Immanuel Kant: Was ist Aufklärung?

Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung. (S. 9)

So beginnt Kants berühmter Aufsatz zur Frage: Was ist Aufklärung? in der Dezember-Nummer der Berlinischen Monatsschrift von 1784. Vorausgegangen war eine Veröffentlichung des Berliner Pfarrers Johann Friedrich Zöllner im gleichen Blatt ein Jahr zuvor, in dem er die kirchliche Ehe gegenüber der Zivilehe verteidigt und gegen die Verwirrung vorgeht, die

unter dem Namen der Aufklärung in den Köpfen und Herzen der Menschen angerichtet werde. (…) Was ist Aufklärung? Diese Frage, die beinahe so wichtig ist, als: Was ist Wahrheit, sollte doch wohl beantwortet werden, ehe man aufzuklären anfinge! (S. 3)

Diese Frage, gestellt von einem relativ unbekannten protestantischen Pfarrer über das Eherecht wird zu einer folgenschweren Frage, deren Beantwortung immer wieder neu versucht wird. Moses Mendelssohn, Philosoph und Wegbereiter der jüdischen Aufklärung, der Haskala, greift Zöllners Frage in der Septemberausgabe 1784 der Berlinischen Monatsschrift auf und schreibt dazu einen Aufsatz. Es ist nicht sicher, ob Kant diesen Aufsatz kannte. Kants Antwort auf die Frage ist jedenfalls klar und gut verständlich: Der Mensch soll frei, d. h. mündig werden und Mut haben, selbst zu denken. Klasse! Diese Forderung gilt nach wie vor und ist immer noch nicht so ganz gelungen umgesetzt.

Kant lebt von 1724–1804. Zu seiner Zeit ist seine Antwort auf die Frage eine absolute Provokation. Es herrscht Feudalismus, Deutschland besteht aus über 300 Fürstentümern, daneben gibt es freie Reichsstädte und in Preußen regiert Friedrich II., der zwar französische Aufklärer an seine Tafelrunde holt, gleichzeitig aber auch verheerende Kriege führt. Wie sollte sich ein Leibeigener in dieser Zeit aus seiner Unmündigkeit befreien, von der Kant sagt, sie sei selbstverschuldet?

Kant weiß, dass er nicht in einer aufgeklärten Zeit lebt, aber er fordert, dass das Leben in ein Zeitalter der Aufklärung übergehe. Aufklärerische Gedanken entwickeln sich nicht in der Masse der Bevölkerung, sie sind vorerst einem kleineren Kreis der Gesellschaft vorbehalten. Gerade Berliner Salons, geführt von intelligenten Frauen, sind Hotspots aufklärerischen Gedankenguts.

Kant nennt Gründe, warum die Aufklärung nur schleppend in Gang kommt:

Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung freigesprochen hat, dennoch gern zeitlebens unmündig bleiben; und warum es anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist bequem, unmündig zu sein. (S. 9)

Mit anderen Worten heißt das: Es ist leichter, seine Ohnmacht zu leben als sich selbst zu führen. Da ist ja was dran. Selber denken macht Mühe. Es ist bequemer, darauf zu vertrauen, dass andere das schon machen werden. Kant ist hier aber rigoros. Er bezeichnet eine solche Haltung als faul und feige und zeichnet auch die Konsequenzen auf: Anderen wird es leicht gemacht, sich zu Vormündern zu ernennen.

Wir können uns durchaus einen wütenden Kant an seinem Schreibtisch vorstellen, der durchaus polemisch und mit Galgenhumor seine Zeit beschreibt:

Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt u.s.w., so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen. Daß der bei weitem größte Teil der Menschen (darunter das ganze schöne Geschlecht) den Schritt zur Mündigkeit außer dem, daß er beschwerlich ist, auch für sehr gefährlich halte: dafür sorgen schon jene Vormünder, die die Oberaufsicht über sie gütigst auf sich genommen haben. Nachdem sie ihr Hausvieh zuerst dumm gemacht haben und sorgfältig verhüteten, dass diese ruhigen Geschöpfe ja keinen Schritt außer dem Gängelwagen, darin sie eingesperreten, wagen durften, so zeigen sie ihnen nachher die Gefahr., die ihnen drohet, wenn sie es versuchen, allein zu gehen. Nun ist diese Gefahr zwar eben so groß nicht, denn sie würden durch einigemal Fallen wohl endlich gehen lernen; allein ein Beispiel von der Art macht doch schüchtern und schreckt gemeiniglich von allen ferneren Versuchen ab. (S. 9f.)

Kant geht hart ins Gericht mit seinen Zeitgenossen. Wer sagt: „Hier sieh, in dem Buch steht es schwarz auf weiß!“, wer sagt: „Hier sieh, das hat der Seelsorger gesagt!“, wer sagt: „Hier sieh, das hat der Arzt diagnostiziert!“, der gibt allzu leicht Verantwortung ab. Kant weist sehr deutlich darauf hin, dass die Ursache für das leichtfertige Abgeben von Verantwortung in den Einschüchterungen derer liegt, die lenken wollen. Ob sie dann aber so lenken, dass es für mich gut ist, das steht auf einem anderen Blatt. Die Drohungen gehören zum System: „Wenn ihr nicht das tut, was ich will, dann seid ihr in Gefahr!“ Wer will das schon gern sein? Also ist es vielleicht doch besser, sich unter den Schutz dessen zu stellen, der es doch eigentlich gut mit allen meint …

Kant ist davon überzeugt, dass nur ein Prozess des Erkennens eine Änderung der Haltung herbeiführen wird. Man kann dem Menschen nicht sagen: „Sapere Aude! Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ und dann darauf hoffen, dass er das gleich in die Tat umsetzt. Das Sapere aude, das ist mit eine der am schwersten umzusetzenden Forderungen der Aufklärung. Eigenständig denken heißt: In Frage stellen, hinterfragen, nachfragen, vielleicht auch mehrfach, zweifeln, Gegenvorstellungen entwickeln, neue Wege suchen, das heißt, sich seiner Ohnmacht und seines Nicht-Wissens bewusst werden und daran arbeiten, dass sich das ändert, das heißt, sich auf den Weg der Emanzipation zu begeben. Emanzipation ist damit verbunden, dass Fesseln gelöst werden, durchaus aber neue entstehen können. Kant weiß um die Dauer dieses Entwicklungsprozesses.

Durch eine Revolution wird vielleicht wohl ein Abfall von persönlichem Despotism und gewinnsüchtiger oder herrschsüchtiger Bedrückung, aber niemals wahre Reform der Denkungsart zustande kommen; sondern neue Vorurteile werden, ebenso als die alten, zum Leitbande des gedankenlosen großen Haufens werden. (S. 10f.)

Kant erlebt einige Jahre nach Abfassen dieser Schrift die Französische Revolution und ihr Scheitern. Würde er heute aus seiner Gruft auferstehen, hätte er sehr viele Beispiele für gescheiterte Revolutionen zu beklagen. Hätte man Kant in all diesen Jahren ordentlich gelesen und verstanden, wäre vielleicht die Bedeutung des Wortes Reform stärker ins Bewusstsein gekommen. Man wird nicht mal eben durch eine Revolution mündig.

Ich hatte eine sehr engagierte Professorin für lateinamerikanische Literatur, Frauke Gewecke. Sie brachte uns, allesamt interessiert an den Umwälzungen der lateinamerikanischen Befreiungsbewegungen in den achtziger Jahren, gnadenlos bei: „Leute, worin mündet normalerweise der Befreiungskampf, der mit viel Herzblut und absolut reinem Gewissen geführt wird? Normalerweise mündet er in einen Zustand, der noch schlimmer ist als der vorherige.“ Wir hatten heftige Diskussionen und lernten bei lateinamerikanischen Autoren viel über Politik und Gesellschaft.

Gut, Kant will einen Prozess der Wandlung. Aber was genau fordert er? Er fordert etwas ein, was zum Kern unseres demokratischen Verständnisses gehört und in vielen Bereichen unserer Zeit immer noch nicht umgesetzt ist: Er fordert ein, den Wert der Freiheit zu erkennen.

Zu dieser Aufklärung aber wird nichts erfordert als Freiheit: und zwar die unschädlichste unter allem, was nur Freiheit heißen mag, nämlich die: von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen. (S. 11)

Der öffentliche Gebrauch der Vernunft solle jederzeit frei sein. Das heißt, Pressefreiheit, Religionsfreiheit, Meinungsfreiheit. Darin liegt ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis der Aufklärung. Freies Denken, jenseits aller Moden, jenseits des Mainstreams, das einzufordern und öffentlich davon Gebrauch zu machen, das sind zentrale Überzeugungen Kants. Manchmal würde ich gerne Kant in die Talkshows von heute beamen, vielleicht würde er heute sagen: „Wer sein Hirn an ein Parteibuch abgibt, hat die Aufklärung nicht verstanden.“

Die Macht der Vernunft, das war es, woran die Aufklärer mit Inbrunst geglaubt haben. Und damals wie heute gehört zur Vernunft eine gesunde Portion Skepsis gegenüber allen Autoritäten. Die Aufklärer waren optimistisch in ihrer Einschätzung, dass es möglich ist, Menschen zum mündigen Selbstdenken zu bringen. Sie hofften, dass es nur eine Frage der Zeit sein würde, dass Unvernunft und Unwissen verschwunden sein würden, da sie ein sehr positives Bild vom Menschen hatten. Der Mensch ist fähig zum Fortschritt, er kann sich wandeln.

Die optimistische Stimmung weicht aber im Laufe der Jahre. Der Prozess, der so fulminant begonnen hatte, verläuft wohl auch aus dem Grund nur schleppend, weil der Mensch nun einmal kein reines Vernunftswesen ist. Und heute? Welchen Stellenwert hat die Vernunft heute?

Zugegeben, heute haben wir eine andere Zeit, welche Macht hat die Vernunft heute? Sie ist mitunter auch angesichts der Explosion unterschiedlicher Einstellungen und sich widersprechenden Wissens zu einer Überforderung des Menschen geworden und zeigt klar, wo die Grenzen der Aufklärung sind. Grenzen von Aufklärung sehen wir in der aktuellen Situation überall. Wir haben täglich umfassenden Zugang zu einer Vielzahl von Erklärungsmodellen und Handlungsstrategien bezüglich der Pandemie. Sie überfordern nicht nur die Menschen, die Entscheidungen treffen müssen, auch der Einzelne kann unmöglich allesamt im Blick haben und fühlt sich ohnmächtig. Was sind vernünftige Entscheidungen? Wie ist der Flut von Urteilen zu begegnen, die sich aus Bauchgefühl, Aberglauben, Vorurteilen oder schlicht Fehlinformationen nähren? Die Grundlagen für Mündigkeit, die in der Aufklärung entstanden, sind weiterhin gültig: Vernunftbasierte Entscheidungen sind nach wie vor das Beste, was uns zur Verfügung steht. Nur dadurch können Aberglaube und Fanatismus, Schwärmerei und Vorurteile entlarvt werden.

Immanuel Kant hat sein ganzes Leben in Königsberg verbracht. Er hätte Professuren in Erlangen und Jena haben können, lehnt diese aber ab. 1770 im Alter von 46 Jahren wird er zum ordentlichen Professor der Logik und Metaphysik an der Königsberger Universität ernannt. Er ist ständig im Konflikt mit preußischen Zensurbehörden, die seine Lehren als nicht vereinbar mit der Bibel und geltenden Herrschaftsverhältnissen sehen, korrespondiert mit Schiller, kennt die Schriften Lessings, Voltaires, Rousseaus und aller anderen aufklärerischen Philosophen seiner Zeit. Sein Einfluss auf die Philosophie und Geistesgeschichte ist gewaltig. Heute gilt er als der am meisten rezipierte deutsche Philosoph.

Immanuel Kant: Was ist Aufklärung? In: Was ist Aufklärung? Thesen und Definitionen, hrsg. Ehrhard Bähr, Stuttgart, (Reclam Verlag) 1974, S. 9–17

Das Zitat von Johann Friedrich Zöllner entstammt ebenfalls aus der Bährschen Zusammenstellung.

Theodor Fontane: Effi Briest

Nicht so wild, Effi, nicht so leidenschaftlich. Ich beunruhige mich immer, wenn ich dich so sehe. (S. 7)

Dieser Satz, gesprochen von der Mutter von Effi Briest gleich zu Beginn des Romans, legt das Programm fest. Weiter heißt es:

Und die Mama schien ernstlich willens, in Äußerung ihrer Sorgen und Ängste fortzufahren.

Effi ist da kein kleines Kind mehr. Sie ist eine junge Frau von siebzehn Jahren, die nach wie vor streng behütet wird. Baron Geert Instetten, gut zwanzig Jahre älter als sie, hält um ihre Hand an und ohne selbst gefragt zu werden, ist sie am gleichen Tag mit ihm verlobt. Ihr Vater beschreibt, wie er die Verbindung sieht:

Geert, wenn er nicht irre, habe die Bedeutung von einem schlank aufgeschossenen Stamm und Effi sei dann also der Efeu, der sich darumzuranken habe. (S. 17)

So ist das, Effi als Zierde, das ist ihre Zukunftsperspektive.

Schon die Hochzeitsreise zeigt: Da wird etwas schiefgehen. Die Reise führt die beiden nach Italien. Sie besuchen eine Galerie nach der anderen, stehen stundenlang vor Gemälden in Museen und in ihren Briefen an ihre Eltern wird deutlich, dass Effi eigentlich Sehnsucht nach zu Hause hat.

Das Gespräch der Eltern darüber spricht Bände:

Frau von Briest, als sie den Brief vorgelesen hatte, sagte:

Das arme Kind. Sie hat Sehnsucht.“

Ja,“ sagte Briest, „sie hat Sehnsucht. Diese verwünschte Raserei …“

Warum sagst du das jetzt? Du hättest es ja hindern können. Aber das ist so deine Art, hinterher den Feigen zu spielen. Wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist, decken die Ratsherren den Brunnen zu.“

Ach Luise, komm mir doch nicht mit solchen Geschichten. Effi ist unser Kind, aber seit dem dritten Oktober ist sie Baronin Instetten. Und wenn ihr Mann, unser Herr Schwiegersohn, eine Hochzeitsreise machen und bei der Gelegenheit jede Galerie neu katalogisieren will, so kann ich ihn nicht daran hindern. Das ist eben das, was man `sich verheiraten‘ nennt.“

Also jetzt gibst du das zu. Mir gegenüber hast du das immer bestritten, immer bestritten, daß die Frau in einer Zwangslage sei.“

Ja, Luise, das hab ich. Aber wozu das jetzt. Das ist wirklich ein zu weites Feld.“ (S. 39f.)

Ein weites Feld … Günter Grass nimmt dieses Bild als Titel für seinen Wenderoman und knüpft dadurch an Fontane an. Hier wie da steht dieses Bild für ein ausuferndes Thema mit dem kleinen Unterschied, dass bei Fontane noch zu steht: ein zu weites Feld. Diese kleine Nuancierung, ausgesprochen von Briest gegenüber seiner Frau, bedeutet nicht anders als: „Für dich, meine liebe Luise ist dieses Feld zu weit“, eine klare Wertung, die den Gepflogenheiten der Zeit entsprechend, die Ohnmacht der Frau zeigt. Das Gespräch zwischen den Eltern von Effi zeigt aber noch mehr: Ihr Vater sieht die Zwangslage der Frau als gegeben an und ihre Mutter leidet unter dieser genauso wie Effi. Effis Tragik wird durch das Rollenverhalten der Eltern noch verstärkt.

Effi und Instetten kehren von ihrer Reise zurück in eine zweigeteilte Welt mit festen Strukturen: Noch in der Kutsche nach Kessin erklärt Instetten die Unterschiede zwischen Stadt und Land, in denen sich das künftige Leben Effis abspielen sollte. Über die Kessiner sagt er:

Daß sie wirklich gut sind, will ich nicht gerade behaupten, aber sie sind doch anders als die andern; ja sie haben gar keine Ähnlichkeit mit der Landbevölkerung hier.“

Und wie kommt das?“

Weil es eben ganz andere Menschen sind, ihrer Abstammung nach und ihren Beziehungen nach. Was du hier landeinwärts findest, das sind sogenannte Kaschuben, von denen du vielleicht gehört hast, slawische Leute, die hier schon tausend Jahre sitzen und wahrscheinlich noch viel länger. (S. 42)

In der Stadt hingegen wohnen viele auch von fern Eingewanderte, die Handel treiben.

Die ganze Stadt besteht aus solchen Fremden, aus Menschen, deren Eltern oder Großeltern noch ganz woanders saßen.“

Höchst merkwürdig. Bitte sag mir mehr davon. Aber nicht wieder was Gruseliges. Ein Chinese, finde ich, hat immer etwas Gruseliges.“

Ja, das hat er,“ lachte Geert. „Aber der Rest ist, Gott sei Dank, von ganz anderer Art, lauter manierliche Leute, vielleicht ein bißchen zu sehr Kaufmann, ein bißchen zu sehr auf ihren Vorteil bedacht und mit Wechseln von zweifelhaftem Wert immer bei der Hand. Ja, man muss sich vorsehen mit ihnen.“ (S. 43f.)

Von Stadt und kaschubischen Landbewohnern grenzt sich die Adelsgesellschaft ab, auch nochmals zweigeteilt in Land- und Stadtadel. Fontane lässt keinen Zweifel daran, dass sich der Landadel als der eigentlich richtige versteht. Die gesellschaftliche Einteilung ist starr, Veränderungen sind nicht vorgesehen, geschweige denn möglich. Es steht nicht in der Macht des Einzelnen, die gesellschaftlichen Grenzen zu überschreiten. Fontane zeichnet ein sehr genaues Bild, vor welchem gesellschaftlichen Hintergrund sich die Tragödie um Effi abspielt. Machtstellung und Selbstwertgefühl sind fest an Stand, Titel und auch Größe des Grundbesitzes gebunden. Man ist stolz auf Familientraditionen, man denkt in Kategorien von „oben“ und „unten“ und man weiß: Zwischenmenschliche Beziehungen gründen nicht auf Neigung, sondern sind durch Notwendigkeit und Nützlichkeit geprägt.

Daran hängt doch am Ende Leben und Sterben“ (S. 65), so Instetten.

Die Szenen am Anfang des Romans legen die Umgangs- und Verkehrsfrage (S. 64) fest, die klarstellt, unter welchem Erwartungsdruck die Figuren stehen. Rollentypisches Verhalten, ständeadäquate Karrieren und Ehen, das alles ist bereits mit Geburt festgelegt und ein Ausscheren aus diesen Schienen ist gesellschaftlich unmöglich. Individuelle Freiheit gibt es nicht. Die Moral orientiert sich im spätbismarckschen Preußen an Pflicht und Ehre.

Effi kommt in der Welt Instettens an. Sein Haus ist ihr zu dunkel, sie will es umgestalten und sprüht nur so vor Ideen. Instetten hört ihr wohlwollend zu, spricht aber am Ende den Satz:

Es wird aber wohl am besten sein, wir lassen es beim alten.“ (S. 56)

In den kommenden Wochen lernt Effi bei Ausfahrten mit Instetten die Umgebung kennen und merkt schnell, dass ein Leben auf sie wartet, vor dem sie sich fürchtet. Instettens Frage:

Wirst du dich einleben?“ (S. 65) impliziert nicht sein Interesse daran, dass sich Effi wohlfühlt. Nein hier ist der nachfolgende Text eindeutig:

Wirst du populär werden und mir die Majorität sichern, wenn ich in den Reichstag will? Oder bist du für Einsiedlertum, für Abschluß von der Kessiner Menschheit, so Stadt wie Land?“ (S. 65)

Instetten hat hier klare Erwartungen. Effi muss spuren. Sie soll eine Rolle spielen, die ihren Mann weiterbringt. Heute würde man sagen, sie wird für die Karriere des Mannes instrumentalisiert, damals war das etwas, worauf man stolz war.

Ist das ein Thema von gestern, das unsere Gesellschaft gottlob überwunden hat? Beliebe nicht. Wir haben heute keinen Bismarck und auch keinen Kaiser Wilhelm mehr und wollen wirklich nicht zurück in diese Zeit. Wir haben andere Ordnungs- und Wertgefüge und es gibt die standeshomogene Ehe nur noch vereinzelt in westlichen Gesellschaften. Wir haben uns vom Duell verabschiedet, wenn es darum geht, Ehre zu verteidigen. Aber wenn es um die Karriere geht, sind Menschen nach wie vor bereit, sich zu verbiegen und Verträge zu unterschreiben, hinter denen sie im Grunde nicht stehen. Die Gesellschaft hat weiter einen Erwartungsdruck, er ist nicht minder grausam als damals, aber er hat andere Formen. Wie sähe die Effi von heute aus? Was würde sie tun, wenn sie bemerkt, dass sich das nicht erfüllen wird, was sie erwartet hat, dass sie nicht im siebten Himmel, sondern in einem goldenen Käfig gelandet ist? Gibt es heute nach wie vor Frauen, die ihr Leben nach der Karriere des Mannes ausrichten?

Wer Effi Briest heute, fern von jeglichem Schulzwang liest, entdeckt darin brandaktuelle Gesellschaftskritik. Nicht ohne Grund gibt es immer wieder Neuverfilmungen und Versuche, den Roman mit heutigem Blick in Szene zu setzen. In unserer globalisierten Welt gibt es weiter Ehrenmorde und auch nach wie vor die Problematik, dass die Konvention zum Druck für Menschen werden kann.

Die Geschichte von Effi erscheint zwischen 1894 bis 1895 in sechs Folgen in der Deutschen Rundschau und wird 1896 als Roman veröffentlicht. Fontane erzählt im für ihn typischen Stil: auktorial. Ein scheinbar allwissender Erzähler ist am Werk, der mit klar aufgebauten, teils sehr langen Sätzen exakt und atmosphärisch dicht beschreibt, kommentiert und auch wertet. Man hat den Eindruck, jedes Detail ist wichtig und ja, das ist auch so. Gleich zu Beginn wird der Garten des Briestschen Hauses beschrieben, der alles bietet, was das Herz begehrt, aber umrahmt ist von dicken Mauern, die wie ein Gefängnis wirken. Und dieses Bild ist geradezu Sinnbild für Effis Leben, in dem die Mauern um sie im übertragenen Sinn immer höher werden. Aber es wird nicht nur erzählt. Dieser große Gesellschaftsroman besteht weitgehend aus Dialogen, die den auktorialen Erzähler zurücktreten lassen und das Geschehen freigeben für eine personale Erzählhaltung aus der Sicht seiner Hauptfigur Effi. Plaudernd geht es zu wie in allen Romanen Fontanes, plaudernd beschreibt er eine Katastrophe, die sich heute mit anderen Vorzeichen noch genauso abspielen könnte, allein dass heute die Medien beteiligt wären und weiteres Öl ins Feuer gießen würden.

Theodor Fontane (1819-1898) beginnt im Alter von 20 Jahren zu schreiben und stirbt mit 80 Jahren. Das heißt, er hat 60 Jahre geschrieben. An seinem Werk kann man den kulturellen Epochenwandel von der Romantik zum Naturalismus verfolgen. Neben seiner schriftstellerischen Arbeit ist er Auslandskorrespondent, Zeitungsredakteur, Kriegsberichterstatter, Theaterkritiker und von Hause aus Apotheker. Seine sozialkritischen Romane der späten Schaffensperiode gelten als Gipfel seines Werkes. Fontane hat hugenottische Vorfahren und ist sich seiner nicht-deutschen Herkunft sehr bewusst. Daher kommt sehr filigran seine Distanz zum Preußentum zum Ausdruck. Er durchwandert die Mark Brandenburg und schreibt darüber vier Bücher, die bis heute lesenswert sind und darüber hinaus DIE Quelle für seine Romane darstellen, die allesamt in der Mark Brandenburg spielen. Theodor Fontane gehört zu den deutschen Schriftstellern, deren posthumer Ruhm ständig wächst.

Theodor Fontane: Effi Briest, (Hera Verlag) Berlin und Hamburg 1949