Advent im Hochgebirge, Teil 7

Hier draußen in Nacht und Einsamkeit und Mondlicht kam ihm wieder eine Ahnung von Feiertag, von Advent, ein Nachhall von Tönen in der Luft, von Glockenklang, von Erinnerungen an Sonne und Heuduft, von Hoffnung auf ein Sommerland. Oder nicht? Am Ende war es nur eine besondere Art von innerer Stille.

Wieder ist es Nacht, wieder ist da Einsamkeit und Stille und diese Stimmung ist es, die Benedikt an Feiertag, Advent, Glockenklang, Sonne, Heuduft und Sommerland denken lässt. Hinter jedem Begriff stehen klare Assoziationen, positive Bilder, absolut nicht vereinbar mit der rauen Umgebung, die ihn im Moment umgibt. Äußerliche Stille dringt in sein Inneres und erzeugt diese Bilder. Die Tiere um ihn, sein Leo und sein Knorz, tun ihr Übriges. Es ist eine angespannte Stille:

Denn jetzt schlug die Stunde.

Sie brechen auf, noch ist es Nacht, windstill, sie gehen ins Ungewisse.

Doch schön ist’s mit den Sternen zu wandern und gleich ihnen in Bewegung zu sein.

Die drei gehen ihren Weg, ohne Hektik, wohlbedacht, angstfrei, obwohl rundum schwarzblankes nächtliches Eis ist. Die Wanderung wird zu einem Gedicht: sie wurde im Blut zu einem Gedicht. Also im Schmerz? Und wie ein Gedicht wird sie auswendig gelernt, das heißt dann auch vertraut. Was ich auswendig kenne, das ist mir vertraut, das habe ich vielfach bereits erfahren, von dem kann ich vielleicht auch sagen: Das brauche ich. Es ist ein Ritual. Die Psychologie heute weiß um die Wichtigkeit von Ritualen für Menschen. Sie geben Orientierung, sie sind Leitplanken, ohne sie wird Wesentliches nicht sichtbar. Und ja, sie bringen Ruhe.

Endlich kam tiefe Ruhe in Benedikt.

Diese Ruhe kommt mitten in der äußersten Anspannung, mitten im anstrengenden Weg in ihn. Gunnarsson gewährt uns einen tiefen Einblick in seinen Benedikt. Er findet ein starkes Bild für dessen Gemütszustand:

Ihm war wie einem Mann zumute, der am Ertrinken war und plötzlich den Kopf aus dem Wasser streckt und gerettet ist.

Diese Anstrengung, den Kopf über das Wasser zu bringen, führt zum Überleben. Auch diese Metapher lässt sich spielend vervielfachen: Wann sind Menschen am Ertrinken? Sicher nicht nur, wenn sie von Wasser umgeben sind, sondern wenn alles einfach zu viel wird, wenn eigentlich noch nicht einmal die Kraft da ist, den Kopf über Wasser zu halten. Aber ein winziger Moment scheint auszureichen, um den Schalter umzulegen. Benedikt bemerkt, dass ihm die Luft wie Quellwasser entgegenströmt. Hier hätten sicher viele Deutschlehrer einen dicken Bezugsfehler markiert, Luft, die wie Quellwasser strömt! Aber Dichter dürfen so poesievoll schreiben und Leser dürfen diese Poesie auch verstehen. Wie schön! Benedikt erkennt: Dies war sein Leben! Und diese Erkenntnis bringt ihn zum Einssein mit sich, er hadert nicht, er vergeudet keine Kraft, er erkennt: So und wahrscheinlich nur so ist mein Leben. Alle kräfteraubenden Gedanken sind weg. Er heißt dieses absolut heftige und schwere Leben willkommen. Sorgen sind verschwunden, vielleicht bleibt eine: Wer wohl seinen Part übernehmen wird, die Tiere zu retten? Aber auch hier ist er zuversichtlich: Irgendjemand wird wohl kommen. Und diesem Irgendjemand wünscht er solche Begleiter, wie er sie hat: Leo und Knorz, die Tiere, für die er die Verantwortung trägt.

Benedikt kennt sein Ziel. Es ist unverkennbar, dass das eine wesentliche Aussage von Gunnarsson ist, wahrlich kein Vertreter von: Der Weg ist das Ziel. Nein! Sein Protagonist hat ein klares Ziel vor Augen und um dies zu erreichen, ist ein Weg erforderlich. Dieser Weg ist nicht beliebig, er hat eine klare Ausrichtung, auch wenn er oft genug unwegsam ist. Benedikt geht nicht ziellos drauflos, er weiß, wohin er will.

Und es wird Tag und mit dem Anbruch des Tages schwindet die Stille der Nacht. Winde beginnen ihr teuflisches Spiel, lassen Konturen verblassen, schneegraues Land und schneegrauer Himmel werden eins. Ein neuer Schneesturm braust den dreien um die Ohren. Gerade vom Ertrinken gerettet, kommen sie jetzt nicht in säuselnde laue Lüftchen, sondern in einen mörderischen Sturm. Das ist kein guter Weg, gerade jetzt, wo die Kraft ohnehin schon mehr als angegriffen ist. Atmen ist kaum noch möglich, so heftig werden die drei gebeutelt. Benedikt hofft, sein Loch zu finden, das er Hütte nennt und das er bereits vor siebenundzwanzig Jahren gebaut hat. Aber in dieser menschenfressenden Gebirgswüste ist Orientierung nicht mehr möglich.

Leben und Tod liegen hier auf den Schalen der Waage – wohin sinkt die Schale?

Die Balance ist schwer zu halten, alles droht zu kippen. Mut ist der einzige Helfer. Man macht weiter. So einfach ist es.

Benedikts Tastsinn hilft ihm. Er findet einen Stein, den er kennt. Dieser signalisiert ihm: Du bist schon über dein heutiges Ziel hinaus gegangen. Er muss nun zurück, läuft im Zickzack, spielt dabei ein gefährliches Spiel, da Orientierung kaum möglich ist. Und dann – war es Zufall? – findet er sein Loch, seine Hütte. Mit eindringlichen Bildern beschreibt Gunnarsson hier einen Menschen, der allein auf sich gestellt, aber mit Verantwortung für seine Tiere weitermuss, auch wenn die Kraft zu Ende geht. Benedikt ist nicht auf der Flucht, aber die Bilder sind die, von denen auch Menschen erzählen, die den langen Marsch über das zugefrorene Haff im Zweiten Weltkrieg nach Westen hinter sich gebracht haben. In solch existentiellen Situationen gibt es keine Alternativen. Die einzige Möglichkeit ist weitergehen, in Bewegung bleiben, nicht aufgeben. Gunnarsson wechselt jetzt, am Loch angekommen, die Perspektive. Nicht mehr Benedikt, sondern seine Schaufel übernimmt die Regie.

Jetzt begann die Schaufel ihre Arbeit.

Sie wird personifiziert, sie muss jetzt die Arbeit leisten. Und sie gehorcht. Der Mensch braucht solche Werkzeuge zum Überleben. Die drei betreten das schützende Loch und wieder geht das Ritual los: Erst werden die Tiere versorgt, dann der Mensch. Sie teilen ihr Essen und auch wenn das Brot gefroren ist und zwischen den Zähnen knirscht, so scheinen sie zufrieden.

Den Mann mochte er sehen, dachte Benedikt, der es herrlicher auf seinem Schloss hatte und sicherer in den Bedrängnissen des Lebens, dazu noch mit der Aussicht, in den nächsten Tagen ein paar Schafe vom Hungertode zu erretten und seiner Gemeinde wie der Allgemeinheit und Allschöpfung nützlich zu sein. „Denn merk dir das, Leo, selbst der Papst in Rom hat es nicht besser und feiner als du und ich, oder ein reineres Gewissen.“

Den Papst werden keine Sorgen plagen, ob er die nächsten Tage noch satt wird. Wohl aber Benedikt. Nun geht auch noch das Licht im Loch aus. Finsternis. Keine natürliche Finsternis breitet sich aus, sondern eine bedrohliche. Das Atemloch fehlt. Auch wenn Benedikt kaum klare Gedanken fassen kann, er stößt geradezu instinktiv die Tür auf und sorgt im Loch für Frischluftzufuhr. Mitten in der Nacht nach einem bleischweren Schlaf brechen er und Leo auf. Der Tag ist zwar windstill, aber sie finden kein lebendes Schaf, nur noch Kadaver. Benedikt ist ausgezehrt, er hadert mit Gott und der Welt, er zweifelt und er gibt sich seiner Erschöpfung hin. Aber von Aufgeben ist bei ihm keine Spur. Am nächsten Tag ändert sich die Lage, dieses Mal sind alle drei auf der Suche. Und ihre Hartnäckigkeit wird belohnt.

Das Glück, das ihn gestern bei klarem Himmel im Stich gelassen hatte, kehrte wieder und begegnete ihm hier mitten im Schneetreiben.

Sie finden fünf Schafe, welch ein Erfolg. Aber damit ist nicht genug getan. Die Schafe sind untereinander uneins und nur schwer zusammenzuhalten. Das kostet ihn alle Kräfte.

Das Bild ist beeindruckend gewählt. Hier wird eine riesige Anstrengung beschrieben, eine Suche nach verlorenen Schafen, die letztlich belohnt wird. Sie werden gefunden. Aber statt sich zu fügen, driften sie auseinander und drohen die ganze Mühe zunichte zu machen. Auch hier kann leicht die Sinnfrage gestellt werden. Wozu der ganze Aufwand, wenn offensichtlich die, für die er betrieben wird, so undankbar und wenig kooperativ sind?

Die Schafe können nicht ahnen, was ihnen sonst gedroht hätte. Sie wissen gar nicht, dass sie gerettet worden sind und dass Knorz nur bei ihnen bleibt, um sie zu schützen. Der Leithammel erweist sich bei der Suche und dem Heimholen als klug und weitsichtig. Benedikt und seine wachsende Tierfamilie verbringen die folgende Nacht nicht im Loch, sondern in der Hütte. Sie hoffen, dort den Postboten zu treffen, der Nachrichten von Benedikt nach Hause übermitteln kann. Benedikt weiß sehr wohl, dass sich Menschen um ihn sorgen und will ihnen ein Lebenszeichen zukommen lassen. Vom Feld, von feindlicher, gefährlicher Umgebung aus. Wie nah ist der Text jetzt an unserer derzeitigen Situation, wenn wir nach Osten blicken.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert