Den Namen weiß ich nicht. Doch du bist einer
Der Engel aus dem himmlischen Quartett,
Das einstmals, als ich kleiner war und reiner,
Allnächtlich Wache hielt an meinem Bett.
Wie du auch heißt – seit vielen Jahren schon
Hältst Du die Schwingen über mich gebreitet
Und hast, der Toren guter Schutzpatron,
Durch Wasser und durch Feuer mich geleitet.
Du halfst dem Taugenichts, als er zu spät
Das Einmaleins der Lebensschule lernte.
Und meine Saat mit Bangen ausgesät,
Ging auf und wurde unverhofft zur Ernte.
Seit langem bin ich tief in deiner Schuld.
Verzeih mir noch die eine – letzte – Bitte
Erstrecke deine himmlische Geduld
Auch auf mein Kind und lenke seine Schritte.
Er ist mein Sohn. Das heißt: Er ist gefährdet.
Sei um ihn tags, behüte seinen Schlaf.
Und füg es, daß mein liebes schwarzes Schaf
Sich dann und wann ein wenig weiß gebärdet.
Gib du dem kleinen Träumer das Geleit.
Hilf ihm vor Gott und vor der Welt bestehen.
Und bleibt dir dann noch etwas freie Zeit,
Magst du bei mir auch nach dem Rechten sehen.
Engel sind heute wieder modern. 1987 hat Wim Wenders Film Der Himmel über Berlin das Thema aufgegriffen, die Scorpions sangen sich mit ihrem Lied Send me an angel in die Hitlisten, wir kennen alle den Blauen Engel als Umweltzeichen und den gelben Engel auf den Straßen und wir wissen auch, was hinter den Begriffen Business Angel und Hells Angel steht. Engel sind also nicht nur ein rein religiöses Thema. Nicht nur das Christentum, sondern auch andere Religionen kennen Engel und abgefallene Engel, die durch das Weltall schweifen. Die Literatur ist voll von Engelgeschichten, Jostein Gaarder hat sogar in seinem Buch Wie ein Spiegel durch ein dunkles Wort einen Engel zum Gesprächspartner für ein schwerkrankes Mädchen gemacht, um ihm die Chance zu geben, über die wirklich wichtigen Fragen im Leben zu sprechen. Sind das Zufälle, dass Engel heute so gefragt sind? An Engel muss man nicht glauben, Engel erfährt man, z. B. als Schutzengel, der den Menschen behütet. Wir erleben auch, dass ein anderer Mensch für uns zu einem Engel wird und uns den Weg weist aus einem Schlamassel, in das wir eingefahren sind. Engel sind aus christlicher Sicht Boten, durch die Gott in den Menschen etwas bewirkt: Umkehr, Neuanfang, Segen, Trost. Auch in unserem aufgeklärten Zeitalter ist ein Gefühl für das Geheimnis der Engel geblieben. Und gerade, weil die Bibel kaum nähere Enthüllungen über ihr Wesen macht, scheinen die Dichter für sich das Recht abgeleitet zu haben, Engelsbegegnungen greifbar darzustellen.
Schutzengel liebe ich. Und ich bin felsenfest überzeugt, dass es sie gibt, Aufklärung hin und Aufklärung her. Ich bin auch immer froh, wenn ich Menschen treffe, die der gleichen Meinung sind wie ich: Schutzengel sind enorm wichtig für unsere Welt und es ist gut, dass es viele von ihnen gibt. Von daher gilt, seit ich Enkel habe: Wenn sie bei uns schlafen, singe ich vor dem Schlafengehen: „Abends, wenn ich schlafen geh, vierzehn Engel um mich stehn“. Wenn ich es vergäße, würden es die Kinder einfordern.
Mascha Kaléko, Dichterin mit jüdischen Wurzeln aber ohne Bezug zum Glauben, legt hier in ihrer gewohnt ironisch-satirischen Weise ein humorvolles Gedicht an ihren Schutzengel vor, der zum lyrischen „Du“ wird. Und sie trägt eine Bitte nach der anderen an ihn heran, jeweils mit dem Tenor: Und das will ich noch, und das will ich noch. Die Sprecherin ist nicht gerade bescheiden, sondern überzeugt davon, dass sie ihrem Schutzengel das alles auch zumuten kann. Er hat zwar keinen Namen, aber wohnt im Himmel und gehört zum himmlischen Quartett und wacht schon von klein auf über sie. Auf ihren Schutzengel ist Verlass, er bietet Sicherheit. Im Gedicht können wir durchaus Mascha Kaléko und ihr lyrisches „Ich“ als identisch ansehen.
Die zweite Strophe nimmt die Eigenschaften Verlässlichkeit und Namenlosigkeit nochmals auf: Wie du auch heißt – seit vielen Jahren schon ist der Engel da und zwar als Schutzpatron, der durch Wasser und durch Feuer trägt, der also gerade in Gefahr eine sehr große Rolle spielt. Sogar dem Taugenichts steht er bei und lässt die Saat aufgehen, geradezu unerwartet. Offensichtlich wertet der Engel nicht, er steht auch dem bei, der faul ist, was für ein Trost! Die Sprecherin weiß, dass sie ihren Schutzengel bislang ziemlich gut beschäftigt hat: Seit langem bin ich tief in deiner Schuld. Er ist also in Übung, auf ihn ist Verlass und daher nimmt sie all ihren Mut zusammen und bittet ihn fern von jeder Bescheidenheit, weitere Aufgaben zu übernehmen: Der Engel möge sich dem schwarzen Schaf – ihrem Sohn – annehmen und ihn in ein weißes Schaf verwandeln. Was steht hinter dem Bild des schwarzen Schafes? Das ist ja alles andere als ein Kompliment für den Sohn. Es ist kein zynisches Bild, nein, es ist ein Bild, bei dem viele Assoziationen kommen: Der Sohn, der noch ungelenk nach seinem eigenen Weg sucht, der Sohn, der Ermutigung braucht, der Sohn, der Stärke braucht. Ihn auf den rechten Weg führen, ihn aus dem Schlamassel herausholen. Viele Variationen sind hier möglich. Und noch eine Bitte kommt dazu: der Weg des kleinen Träumers möge vor Gott und der Welt Bestand haben. Volles Programm für den Engel! Kann er das überhaupt stemmen? Kaléko wird jetzt sehr ironisch und setzt humorvoll noch eine Bitte drauf. Wenn noch Zeit übrig ist, dann möge sich der Engel ihrer selbst annehmen. Klare Ansage, klares Programm.
Ein seltsamer Monolog wird hier wiedergegeben: Da gibt es einen Engel, der offensichtlich wahrgenommen wird, der einen großen Stellenwert erhält, dem Dank gezollt wird, dessen Name aber nicht behalten wird und der unermüdlich seiner Aufgabe nachgeht. Diesem Engel vertraut die Sprecherin unerschütterlich. Sie weiß, dass sie undankbar war, dass sie ihm viel zugemutet hat und dass sie auch nichts dazu beigetragen hat, dass er ihr so treu ist. Vielleicht ist diese Erfahrung von der grenzenlosen Sicherheit, die ihr dieser Engel gibt, die Voraussetzung dafür, dass sie ihn losschickt zu ihrem geliebten Kind. Sie weiß, wenn der Engel bei ihrem Kind ist, dann wird ihm nichts passieren. Und in seinen Arbeitspausen möchte er sich bitte um sie selbst kümmern. Ein Engel im Dauereinsatz.
Mascha Kaléko ist 1907 zwanzig Kilometer östlich von dem Ort geboren, der später als Ort des Schreckens in die Geschichte eingegangen ist: Auschwitz. Sie ist assimilierte Jüdin, zieht, um den Pogromen zu entgehen, bereits im Alter von sieben Jahren mit ihrer Mutter nach Berlin – ohne Vater, denn der war wegen seiner russischen Staatsbürgerschaft als feindlicher Ausländer interniert und kommt erst Jahre später zur Familie zurück. Als junge Frau arbeitet sie in einem Büro und besucht abends Kurse in Philosophie und Psychologie. Sie lernt die Berliner Avantgarde um Lasker-Schüler, Ringelnatz und andere im Romanischen Café kennen und beginnt zu schreiben. Bereits 1929 veröffentlicht sie erste Gedichte im Stil der Neuen Sachlichkeit, die durch Alltagslyrik gekennzeichnet ist. Kaléko schafft es, sich ihren Platz als bedeutsame Lyrikerin zu sichern, sie, die man den weiblichen Kästner nennt. Nicht jeder Reim muss rein sein, aber der sarkastisch humorvolle Blick auf die Zeit, auf all die vielen alltäglichen Dinge des Lebens, der ist entscheidend. Als 1933 ihr lyrisches Stenogrammheft publiziert wird, ist den Nazis noch nicht klar, dass die Autorin Jüdin ist. Erst ein Jahr später wird sie mit Zensur belegt. 1938 emigriert sie mit ihrem zweiten Mann in die USA, steht dort ihre Frau und nimmt jede Arbeit an, um den Unterhalt der Familie zu sichern. Kaléko schreibt weiter, unermüdlich, immer bezogen auf das, was sie gerade erlebt. Ihr Mann, der Dirigent Chemio Vinaver, erntet nicht den erhofften Erfolg. Die Familie macht einen Neuanfang in Israel, der aber misslingt. Sohn und Mann sterben, sie will zurück nach Berlin ziehen, in eine Stadt, an die sie gute Jugenderinnerungen hat, aber dazu kommt es nicht mehr. Sie stirbt 1975 bei einer Reise an ihrem Magenkrebs in Zürich.
Marcel Reich-Ranicki reiht Mascha Kaléko zu den großen Dichterinnen des 20. Jahrhunderts ein, beklagt aber ihren ausgebliebenen Ruhm: „Sie ist eine Dichterin, die überall fremd geblieben ist: in Deutschland eine polnische Jüdin, in Amerika eine unbelehrbare Europäerin, in Polen eine Unbekannte“. Wer sie einmal entdeckt hat, den lässt sie nicht mehr los.
Mascha Kaléko: Sämtliche Werke und Briefe, München (dtv) 2012
Das Zitat von Marcel Reich-Ranicki stammt aus der Kolumne: „Fragen Sie Reich-Ranicki“, in FAZ, 2.12.2007