, der Kraft, die jeder für seinen Weg braucht, ist ständig vor Augen. Ihre Konzentration ist hoch, der Weg unklar und schwer. Mir kommt Hilde Domins Gedicht: Ziehende Landschaften in den Sinn, in dem es mittendrin heißt:

Man muss den Atem anhalten
bis der Wind nachlässt.

Man muss durchhalten, man muss da durch, es gibt keine Alternative. Jede Kraftverschwendung kann tödlich sein. Man darf sich in solchen Situationen nicht verzetteln, keine unnütze Pause machen, man muss haushalten mit der Kraft. Die Wegzehrung der Männer sind Verse und Strophen aus Rimur, Choräle und Lieder. Die Kraft der Literatur, hier der isländischen Literatur. Die Strophen aus Rimur sind alte Volksdichtungen, einfache Vierzeiler ohne großen poetischen Wert, z. T. sogar geschmacklos. Aber sie reimen, leben von Alliterationen und sind eingängig.

Benedikt macht sich seinen eigenen Reim, der ihm den Rhythmus für die Füße vorgibt:

Schnee und Sturm und Felsgestein
stählt den Fuß und übt das Bein.
Immer hinterm Ofen sein,
Macht das Leben arm und klein.

Die beiden ersten Zeilen geben ihm das Programm vor, die Betonung liegt auf stählt. Die beiden weiteren Zeilen kommentieren. Man kann ihre Bedeutung ins Affirmative drehen: Wer wagt, gewinnt.

Aber noch ist nicht absehbar, ob die Kraft ausreicht, um diese Mission gut zu Ende zu bringen. Wir werden sehen.

Advent im Hochgebirge, Teil 2

Advent 2022 – die Welt ist aus den Fugen. Die Weihnachtsmärkte sind brechend voll. Nach drei Coronawintern fallen alle Hemmungen. Die Straßen sind glühweingesättigt. Weihnachtsbeleuchtung scheint keine Energiekrise zu kennen.

Deutschland ist aus dieser unseligen Weltmeisterschaft ausgestiegen. Die Medien haben langsam Mühe, die furchtbaren Nachrichten aus der Ukraine und anderen Teilen der Welt so zu präsentieren, dass sie noch die verdiente Aufmerksamkeit bekommen. Es ist ein Zuviel an Katastrophen überall, die Gefahr des Abstumpfens ist kaum abzuwenden. Unwillkürlich kommt mir Fitzgeralds The Great Gatsby in den Sinn, der 1922 spielt und eine kippende Gesellschaft beschreibt. Die Roaring Twenties. Auch da eine Welt aus den Fugen.

Ich schaue auf Gunnarssons Buch und weiß, dass ich mit Benedikt jetzt ein Stück weitergehe, nach drinnen, wie er schreibt, ins Hochgebirge, dorthin, wo es kalt, gefährlich und einsam ist. Er geht das siebenundzwanzigste Mal diesen Weg, verlässt ganz bewusst seine Umgebung und begibt sich in eine raue Welt, die voller Ungewissheit steckt. Was treibt ihn an? Er steigt aus, er scheint einer Mission zu folgen, die sich wie ein Ritual jährlich wiederholt. Benedikt macht etwas Absurdes, etwas, was nur Menschen tun, die auf einem Grat zwischen Sinn und Wahnsinn wandeln. Er sucht verlorene Tiere, um sie nach draußen zu bringen, dorthin, wo die Zivilisation dafür sorgt, dass sie überwintern können. Ich suche nach Wörtern, die diesen Benedikt beschreiben. Naiv? Nein, das ist er nicht. Idealist? Schon eher, aber auch das trifft nicht den Kern. Abenteurer, nein, das auf keinen Fall. Ich finde noch nicht das Wort, das für ihn passt. Mutig ist er, zweifelsohne, sensibel auch, denn er braucht ein sehr feines Gespür für sein Unternehmen, das nur gelingen kann, wenn er alles genau im Blick hat, was ihn umgibt: die Natur und seine Begleiter. Benedikt steigt auf alle Fälle aus, vielleicht sehen ihn die einen als Spinner, andere bewundern ihn. Aber eines ist sicher: Benedikt ist kein Vertreter eines Mainstream, auch keiner, der den Kick braucht, der es sich beweisen muss. Aber er ist auch kein Altruist, der völlig selbstlos sein Leben dem Tierschutz widmet. Benedikt braucht diese Zeit im Hochgebirge für sich, diese wenigen Tage des Jahres, in denen er frei ist und seinen Weg justiert, mehr oder weniger ausgetretene Pfade nutzend. Benedikt braucht diese Woche für seine eigene Orientierung.

Gunnarsson macht keinen Heiligen aus seinem Benedikt. Er stellt ihn in eine Welt, die ihn oft nicht versteht und die er selbst auch nicht versteht. Der Bauer, der ihn mit Blick auf das Wetter warnt,

stand stumm und ließ ihn ziehen. Da gingen sie, die drei, und ein unsicherer, mit sich selbst, mit ihnen und der Welt unzufriedener Mann blieb zurück, sah ihnen nach und kaute Tabak.

Der Bauer versteht nicht, warum Benedikt so handelt. Und er ist mit sich und der Welt unzufrieden. Umgekehrt versteht auch Benedikt den Bauern nicht:

Vermutlich begriff Benedikt den vorsichtigen Bauern ebenso wenig.

Aber Benedikt scheint nicht unzufrieden zu sein. Zwei Sichtweisen werden hier angesprochen, diametral entgegengesetzt stehen sie hier einander gegenüber. Sie werden nicht aufgelöst. Diese Ambivalenz gibt es immer wieder in der Geschichte, vielleicht ist sie einer ihrer roten Fäden: das aushalten, was unvereinbar ist. Wir erfahren, dass Benedikt ein Knecht war, ein Dienstknecht. Das Wort macht stutzig. Was soll ein Knecht anderes tun als dienen? Ich gäbe etwas darum, wenn ich Dänisch könnte und das Original vor mir hätte. Ein Knecht dient, das ist nun einmal seine Aufgabe. Was soll mir diese Hyperbel sagen? Vielleicht ein Hinweis darauf, dass Benedikt gerade, weil er so unfrei ist, sich (s)eine Freiheit verschafft und damit beweist, das autonomes Denken auch in einer Knechtschaft möglich ist.

Den Sommer über arbeitete er gegen Lohn auf dem Hof, wo er das ganze Jahr wohnte. Im Winter besorgte er dort die Schafe gegen Kost und etwas Kleidung. Nur kurze Zeit im Frühjahr und Herbst und dann während seiner Bergwanderung vor Weihnachten war er sein eigener Herr.

Sein eigener Herr sein. Hier ist er es, der bestimmt, hier erledigt er nicht Aufträge, sondern gibt sich selbst welche. Eine Woche im Jahr ist ihm Quelle fürs ganze Jahr, und das schon lange. Wir erfahren sein Alter:

Nun, jedenfalls war er jetzt schon ein älterer Mann, vierundfünfzig, da gab es für ihn nicht mehr viele oder lange Irrwege, auf denen er sich verlaufen konnte.

Sind Vierundfünfzigjährige ältere Menschen? Ich spüre inneren Protest in mir. Damals, in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, in denen die Geschichte spielt, vielleicht schon, aber heute wirklich nicht mehr. Benedikt hat in all den Jahren Erfahrung angesammelt, ist sicher weiser geworden. Aber ist er deshalb gefeit vor Irrtümern? Beileibe nicht. Das ist wohl der isländische Humor, der hier zuschlägt. Mit siebenundzwanzig geht Benedikt das erste Mal am ersten Advent ins Hochgebirge. Da ist er jung und kräftig, vielleicht noch wirklich Idealist und Abenteurer in einem. Er erinnert sich:

Siebenundzwanzig Jahre – so tief lagen seine Träume verschüttet. Jene Träume, die nur Gott und er selbst kannte. Und die Berge, in die er sie hinausgeschrien hatte in seiner Qual.

Der Satz lässt viel Spielraum, genau das, daran ist erkennbar, was gute Literatur ist. Träume – Gott – Berge – Qual. Vier Worte, die ein Leben umreißen. Ein Kampf, der nicht nach außen dringt, den nur er und Gott und die Berge kennen. Schon damals war er offensichtlich ein Mensch mit Tiefgang. Jedes Mal, wenn er die letzten bewohnten Häuser hinter sich lässt auf seiner Wanderung, nimmt er bewusst Abschied:

… der Abschied von der Zivilisation mahnt ihn immer daran, dass es einmal für immer sein könnte.

Damit ist alles gesagt. Aber Gunnarsson ist das noch nicht genug. Er webt in die Gedankenwelt Benedikts seine eigenen, weit philosophischeren Reflektionen ein und weitet dadurch die Thematik um ein Vielfaches.

Der Mensch hängt an den Seinen, an sich selbst und den Seinen bis über den Tod hinaus und bangt davor, das Leben aus den Händen zu verlieren – dies Wirklichste von allem Wirklichen, dies Erbärmlichste von allem Erbärmlichen, dies Unendlichste von allem Unendlichen; bangt vor der Einsamkeit, auf der sein Selbst beruht, die sein Selbst ist, bangt davor, ohne Mitmenschen ringsum zu sein – und vielleicht von Gott vergessen.

Hier wird es klar gesagt: Die Angst vor der Einsamkeit, die kennt jeder. Auch Benedikt. Aber die Flucht vor ihr bringt keine Lösung. Benedikt stellt sich ihr freiwillig, selbstbestimmt. Im Haus von Sigrid und Pjetur kehrt Benedikt wie jedes Jahr ein, um noch ein letztes Mal Kraft zu schöpfen vor der ungewissen Zeit, die ihm bevorsteht. Es ist ein kleines Fest, das in aller Bescheidenheit gefeiert wird. Ein Wiedersehen. In diesem Jahr gibt es eine unvorhergesehene Störung: Grimsdal und seine Männer klopfen an. Auch sie wollen in die Berge, ihre Schafe einholen. Das bewirtende Ehepaar, insbesondere die Frau, durchblickt die durchaus zweideutige Absicht dieses Besuchs. Die Männer wissen, dass Benedikt in die Berge geht, und nehmen ungefragt an, dass er ihnen helfen können wird, die Tiere zu finden. Selbst haben sie nicht rechtzeitig dafür gesorgt, dass ihre Schafe ins Trockene kommen. Benedikt ist die Absicht klar, aber er geht nicht so streng mit ihnen ins Gericht, wie das Sigrid tut. Er freut sich nicht über die neue, unvorhergesehene Mühe, wie er es nennt, aber er hadert auch nicht damit.

Ihr hättet sie schon vor mindestens einer Woche einbringen sollen“, sagte Benedikt ruhig, aber keineswegs vorwurfsvoll; er stellte es nur fest.

Und dann beginnt der Sturm draußen zu wüten, ein Sturm, der das ganze Unternehmen verzögern wird, da alle die nächsten Tage in dem Schutz der Hütte bleiben müssen. Wenn einem der Wind um die Ohren fegt, heißt es warten, bis sich alles klärt. Keine ganz leichte Botschaft für unsere aus den Fugen geratene Welt. Der Bedeutung des Wartenkönnens wird hier besondere Aufmerksamkeit gezollt.

Wir verlassen nun Sturm und spielende Grimsdals, duftendes Dörrfleisch von Sigrid und wohliges Ausruhen von Knorz im Stall und warten, bis der Sturm seinen Zenit überschritten hat.

Advent im Hochgebirge, Teil 1

Wenn ein Fest bevorsteht, machen sich die Menschen dazu bereit, jeder auf seine Weise.

Ein Satz, der sofort zum Innehalten auffordert. Der uns mitten in die Geschichte stellt und uns darauf vorbereitet, dass sich da einer aufmacht zu einem Fest. Der Titel lässt keinen Zweifel daran, um welches Fest es sich handelt: Weihnachten, ein christliches Fest, zumindest war es das vorrangig zu Zeiten, in denen Gunnarsson schrieb. Er kannte keine Season’s Greetings. Der Satz birgt auch noch ein Geheimnis: … jeder nach seiner Weise. Da ist so eine wunderbare Offenheit drin, da ist keine Enge zu spüren, keine Wertung.

Gunnarsson nennt seinen Protagonisten Benedikt, der Name ist Programm. Benedikt, der „bene dicere“ der gut spricht, der eine Wohltat begeht. Zur Vorbereitung des Festes gehört es zu Benedikts Leben, dass er Jahr für Jahr dem gleichen Ritus folgt: Er geht im Advent ins Gebirge, um die Tiere zu retten, die beim Einsammeln im Herbst nicht aufgefunden worden sind. Das ist nun wirklich eine bärig schwere Arbeit und eine gefährliche noch dazu. Denn zu der Jahreszeit ist es im Hochgebirge einsam und das Wetter kann jeden Tag dazu führen, dass etwas passiert, was den Rückweg versperrt. Und trotzdem liegt in diesem Bild noch etwas anderes. Benedikt macht sich auf, das zu suchen, was verloren gegangen ist. Ich füge an: In seinem Leben? Er will das aufsammeln, was ihm wichtig ist. Ja, er will es retten.

Sie (Anmerkung U.M.: die Schafe) sollten nicht dort drinnen erfrieren oder verhungern, nur weil niemand sich die Mühe gab oder es wagte, sie zu suchen und heimzubringen. Auch sie waren lebendige Geschöpfe. Und er fühlte gleichsam eine Art Verantwortung für sie.

Ich halte beim Lesen inne. Für Benedikt sind die Tiere dort drinnen. D. h. in der Natur. Und der Mensch steht hier außerhalb. Eine ungewöhnliche, nachdenklich machende Betrachtung. Das Wort Verantwortung sticht heraus. Benedikt fühlt sich verantwortlich für die Tiere, die im Hochgebirge herumirren und denen der sichere Tod droht. Aber ist es nicht verantwortungslos, sich selbst in Gefahr zu bringen, um ein Schaf zu retten? Darüber macht sich Benedikt offensichtlich keine Gedanken. Wir wissen nichts von ihm, weder wie alt er ist noch wo er lebt, was sein Beruf ist, ob er Familie hat. Wir wissen nur:

Sein Ziel war also ganz einfach, sie aufzufinden und unversehrt unter Dach und Fach zu bringen, ehe das große Fest seine Weihe über die Erde und Frieden und Wohlgefallen in die Herzen der Menschen senkte, die ihr Möglichstes getan haben.

Ich weiß nichts darüber, ob Gunnarsson Christ war. Das spielt hier aber auch keine Rolle. Er nutzt das biblische Vokabular, benennt Weihe, Frieden und Wohlgefallen, diese Worte werden übertragen, treten aus dem rein christlichen Kontext heraus. Da ist auch von den Herzen der Menschen die Rede und zwar von denen, die ihr Möglichstes getan haben. Was heißt das? Wann kann ich sagen, dass ich mein Möglichstes getan habe? Wieder höre ich mit dem Lesen auf.

Benedikt geht ohne einen anderen Menschen in die Einsamkeit der Berge. Seine Begleiter sind ein Hund und ein Leithammel: Leo und Knorz. Vom Hund heißt es, er sei ein wahrer Papst. Ich muss schmunzeln. Wie stelle ich mir denn einen päpstlichen Hund vor? Die Geschichte der Päpste, auf die wir zurückblicken, ist ambivalent. Da kommen mir Worte wie Macht, Unfehlbarkeit, Pomp in den Sinn. Aber auch Verantwortungsbewusstsein, Güte und Demut. Ich bin mit Hunden groß geworden. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, einen von ihnen mit einem Papst zu vergleichen. Das Bild bleibt für mich verschwommen. Aber ich kann viel damit anfangen, dass die drei Weggenossen unzertrennlich werden, dass sie einander so vertraut sind, dass allein dies ihnen die Sicherheit gibt: Der eine passt auf den anderen auf, jeder hat dabei die Aufgabe, die er am besten erfüllen kann. Und dann schreibt Gunnarsson den bedeutsamen Satz:

Sie kannten einander mit jener tiefgründigen Bekanntschaft, die vielleicht nur zwischen einander fernstehenden Tierarten möglich ist, wo kein Schatten des eigenen Ichs, des eigenen Blutes, eigener Wünsche und Begierden verwirrend oder verdunkelnd dazwischen tritt.

Mir gefällt das Bild des Schattens des eigenen Ichs, die dunkle Stelle, die ich durch meine Person zurücklasse. Wann geschieht das? Diese Frage kann ich auf einen Spaziergang mitnehmen. Vielleicht finde ich Antwort. Hier jedenfalls fällt weder ein Schatten des eigenen Ichs, des eigenen Bluts oder eigener Wünsche. Die drei bilden eine paritätische Gemeinschaft, eine Gemeinschaft, die nur überlebt, wenn sie danach lebt, dass jeder auf den anderen aufpasst.

Meine Gedanken schweifen ab. Das Gedicht von Bert Brecht kommt mir wieder in den Sinn, das mein Mann und ich zu unserer Hochzeit auf der Einladungskarte stehen hatten:

Der, den ich liebe
hat mir gesagt,
dass er mich braucht.

Darum gebe ich auf mich Acht
sehe auf meinen Weg und
fürchte von jedem Regentropfen,
dass er mich erschlagen könnte.

Benedikt kannte das Gedicht nicht, aber er hätte der Aussage zugestimmt.

Gunnarsson fügt noch einen Vierten im Bunde ein: das Pferd Faxe, das aber im Stall bleibt, denn es hat offensichtlich nicht die Konstitution dafür, den beschwerlichen Weg mit zu gehen. Auch hier scheint das Bewusstsein für Verantwortung durch. Die drei trennen sich bewusst von einem, der zu ihnen gehört und den sie vermissen. Und sie werden bei all ihrem Tun auch daran denken, dass Faxe auf sie wartet und sie sehr, sehr aufpassen müssen, dass ihnen nichts zustößt.

Die drei machen sich auf, jeder nach seiner Art. Es ist kalt, die Schneedecke ist dünn. Sie gehen langsam und nehmen sich Zeit für einen Gruß an den Höfen, die am Weg liegen, halten sich dort aber nicht lange auf. Sie kennen ihr Ziel und wissen: Wir dürfen nirgends hängenbleiben, sonst erreichen wir dieses Ziel nicht. Man versorgt sie, gibt ihnen einige Schluck Mich zu trinken. Dann kommt immer wieder dieselbe besorgte Frage nach dem Wetter, meist mit Blick zum Himmel. Jedem ist klar: Was Benedikt, Leo und Knorz machen, das ist gefährlich. Man vermeidet den direkten Blick, man versucht es mit einem Scherz, der Köter werde schon den Weg finden … Benedikt reagiert klar und überzeugt:

Das können wir alle drei.

Er lässt sich nicht beirren. Er weiß, dass die Suche nur erfolgreich ist in der Gemeinschaft und er weiß auch, dass Angst oder Abschieben von Verantwortung da keinen Platz haben. Er deutet an, dass Zeit genug da sei, dass Leo das Leckerli, das ihm der Bauer gegeben hat, in Ruhe verspeisen könne und gleichzeitig erfahren wir Leser, dass dieser Benedikt keine Zeit gehabt hat, in die Kirche zu gehen. Diese fehlte ihm heute, am ersten Advent. Es gibt einen klaren Grund: Er will zu vernünftiger Stunde ankommen. Er plant mit Bedacht ein, dass die vor ihm liegenden Etappen Kraft kosten und er daher jede Stunde des Tages bewusst nutzen muss. Für die Kirche bleibt da keine Zeit. Wofür steht hier die Kirche?, frage ich mich. Benedikt macht mir nicht den Eindruck, dass er mit Kirche nichts am Hut habe, aber jetzt, für seine Mission braucht er sie nicht.

Am ersten Advent ist diese Wanderung durch das Bauernland bis an den Rand der Heide sein Kirchgang.

Mir gefällt der Gedanke ungemein, dass dieser Benedikt den Raum der Kirche erweitert. Er kennt seinen Text: Matthäi 21 hat er gelesen und er nimmt das Glockenläuten, das Rasenkirchlein und die Auslegung des Pastors in seine Gedanken auf. Für mich heißt das, er ist ihnen nah, auch wenn er anderswo ist. Jeder, der Island kennt, hat hier vielleicht eine der vielen Kirchen vor Augen, auf deren Dach Gras wächst und richtet den inneren Blick auf die meist naheliegenden Berge in der Umgebung. Benedikt geht seiner eigenen Predigt nach und findet zu seinem eigenen Gebet, wenn er die Krater in der Schneewüste um sich betrachtet. Ja, er lässt sogar die Kratermünder sprechen. Er stellt eine rhetorische Frage nach der anderen und lässt mich dadurch in einen Dialog mit mir. Die Natur um ihn ist ein großer Gottesdienst, Benedikt spürt eine Weihe über diesem Sonntag, eine herzbeklemmende Weihe. Oh nein, was ein schockierendes Bild! Warum beklemmend? Wahrscheinlich der unermesslichen unschuldsweißen Feierlichkeit geschuldet, dem stillen Ruhetagsrausch, der unfassbaren, unglaublich verheißungsvollen Stille. Gunnarsson arbeitet hier mit ungewöhnlichen Wortschöpfungen, mit starken Bildern. Benedikt nimmt wahr, detailgenau und diese Wahrnehmung spiegelt das, was für ihn diese Zeit bedeutet, die in dem großen stillen, erstaunlich fremden und doch zugleich so vertrauten Wort Advent zusammenkommt. Mir gefällt diese Beschreibung ungemein.

Im Laufe der Jahre war ihm dieses Wort fast zum Inhalt seines ganzen Lebens geworden.

Advent als Lebensinhalt. Mir wurde beigebracht, dass Advent Anfang heißt. Wenn ich richtig aufgepasst habe, heißt das doch eigentlich, dass ich jedes Jahr wieder neu anfange. Es heißt auch, dass da auch ein Ziel ist. Benedikt geht nicht „just for fun“ in die Berge. Er hat ein Ziel. Und das wird nicht vom Schatten seines Ichs bestimmt.

Schon jetzt, nach wenigen Seiten, macht er mir den Eindruck, dass ich ihn näher kennen lernen will, diesen Benedikt. Ihn und seine Begleiter. Ich freue mich auf diese Adventswanderung mit ihm.