Advent im Hochgebirge, Teil 5

Da lagen sie wie hingeworfen, vier schlafende Männer in einer Gebirgshütte, im Schnee begraben.

Ihre Atemzüge, ihr Schnarchen und auch die Geräusche, die die Tiere von sich geben, spiegeln in der Hütte das Unwetter, das draußen wütet, und gleichzeitig gleicht die Hütte einem Grab, das unter der dicken Schneedecke liegt. Gunnarsson arbeitet mit Kontrasten: Grab zum einen, Unwetter zum anderen. Das Unwetter draußen wird naturalistisch als eine Wanderung der Schneewolken beschrieben, hinter denen die Himmelszeichen vorüberziehen. Die Himmelszeichen werden personalisiert, sie sind geradezu greifbar. Dynamik, Kampf und Kraft auf der einen Seite – Ruhe, Grabesruhe auf der anderen. Der Mensch zwischendrin. Und dann kommt der einfache, als Aufruf zu verstehende Satz:

Es war Zeit zu erwachen.

Advent. Zeit der Wachsamkeit, Zeit der Wanderung, Zeit des Aufbruchs. Die Männer werden wach; irgendetwas rief sie. Sie machen sich wieder auf den Weg, die Analogie der Wanderung von Maria und Josef hin zu einem Ziel durch unwegsames und gefährliches Gelände bietet sich an. Ein neuer Tag beginnt, die Schafe Grimsdals sind nicht so leicht zu finden wie erhofft. Aber sie werden gefunden und einen wesentlichen Anteil daran hat Knorz, der Leithammel.

Der drauflosgeht, bis er im Schnee festsitzt und ausgegraben werden muss, und der die anderen ununterbrochen ansteckt mit seiner Kraft und seinem Mut.

Dieses Tier, das immer wieder im Schnee versinkt und wieder ausgegraben werden muss, wird zum Rettungssymbol. Von außen betrachtet war nicht zu erkennen, warum ausgerechnet ein Hammel große Dienste leisten soll bei einem solchen Unternehmen. Aber nun zeigt sich, dass auch das, was augenscheinlich erst einmal eher als Hindernis angesehen wird, durchaus lebenswichtig sein kann. Fast versteckt sehe ich hier Gunnarssons Hinweis, Nutzloses oder Hemmendes nicht gleich auszusortieren, sondern es aus einer anderen Perspektive anzusehen und zu überlegen, was damit geschehen kann. Harkom erkennt jetzt, dass die ganze Aktion ohne Knorz vielleicht gescheitert wäre. Und er sieht auch plötzlich die Qualitäten von Leo, dem Hund. Dieser erkennt auch ältere Spuren im Schnee. Er sieht das, was ein menschliches Auge vielleicht nicht sieht. Und er hat den Instinkt, Verstecke der Schafe zu finden.

Ja, er wittert sogar, wo sie liegen, eingeschneit in Gruben und Senken.

Auch Leo wird zum Lebensretter, mehr noch als die Menschen. Hier kommt die Ehrfurcht vor der Schöpfung so richtig zum Tragen. Beide Tiere sind unersetzlich, der Mensch würde ohne sie scheitern. Das Aufeinander-Angewiesensein wird thematisiert, die ungemeine Vielfalt der Begabungen angesprochen. Jeder wird nach seiner Weise gebraucht. Der Ton des ersten Satzes der Erzählung gibt den Rhythmus vor. Jeder ist nach seiner Weise eingebunden, alle sind wichtig. Hier gibt es ein Miteinander zwischen Mensch, Tier und Umwelt. Harkom begreift, was die Tiere leisten, wägt Kosten und Nutzen gegeneinander ab und überlegt,

Ob Benedikt sich nicht entschließen könne, ihn zu verkaufen.

Gunnarsson schreibt den Satz in der erlebten Rede, nicht im direkten Gespräch: Ob er sich entschließen könne, ihn zu verkaufen? Da hat sich Harkom wohl nicht getraut, den Satz direkt an Benedikt zu richten, dieser errät aber dessen Gedanken und geradezu ironisch mutet der folgende Satz an:

Aber Benedikt kann sich nicht entschließen. Nein, nein.

Allein der Gedanke, er könne ihn verkaufen, weil nun offensichtlich ist, was Benedikt ohnehin wusste, dass nämlich Leo unersetzlich ist, ist derart absurd, dass auf ein solches Ansinnen nur mit feinem Hohn geantwortet werden kann.

Einen Papst schleppt man nicht so mir nichts dir nichts auf den Markt. Und abends saß man gemütlich in der Hütte und entbehrte Benedikt nur ungern bei dem gemeinsamen Vergnügen.

Zweimal man, zwei unterschiedliche Perspektiven. Beim ersten Satz ist es eine Verallgemeinerung, die einem Anspruch von übergreifender Bedeutung gleichkommt: Man macht das nicht. Beim zweiten Satz bezieht sich das man ganz eindeutig auf die kleine Gesellschaft der Männer Grimsdals, zu der Benedikt so partout nicht gehören will. Ihnen bleibt auch jetzt nichts übrig, als zu dreien zu spielen, mit dem vierten Mann blind.

Die Konzeption dieses Textabschnitts, so bildlich sie auch sein möge, zeigt klar, dass eine wirkliche Umkehr, ein gegenseitiges Verständnis im Grunde ausbleibt. Jeder bleibt sich in seiner Weise treu, beide Weisen sind aber unvereinbar. Benedikt mit seinen beiden Tieren und Harkom mit seinen Männern bilden eine Zweckgemeinschaft, die in dem Moment beendet sein wird, wo die Mission zu Ende ist. Auch hier wieder die Ambivalenz, der rote Faden des Textes.

Vier Tage braucht die Gruppe, um alle Schafe Grimsdals einzusammeln. Alle werden gefunden. Alle sind gerettet. Eine wunderbare Botschaft. Benedikt überlässt die Gruppe im Moment des Aufbruchs nach Hause nicht sich selbst, sondern führt sie noch zurück auf den Weg ins Tal. Und da

bekam (er) seinen Dank, einen dreifachen Händedruck und einiges Kopfnicken und ein paar Abschiedsworte.

Das wars. Benedikt hat wahrscheinlich nicht mehr erwartet. Aber die Aufzählung ist selbstredend: dreifach, einiges, ein paar. Basta.

Wo ist die Umarmung? Wo ist der tiefe Blick in die Augen? Wo ist das anerkennende Streicheln der Tiere? Der Text schweigt hier. Wahrscheinlich gibt es auch nichts darüber zu berichten. Die Chance ist verpasst. Der Dank bleibt oberflächlich. Aber Gunnarsson bewertet nicht, nein, er lässt seinen Protagonisten zurück zur Hütte schlendern – ein Wort, das ich in diesem Kontext völlig ungeeignet finde. Wie heißt es wohl im dänischen Original? In dieser rauen Landschaft schlendert es sich nicht. Benedikt ist müde, ausgelaugt, er hat nur einen Gedanken: Ausruhen!

Nichts als ausruhen. Sich sammeln, wieder ganz werden – auch innerlich. Advent …Wie lange der letzte Sonntag schon vorbei war.

Was genau wird hier beschrieben? Wenn Grimsdal seine Schafe ordnungsgemäß eingeholt hätte, wäre Benedikt mit seinem Vorhaben schon weiter, vielleicht sogar schon am Ziel. So hat sein eigentlicher Weg ja noch gar nicht begonnen. Alle Strapazen stehen ihm noch bevor. Er macht das, was jeder Sportler vor einem Wettkampf tut: Er sammelt sich. Er macht das, was auch ein gläubiger Mensch in Vorbereitung des Weihnachtsfestes tut: Er geht in sich. Er kommt zur Ruhe, er besinnt sich auf das, was ihn eigentlich ausmacht. Benedikt will Kräfte bündeln. „Bitte nicht stören, ich bin gerade bei mir!“, so betrachte ich diesen Benedikt, der mir ungemein sympathisch ist, der da in seinem Bett liegt und seine Hand auf Leo ruhen lässt.

Gunnarsson schaltet sich nun als auktorialer Erzähler in die Geschichte ein:

Der Mensch hat viele Arten, sein Leben zu leben. Manche reden, andre schweigen. Manche müssen mitten unter ihren Mitmenschen sein, um sich wohl zu fühlen, andere werden erst richtig sie selbst, wenn sie ganz allein sind, jedenfalls hin und wieder.

Gunnarsson breitet ein Bild von den Unterschieden der Menschen aus. Auffällig ist, dass er dem Menschen die Autorität zubilligt, über sein Leben zu entscheiden: Er hat es in der Hand, wie er lebt. Da ist kein Fatalismus, hier wird Regie geführt. Und jeder auf seine Weise. Von Benedikt heißt es, er sei nicht menschenscheu, aber während der Adventswanderungen brauche er die Stille. Er weiß wohl, was er für sich braucht, er kennt sich, er weiß, was er tun muss, um sich nicht zu verlieren. Gunnarsson wertet auch hier nicht. Andere brauchen vielleicht die Unterhaltung, Benedikt braucht sie nicht. Dorftratsch ist nicht die Welt von Benedikt. Aber offensichtlich verstärkt sich die Abneigung gegen diesen im Laufe der Zeit.

Ganz so schlimm wie diesmal war es freilich in früheren Tagen mit seiner Empfindlichkeit nicht gewesen. Ja, man wurde alt.

Eine Selbsterkenntnis, eine Form der Reflexion, die ihm vielleicht auch zu Bewusstsein bringt, dass nicht alles an den anderen liegt ,sondern auch von ihm abhängt.

Wir verlassen Benedikt und nehmen die rhetorische Frage mit in den dritten Advent:
Wohin war der Friede und die tiefe Ruhe vom letzten Sonntag?

Ein Gedanke zu „Advent im Hochgebirge, Teil 5“

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