Immanuel Kant: Was ist Aufklärung?

Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung. (S. 9)

So beginnt Kants berühmter Aufsatz zur Frage: Was ist Aufklärung? in der Dezember-Nummer der Berlinischen Monatsschrift von 1784. Vorausgegangen war eine Veröffentlichung des Berliner Pfarrers Johann Friedrich Zöllner im gleichen Blatt ein Jahr zuvor, in dem er die kirchliche Ehe gegenüber der Zivilehe verteidigt und gegen die Verwirrung vorgeht, die

unter dem Namen der Aufklärung in den Köpfen und Herzen der Menschen angerichtet werde. (…) Was ist Aufklärung? Diese Frage, die beinahe so wichtig ist, als: Was ist Wahrheit, sollte doch wohl beantwortet werden, ehe man aufzuklären anfinge! (S. 3)

Diese Frage, gestellt von einem relativ unbekannten protestantischen Pfarrer über das Eherecht wird zu einer folgenschweren Frage, deren Beantwortung immer wieder neu versucht wird. Moses Mendelssohn, Philosoph und Wegbereiter der jüdischen Aufklärung, der Haskala, greift Zöllners Frage in der Septemberausgabe 1784 der Berlinischen Monatsschrift auf und schreibt dazu einen Aufsatz. Es ist nicht sicher, ob Kant diesen Aufsatz kannte. Kants Antwort auf die Frage ist jedenfalls klar und gut verständlich: Der Mensch soll frei, d. h. mündig werden und Mut haben, selbst zu denken. Klasse! Diese Forderung gilt nach wie vor und ist immer noch nicht so ganz gelungen umgesetzt.

Kant lebt von 1724–1804. Zu seiner Zeit ist seine Antwort auf die Frage eine absolute Provokation. Es herrscht Feudalismus, Deutschland besteht aus über 300 Fürstentümern, daneben gibt es freie Reichsstädte und in Preußen regiert Friedrich II., der zwar französische Aufklärer an seine Tafelrunde holt, gleichzeitig aber auch verheerende Kriege führt. Wie sollte sich ein Leibeigener in dieser Zeit aus seiner Unmündigkeit befreien, von der Kant sagt, sie sei selbstverschuldet?

Kant weiß, dass er nicht in einer aufgeklärten Zeit lebt, aber er fordert, dass das Leben in ein Zeitalter der Aufklärung übergehe. Aufklärerische Gedanken entwickeln sich nicht in der Masse der Bevölkerung, sie sind vorerst einem kleineren Kreis der Gesellschaft vorbehalten. Gerade Berliner Salons, geführt von intelligenten Frauen, sind Hotspots aufklärerischen Gedankenguts.

Kant nennt Gründe, warum die Aufklärung nur schleppend in Gang kommt:

Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung freigesprochen hat, dennoch gern zeitlebens unmündig bleiben; und warum es anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist bequem, unmündig zu sein. (S. 9)

Mit anderen Worten heißt das: Es ist leichter, seine Ohnmacht zu leben als sich selbst zu führen. Da ist ja was dran. Selber denken macht Mühe. Es ist bequemer, darauf zu vertrauen, dass andere das schon machen werden. Kant ist hier aber rigoros. Er bezeichnet eine solche Haltung als faul und feige und zeichnet auch die Konsequenzen auf: Anderen wird es leicht gemacht, sich zu Vormündern zu ernennen.

Wir können uns durchaus einen wütenden Kant an seinem Schreibtisch vorstellen, der durchaus polemisch und mit Galgenhumor seine Zeit beschreibt:

Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt u.s.w., so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen. Daß der bei weitem größte Teil der Menschen (darunter das ganze schöne Geschlecht) den Schritt zur Mündigkeit außer dem, daß er beschwerlich ist, auch für sehr gefährlich halte: dafür sorgen schon jene Vormünder, die die Oberaufsicht über sie gütigst auf sich genommen haben. Nachdem sie ihr Hausvieh zuerst dumm gemacht haben und sorgfältig verhüteten, dass diese ruhigen Geschöpfe ja keinen Schritt außer dem Gängelwagen, darin sie eingesperreten, wagen durften, so zeigen sie ihnen nachher die Gefahr., die ihnen drohet, wenn sie es versuchen, allein zu gehen. Nun ist diese Gefahr zwar eben so groß nicht, denn sie würden durch einigemal Fallen wohl endlich gehen lernen; allein ein Beispiel von der Art macht doch schüchtern und schreckt gemeiniglich von allen ferneren Versuchen ab. (S. 9f.)

Kant geht hart ins Gericht mit seinen Zeitgenossen. Wer sagt: „Hier sieh, in dem Buch steht es schwarz auf weiß!“, wer sagt: „Hier sieh, das hat der Seelsorger gesagt!“, wer sagt: „Hier sieh, das hat der Arzt diagnostiziert!“, der gibt allzu leicht Verantwortung ab. Kant weist sehr deutlich darauf hin, dass die Ursache für das leichtfertige Abgeben von Verantwortung in den Einschüchterungen derer liegt, die lenken wollen. Ob sie dann aber so lenken, dass es für mich gut ist, das steht auf einem anderen Blatt. Die Drohungen gehören zum System: „Wenn ihr nicht das tut, was ich will, dann seid ihr in Gefahr!“ Wer will das schon gern sein? Also ist es vielleicht doch besser, sich unter den Schutz dessen zu stellen, der es doch eigentlich gut mit allen meint …

Kant ist davon überzeugt, dass nur ein Prozess des Erkennens eine Änderung der Haltung herbeiführen wird. Man kann dem Menschen nicht sagen: „Sapere Aude! Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ und dann darauf hoffen, dass er das gleich in die Tat umsetzt. Das Sapere aude, das ist mit eine der am schwersten umzusetzenden Forderungen der Aufklärung. Eigenständig denken heißt: In Frage stellen, hinterfragen, nachfragen, vielleicht auch mehrfach, zweifeln, Gegenvorstellungen entwickeln, neue Wege suchen, das heißt, sich seiner Ohnmacht und seines Nicht-Wissens bewusst werden und daran arbeiten, dass sich das ändert, das heißt, sich auf den Weg der Emanzipation zu begeben. Emanzipation ist damit verbunden, dass Fesseln gelöst werden, durchaus aber neue entstehen können. Kant weiß um die Dauer dieses Entwicklungsprozesses.

Durch eine Revolution wird vielleicht wohl ein Abfall von persönlichem Despotism und gewinnsüchtiger oder herrschsüchtiger Bedrückung, aber niemals wahre Reform der Denkungsart zustande kommen; sondern neue Vorurteile werden, ebenso als die alten, zum Leitbande des gedankenlosen großen Haufens werden. (S. 10f.)

Kant erlebt einige Jahre nach Abfassen dieser Schrift die Französische Revolution und ihr Scheitern. Würde er heute aus seiner Gruft auferstehen, hätte er sehr viele Beispiele für gescheiterte Revolutionen zu beklagen. Hätte man Kant in all diesen Jahren ordentlich gelesen und verstanden, wäre vielleicht die Bedeutung des Wortes Reform stärker ins Bewusstsein gekommen. Man wird nicht mal eben durch eine Revolution mündig.

Ich hatte eine sehr engagierte Professorin für lateinamerikanische Literatur, Frauke Gewecke. Sie brachte uns, allesamt interessiert an den Umwälzungen der lateinamerikanischen Befreiungsbewegungen in den achtziger Jahren, gnadenlos bei: „Leute, worin mündet normalerweise der Befreiungskampf, der mit viel Herzblut und absolut reinem Gewissen geführt wird? Normalerweise mündet er in einen Zustand, der noch schlimmer ist als der vorherige.“ Wir hatten heftige Diskussionen und lernten bei lateinamerikanischen Autoren viel über Politik und Gesellschaft.

Gut, Kant will einen Prozess der Wandlung. Aber was genau fordert er? Er fordert etwas ein, was zum Kern unseres demokratischen Verständnisses gehört und in vielen Bereichen unserer Zeit immer noch nicht umgesetzt ist: Er fordert ein, den Wert der Freiheit zu erkennen.

Zu dieser Aufklärung aber wird nichts erfordert als Freiheit: und zwar die unschädlichste unter allem, was nur Freiheit heißen mag, nämlich die: von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen. (S. 11)

Der öffentliche Gebrauch der Vernunft solle jederzeit frei sein. Das heißt, Pressefreiheit, Religionsfreiheit, Meinungsfreiheit. Darin liegt ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis der Aufklärung. Freies Denken, jenseits aller Moden, jenseits des Mainstreams, das einzufordern und öffentlich davon Gebrauch zu machen, das sind zentrale Überzeugungen Kants. Manchmal würde ich gerne Kant in die Talkshows von heute beamen, vielleicht würde er heute sagen: „Wer sein Hirn an ein Parteibuch abgibt, hat die Aufklärung nicht verstanden.“

Die Macht der Vernunft, das war es, woran die Aufklärer mit Inbrunst geglaubt haben. Und damals wie heute gehört zur Vernunft eine gesunde Portion Skepsis gegenüber allen Autoritäten. Die Aufklärer waren optimistisch in ihrer Einschätzung, dass es möglich ist, Menschen zum mündigen Selbstdenken zu bringen. Sie hofften, dass es nur eine Frage der Zeit sein würde, dass Unvernunft und Unwissen verschwunden sein würden, da sie ein sehr positives Bild vom Menschen hatten. Der Mensch ist fähig zum Fortschritt, er kann sich wandeln.

Die optimistische Stimmung weicht aber im Laufe der Jahre. Der Prozess, der so fulminant begonnen hatte, verläuft wohl auch aus dem Grund nur schleppend, weil der Mensch nun einmal kein reines Vernunftswesen ist. Und heute? Welchen Stellenwert hat die Vernunft heute?

Zugegeben, heute haben wir eine andere Zeit, welche Macht hat die Vernunft heute? Sie ist mitunter auch angesichts der Explosion unterschiedlicher Einstellungen und sich widersprechenden Wissens zu einer Überforderung des Menschen geworden und zeigt klar, wo die Grenzen der Aufklärung sind. Grenzen von Aufklärung sehen wir in der aktuellen Situation überall. Wir haben täglich umfassenden Zugang zu einer Vielzahl von Erklärungsmodellen und Handlungsstrategien bezüglich der Pandemie. Sie überfordern nicht nur die Menschen, die Entscheidungen treffen müssen, auch der Einzelne kann unmöglich allesamt im Blick haben und fühlt sich ohnmächtig. Was sind vernünftige Entscheidungen? Wie ist der Flut von Urteilen zu begegnen, die sich aus Bauchgefühl, Aberglauben, Vorurteilen oder schlicht Fehlinformationen nähren? Die Grundlagen für Mündigkeit, die in der Aufklärung entstanden, sind weiterhin gültig: Vernunftbasierte Entscheidungen sind nach wie vor das Beste, was uns zur Verfügung steht. Nur dadurch können Aberglaube und Fanatismus, Schwärmerei und Vorurteile entlarvt werden.

Immanuel Kant hat sein ganzes Leben in Königsberg verbracht. Er hätte Professuren in Erlangen und Jena haben können, lehnt diese aber ab. 1770 im Alter von 46 Jahren wird er zum ordentlichen Professor der Logik und Metaphysik an der Königsberger Universität ernannt. Er ist ständig im Konflikt mit preußischen Zensurbehörden, die seine Lehren als nicht vereinbar mit der Bibel und geltenden Herrschaftsverhältnissen sehen, korrespondiert mit Schiller, kennt die Schriften Lessings, Voltaires, Rousseaus und aller anderen aufklärerischen Philosophen seiner Zeit. Sein Einfluss auf die Philosophie und Geistesgeschichte ist gewaltig. Heute gilt er als der am meisten rezipierte deutsche Philosoph.

Immanuel Kant: Was ist Aufklärung? In: Was ist Aufklärung? Thesen und Definitionen, hrsg. Ehrhard Bähr, Stuttgart, (Reclam Verlag) 1974, S. 9–17

Das Zitat von Johann Friedrich Zöllner entstammt ebenfalls aus der Bährschen Zusammenstellung.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert