Advent im Hochgebirge, Teil 1

Wenn ein Fest bevorsteht, machen sich die Menschen dazu bereit, jeder auf seine Weise.

Ein Satz, der sofort zum Innehalten auffordert. Der uns mitten in die Geschichte stellt und uns darauf vorbereitet, dass sich da einer aufmacht zu einem Fest. Der Titel lässt keinen Zweifel daran, um welches Fest es sich handelt: Weihnachten, ein christliches Fest, zumindest war es das vorrangig zu Zeiten, in denen Gunnarsson schrieb. Er kannte keine Season’s Greetings. Der Satz birgt auch noch ein Geheimnis: … jeder nach seiner Weise. Da ist so eine wunderbare Offenheit drin, da ist keine Enge zu spüren, keine Wertung.

Gunnarsson nennt seinen Protagonisten Benedikt, der Name ist Programm. Benedikt, der „bene dicere“ der gut spricht, der eine Wohltat begeht. Zur Vorbereitung des Festes gehört es zu Benedikts Leben, dass er Jahr für Jahr dem gleichen Ritus folgt: Er geht im Advent ins Gebirge, um die Tiere zu retten, die beim Einsammeln im Herbst nicht aufgefunden worden sind. Das ist nun wirklich eine bärig schwere Arbeit und eine gefährliche noch dazu. Denn zu der Jahreszeit ist es im Hochgebirge einsam und das Wetter kann jeden Tag dazu führen, dass etwas passiert, was den Rückweg versperrt. Und trotzdem liegt in diesem Bild noch etwas anderes. Benedikt macht sich auf, das zu suchen, was verloren gegangen ist. Ich füge an: In seinem Leben? Er will das aufsammeln, was ihm wichtig ist. Ja, er will es retten.

Sie (Anmerkung U.M.: die Schafe) sollten nicht dort drinnen erfrieren oder verhungern, nur weil niemand sich die Mühe gab oder es wagte, sie zu suchen und heimzubringen. Auch sie waren lebendige Geschöpfe. Und er fühlte gleichsam eine Art Verantwortung für sie.

Ich halte beim Lesen inne. Für Benedikt sind die Tiere dort drinnen. D. h. in der Natur. Und der Mensch steht hier außerhalb. Eine ungewöhnliche, nachdenklich machende Betrachtung. Das Wort Verantwortung sticht heraus. Benedikt fühlt sich verantwortlich für die Tiere, die im Hochgebirge herumirren und denen der sichere Tod droht. Aber ist es nicht verantwortungslos, sich selbst in Gefahr zu bringen, um ein Schaf zu retten? Darüber macht sich Benedikt offensichtlich keine Gedanken. Wir wissen nichts von ihm, weder wie alt er ist noch wo er lebt, was sein Beruf ist, ob er Familie hat. Wir wissen nur:

Sein Ziel war also ganz einfach, sie aufzufinden und unversehrt unter Dach und Fach zu bringen, ehe das große Fest seine Weihe über die Erde und Frieden und Wohlgefallen in die Herzen der Menschen senkte, die ihr Möglichstes getan haben.

Ich weiß nichts darüber, ob Gunnarsson Christ war. Das spielt hier aber auch keine Rolle. Er nutzt das biblische Vokabular, benennt Weihe, Frieden und Wohlgefallen, diese Worte werden übertragen, treten aus dem rein christlichen Kontext heraus. Da ist auch von den Herzen der Menschen die Rede und zwar von denen, die ihr Möglichstes getan haben. Was heißt das? Wann kann ich sagen, dass ich mein Möglichstes getan habe? Wieder höre ich mit dem Lesen auf.

Benedikt geht ohne einen anderen Menschen in die Einsamkeit der Berge. Seine Begleiter sind ein Hund und ein Leithammel: Leo und Knorz. Vom Hund heißt es, er sei ein wahrer Papst. Ich muss schmunzeln. Wie stelle ich mir denn einen päpstlichen Hund vor? Die Geschichte der Päpste, auf die wir zurückblicken, ist ambivalent. Da kommen mir Worte wie Macht, Unfehlbarkeit, Pomp in den Sinn. Aber auch Verantwortungsbewusstsein, Güte und Demut. Ich bin mit Hunden groß geworden. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, einen von ihnen mit einem Papst zu vergleichen. Das Bild bleibt für mich verschwommen. Aber ich kann viel damit anfangen, dass die drei Weggenossen unzertrennlich werden, dass sie einander so vertraut sind, dass allein dies ihnen die Sicherheit gibt: Der eine passt auf den anderen auf, jeder hat dabei die Aufgabe, die er am besten erfüllen kann. Und dann schreibt Gunnarsson den bedeutsamen Satz:

Sie kannten einander mit jener tiefgründigen Bekanntschaft, die vielleicht nur zwischen einander fernstehenden Tierarten möglich ist, wo kein Schatten des eigenen Ichs, des eigenen Blutes, eigener Wünsche und Begierden verwirrend oder verdunkelnd dazwischen tritt.

Mir gefällt das Bild des Schattens des eigenen Ichs, die dunkle Stelle, die ich durch meine Person zurücklasse. Wann geschieht das? Diese Frage kann ich auf einen Spaziergang mitnehmen. Vielleicht finde ich Antwort. Hier jedenfalls fällt weder ein Schatten des eigenen Ichs, des eigenen Bluts oder eigener Wünsche. Die drei bilden eine paritätische Gemeinschaft, eine Gemeinschaft, die nur überlebt, wenn sie danach lebt, dass jeder auf den anderen aufpasst.

Meine Gedanken schweifen ab. Das Gedicht von Bert Brecht kommt mir wieder in den Sinn, das mein Mann und ich zu unserer Hochzeit auf der Einladungskarte stehen hatten:

Der, den ich liebe
hat mir gesagt,
dass er mich braucht.

Darum gebe ich auf mich Acht
sehe auf meinen Weg und
fürchte von jedem Regentropfen,
dass er mich erschlagen könnte.

Benedikt kannte das Gedicht nicht, aber er hätte der Aussage zugestimmt.

Gunnarsson fügt noch einen Vierten im Bunde ein: das Pferd Faxe, das aber im Stall bleibt, denn es hat offensichtlich nicht die Konstitution dafür, den beschwerlichen Weg mit zu gehen. Auch hier scheint das Bewusstsein für Verantwortung durch. Die drei trennen sich bewusst von einem, der zu ihnen gehört und den sie vermissen. Und sie werden bei all ihrem Tun auch daran denken, dass Faxe auf sie wartet und sie sehr, sehr aufpassen müssen, dass ihnen nichts zustößt.

Die drei machen sich auf, jeder nach seiner Art. Es ist kalt, die Schneedecke ist dünn. Sie gehen langsam und nehmen sich Zeit für einen Gruß an den Höfen, die am Weg liegen, halten sich dort aber nicht lange auf. Sie kennen ihr Ziel und wissen: Wir dürfen nirgends hängenbleiben, sonst erreichen wir dieses Ziel nicht. Man versorgt sie, gibt ihnen einige Schluck Mich zu trinken. Dann kommt immer wieder dieselbe besorgte Frage nach dem Wetter, meist mit Blick zum Himmel. Jedem ist klar: Was Benedikt, Leo und Knorz machen, das ist gefährlich. Man vermeidet den direkten Blick, man versucht es mit einem Scherz, der Köter werde schon den Weg finden … Benedikt reagiert klar und überzeugt:

Das können wir alle drei.

Er lässt sich nicht beirren. Er weiß, dass die Suche nur erfolgreich ist in der Gemeinschaft und er weiß auch, dass Angst oder Abschieben von Verantwortung da keinen Platz haben. Er deutet an, dass Zeit genug da sei, dass Leo das Leckerli, das ihm der Bauer gegeben hat, in Ruhe verspeisen könne und gleichzeitig erfahren wir Leser, dass dieser Benedikt keine Zeit gehabt hat, in die Kirche zu gehen. Diese fehlte ihm heute, am ersten Advent. Es gibt einen klaren Grund: Er will zu vernünftiger Stunde ankommen. Er plant mit Bedacht ein, dass die vor ihm liegenden Etappen Kraft kosten und er daher jede Stunde des Tages bewusst nutzen muss. Für die Kirche bleibt da keine Zeit. Wofür steht hier die Kirche?, frage ich mich. Benedikt macht mir nicht den Eindruck, dass er mit Kirche nichts am Hut habe, aber jetzt, für seine Mission braucht er sie nicht.

Am ersten Advent ist diese Wanderung durch das Bauernland bis an den Rand der Heide sein Kirchgang.

Mir gefällt der Gedanke ungemein, dass dieser Benedikt den Raum der Kirche erweitert. Er kennt seinen Text: Matthäi 21 hat er gelesen und er nimmt das Glockenläuten, das Rasenkirchlein und die Auslegung des Pastors in seine Gedanken auf. Für mich heißt das, er ist ihnen nah, auch wenn er anderswo ist. Jeder, der Island kennt, hat hier vielleicht eine der vielen Kirchen vor Augen, auf deren Dach Gras wächst und richtet den inneren Blick auf die meist naheliegenden Berge in der Umgebung. Benedikt geht seiner eigenen Predigt nach und findet zu seinem eigenen Gebet, wenn er die Krater in der Schneewüste um sich betrachtet. Ja, er lässt sogar die Kratermünder sprechen. Er stellt eine rhetorische Frage nach der anderen und lässt mich dadurch in einen Dialog mit mir. Die Natur um ihn ist ein großer Gottesdienst, Benedikt spürt eine Weihe über diesem Sonntag, eine herzbeklemmende Weihe. Oh nein, was ein schockierendes Bild! Warum beklemmend? Wahrscheinlich der unermesslichen unschuldsweißen Feierlichkeit geschuldet, dem stillen Ruhetagsrausch, der unfassbaren, unglaublich verheißungsvollen Stille. Gunnarsson arbeitet hier mit ungewöhnlichen Wortschöpfungen, mit starken Bildern. Benedikt nimmt wahr, detailgenau und diese Wahrnehmung spiegelt das, was für ihn diese Zeit bedeutet, die in dem großen stillen, erstaunlich fremden und doch zugleich so vertrauten Wort Advent zusammenkommt. Mir gefällt diese Beschreibung ungemein.

Im Laufe der Jahre war ihm dieses Wort fast zum Inhalt seines ganzen Lebens geworden.

Advent als Lebensinhalt. Mir wurde beigebracht, dass Advent Anfang heißt. Wenn ich richtig aufgepasst habe, heißt das doch eigentlich, dass ich jedes Jahr wieder neu anfange. Es heißt auch, dass da auch ein Ziel ist. Benedikt geht nicht „just for fun“ in die Berge. Er hat ein Ziel. Und das wird nicht vom Schatten seines Ichs bestimmt.

Schon jetzt, nach wenigen Seiten, macht er mir den Eindruck, dass ich ihn näher kennen lernen will, diesen Benedikt. Ihn und seine Begleiter. Ich freue mich auf diese Adventswanderung mit ihm.

Ein Gedanke zu „Advent im Hochgebirge, Teil 1“

  1. Mir gefällt der offene Horizont, die Übertragbarkeit in alle Bereiche unseres Lebens. Das “Schaf” spielt an vielen Stellen der Bibel eine große Rolle – besonders treffend für diesen Text ist das Beispiel von den 100 Schafen: ein Mensch zieht aus, um das Eine, Verlorene zu suchen (Matth.18,10-14).
    Advent heißt auch: Ankunft – Erwartung über das “eigene Ich” hinaus, auch das Unerwartete, die Überraschung.
    Benedikt trägt die Offenheit und die Quellen dazu in sich.

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