Gunnar Gunnarsson: Advent im Hochgebirge

Man muss ihn nicht kennen, diesen Gunnar Gunnarsson. Aber wenn man einmal anfängt, ihn zu lesen, besteht Suchtgefahr.

Er beginnt 1910 zu schreiben. Königssohn. Eine alte Geschichte aus Norwegen ist sein erstes Buch, aber nicht das erste, das er veröffentlicht. Er debütiert mit Die Leute auf Borg, ein mehrteiliger Roman, der ihn gleich berühmt macht. Und dann schreibt er ein Buch nach dem anderen, meist auf Dänisch. Erst spät, 1940, publiziert er sein erstes Werk in seiner Muttersprache Isländisch. Die Gesamtausgabe seines Werkes beträgt acht dicke Wälzer. Schwarze Vögel, erschienen 1929, giltbis heute als Islands Krimi Nr. 1. Schnell erscheinen deutsche Übersetzungen seiner Bücher: Advent im Hochgebirge ist hierzulande sein bekanntestes Werk.

Wer ist dieser Gunnar Gunnarsson? Warum kennen wir ihn nicht oder kaum?

Geboren wurde er 1889 in Fljótsdalur als Sohn von Bauern unweit vom Hengifoss, einem der höchsten Wasserfälle Islands. Er wächst in ärmlichen Verhältnissen auf. Als er neun Jahre ist, stirbt seine Mutter, mit achtzehn Jahren geht er nach Jütland in Dänemark, lernt in der dortigen Volkshochschule Dänisch und heiratet 1912 Franzisca Jörgensen.

Er will Dichter werden. Ein Mann, ein Wunsch, ein Ziel. Daher lernt er Dänisch in extrem hoher Geschwindigkeit und sehr erfolgreich. Er will nicht nur das isländische Publikum erreichen.

1938 ziehen die Gunnarssons zurück in den Nordosten Islands, später lassen sie sich in Reykjavík nieder. Hier beginnt er, seine Werke ins Isländische zu übertragen. Den Nobelpreis, für den er insgesamt achtmal vorgeschlagen wurde, hat er nie bekommen. Aber er gilt als einer der wichtigsten Autoren Islands. Gunnar Gunnarsson stirbt 1975 im Alter von 86 Jahren.

Jón Kalman Stefánsson, einer der wichtigsten zeitgenössischen Schriftsteller Islands schreibt in seinem Nachwort zum Advent im Hochgebirge:

In der Literatur jedes Volkes existieren Werke, die wir ihre Gipfel, Höhepunkte oder Markensteine nennen könnten, und sie sind den Leuten so bekannt, dass man sie gar nicht mehr eigens erwähnen muss. (S. 86)

Der Advent im Hochgebirge gehört nach Stefánsson eindeutig dazu. Er verweist darauf, dass heutige isländische Leser Gunnarsson dreifach lesen können: Zum einen im Original in Dänisch, sofern sie der Sprache mächtig sind, dann in der Übersetzung von Halldór Laxness oder aber in der isländischen Ausgabe, die Gunnarsson als alter Mann selbst anfertigte. Drei Werkausgaben, keine ganz einfache Entscheidung.

Egal wie, Gunnarsson lebt in zwei Welten, der Dänemarks und der Islands. Aber Schauplatz seiner Literatur ist ausschließlich die Stille Islands. Dort befindet sich seine innere Heimat.

Der Advent im Hochgebirge führt Leserinnen und Leser mit Benedikt, seinem Hund Leo und dem Hammel Knorz zusammen. Sie werden im Laufe des Lesens zu Freunden. Allein in den USA wurden binnen kurzem 250,000 Exemplare verkauft und immer wieder wird die Vermutung geäußert, Hemingways habe sich seinen Anstoß zu Der alte Mann und das Meer von Gunnarsson geholt.

Gunnarsson geht oft von einer wahren Begebenheit aus, so auch hier. Um diesen Kern herum baut er eine wunderbare Geschichte auf. Stefánsson schreibt in seinem ausführlichen Nachwort einen bemerkenswerten Satz, der mir aus dem Herzen spricht:

Es bereitet natürlich Vergnügen, die Vorgeschichte eines Buches in Erfahrung zu bringen, die Vorbilder für seine Figuren kennenzulernen, das Ereignis, das die dichterische Einbildung derart inspirierte, dass eine eigene Welt neben der wirklichen entstand, all das ist Wissen, das Spaß macht und erfreut, und doch ist es nur nebensächlich, Tand, Beiwerk, denn worauf es ankommt, das ist die Welt im Buch, das Literarische, und nur darauf sollte man ein Buch lesen, damit steht oder fällt es, und mit nichts anderem. (S. 94)

„Ja, ja, ja“, rufe ich ihm zu. Weg mit den Kommentaren, rein ins eigene Erleben. Das ist viel schöner und auch viel ergiebiger. In diesem Sinne starten wir. Mal sehen, wohin uns dieses Experiment bringt.

Gunnar Gunnarsson: Advent im Hochgebirge, übersetzt von Helmut de Boor, Stuttgart (Reclam) 2020

Johann Peter Hebel: Seltsamer Spazierritt

Ein Mann reitet auf einem Esel nach Haus und lässt seinen Buben zu Fuß nebenher laufen. Kommt ein Wanderer und sagt: „Das ist nicht recht, Vater, dass Ihr reitet und lasst Euren Sohn laufen. Ihr habt stärkere Glieder. Da stieg der Vater vom Esel herab und ließ den Sohn reiten. Kommt wieder ein Wandersmann und sagt: „Das ist nicht recht, Bursche, dass Du reitest und lässest Deinen Vater zu Fuß gehen. Du hast jüngere Beine.“ Da saßen beide auf und ritten eine Strecke. Kommt ein dritter Wandersmann und sagt: „Was ist das für ein Unverstand: Zwei Kerle auf einem schwachen Tiere; sollte man nicht einen Stock nehmen und Euch beide hinabjagen?“ Da stiegen beide ab und gingen selbdritt zu Fuß, rechts und links der Vater und Sohn, und in der Mitte der Esel. Kommt ein vierter Wandersmann und sagt: „Ihr seid drei kuriose Gesellen. Ist’s nicht genug, wenn zwei zu Fuß gehen? Geht’s nicht leichter, wenn einer von Euch reitet?“ Da band der Vater dem Esel die vorderen Beine zusammen, und der Sohn band ihm die hinteren Beine zusammen, zogen einen starken Baumpfahl durch, der an der Straße stand, und trugen den Esel auf der Achsel heim.

Hier ist ein beklagenswerter Mann beschrieben, der es allen recht machen will. Offensichtlich kennt er das altbewährte Sprichwort nicht, das da heißt: „Allen Menschen recht getan, ist eine Kunst, die niemand kann.“ Der Mann ist mit seinem Sohn unterwegs, wie alt letzterer ist, wissen wir nicht. Sie haben einen Esel dabei, ein Tier, das seit alters genutzt wird, um Lasten zu tragen. Hebel schildert uns humorvoll vier unterschiedliche Situationen, eine paradoxer als die anderes. Man kann die Geschichte geradezu als Parabel auf unsere Coronapolitik lesen. Versuchen wir eine Übertragung:

1. Hier herrscht Hackordnung nach dem Motto: Der Vater spricht: „Ich habe das Sagen und du, mein Sohn, hast gefälligst zu gehorchen.“ DerSohn weiß nicht, ob die väterlichen Entscheidungen sinnvoll sind, es vertraut darauf und ist folgsam. Versteht erdie Maßnahme des Vaters? Wohl kaum. Wir sehen nur: Er macht das, was der Vater sagt.

2. Hier herrscht die Umkehrung des ersten Bildes: Der Sohn reitet und der Vater geht nebenher. Von außen betrachtet ist dieses Bild schräg. Weil eine Stimme kritisch hinterfragt, was der Vater denn mache, verändert dieser flugs sein Verhalten. Auch hier wird nicht nach der Sinnhaftigkeit des Tuns gefragt. Eine Maßnahme wird rigoros ins Gegenteil verändert. Punkt.

3. Das Experiment geht weiter. Beide reiten. Der Esel muss doppelte Last tragen. Hier braucht es noch nicht einmal einen schrägen Menschenverstand, um zu schlussfolgern: Das ist absurd. Diese Absurdität gibt es leider aber nicht nur in der Literatur. Ist das Naivität? Ist das kalte Kalkulation? Hebel schweigt. Aber bei Hebel kommt ein Wanderer daher, und dessen Einwand führt prompt erneut zur Änderung des Kurses.

4. Der Esel wird getragen. Ein völlig irrsinniges Bild. Hier hat die Idiotie der Handlung den Höhepunkt erreicht. Das Lasttier wird getragen. Dieses Bild ist von allen vieren der Gipfel der Groteske und regt deshalb zum Nachdenken an.

Die Geschichte lädt einerseits zum Schmunzeln ein. Zu komisch die Vorstellung, dass der Esel dauernd anders beladen und letztlich getragen wird. Andererseits ist der bittere Unterton nicht zu übersehen. Was ist der tiefere Sinn der Geschichte? Die Kritik der Wanderer richtet sich ja primär gegen das Verhalten des Vaters. Er ist ihr Ansprechpartner, nicht der Sohn. Und was macht der Vater? Er lenkt immer und auch prompt ein. Es kommt kein Einwand. Er bleibt stumm und nimmt die jeweilige Frage stets zum Anlass, sein Verhalten schnell zu ändern. Nirgendwo ist angemerkt, dass ihm die Sicht des anderen eigentlich nicht richtig erscheint oder dass sie ihn ärgert oder zum Widerspruch anregt. Nein, er entscheidet so rasch um, dass ein zwischenzeitliches Nachdenken schwer vorstellbar ist. Wo ist hier der denkende Mensch? Wo ist das Kant’sche „Sapere Aude! Habe Mut, Dich Deines eigenen Verstandes zu bedienen!“, das zu Hebels Zeit so intensiv kursiert. Hebel scheint es geradezu verzweifelt zu suchen und trägt in dieser Geschichte so dick auf, dass der Eindruck entstehen muss: So blöd kann doch kein Mensch sein! Hier wird massiv kritisiert, dass eben nicht nachgedacht wird. Es wird gestochert. Das Ergebnis ist entsprechend.

Hebel nutzt in dieser Geschichte das Stilmittel der Steigerung. Wenn der Mensch nicht weiß, was zu tun ist, kann es zu den abstrusesten Wendungen kommen. Er greift nach allem, was ihm begegnet, anders ausgedrückt: Er richtet sein Fähnchen nach dem Wind. Er wählt nicht die Konfrontation, sondern lieber den Weg des geringsten Widerstandes, auch wenn er selbst dabei weit mehr auf sich nehmen muss, als eigentlich sinnvoll ist. Letztlich lädt er sich so viel auf, dass anzunehmen ist, dass das nicht lange gut gehen kann. Friedrich Nietzsche hat einen wunderbaren Text einige Jahre nach Hebel geschrieben, der in die gleiche Richtung geht: Die drei Verwandlungen. In ihnen beschreibt er den Menschen als Kamel, auf das immer noch mehr geladen werden kann. Der Mensch, der sich verbiegen lässt, der aushält, der im Grunde genommen weit mehr als menschlich Mögliches durchsteht. All das ist in dem grotesken Bild des Esels erhalten, der von Menschen getragen wird. Die Geschichte ist eine Anti-Anpassungsgeschichte. Hier tritt Hebel nicht auktorial auf, nein, er wählt das sehr moderne Mittel des Dialogs. Hebel will keine angepassten Menschen, er will Menschen, die überlegen.

Die Coronasituation, die seit Jahren andauert, hat alle diese Stationen durchaus gespiegelt: Folgsames Einhalten dessen, was der Staat sagt, auch wenn eine Maßnahme von jetzt auf gleich verändert wird. Die dritte und vierte Variante von Hebel haben derzeit ihre geradezu traurige Entsprechung: Wieso ausgerechnet jetzt die Verpflichtung zum Tragen einer Maske entfällt, leuchtet schwer ein. Und da hier keine kausale Begründung vorliegt, ist zu erwarten, dass es eventuell noch weitere, noch gesteigerte Absurditäten geben könnte. Wir werden sehen.

Die Geschichte liefert eine große Fülle an Interpretationsmöglichkeiten. Belassen wir es bei den hier angedachten. Möge sie Früchte tragen, in viele Gespräche münden, aktualisiert, mit neuen Inhalten gefüllt werden. In unsere Welt passen vielleicht nicht mehr die Bilder des Esels und der Wanderer, aber diese sind nur Platzhalter.

Johann Peter Hebel hat unzählige solcher Kalendergeschichten geschrieben. Kalendergeschichten gab es schon lange vor Hebel: Sie dienen als Belehrung für das Volk und erzählen Lebensweisheiten, geben Ratschläge, vermitteln Rezepte und vieles andere. Hebel erweitert diese Kalendergeschichten zur epischen Kunstform, die bis heute ­ zum Beispiel von Botho Strauß ­ bedient wird. Zu Hebels Zeiten kommt es regelrecht zu einem Boom der Geschichten dieser Gattung, die zwar einerseits volksnah, andererseits aber auch stilistisch oft sehr gekonnt aufgebaut sind. Allen gemein ist die Pointe am Schluss, die Leserinnen und Leser mitunter dazu bringt, das Ganze nochmals von vorn zu lesen, im Glauben, man habe irgendwo einen wichtigen Hinweis für die Interpretation übersehen. Alle Geschichten Hebels zeichnen sich dadurch aus, dass sie eine reiche Fülle von Menschenkenntnis spiegeln, in keiner Geschichte gibt es große psychologische Erklärungen. Hebel beschreibt. Hebel wertet nicht. Und Hebel lässt sehr oft das Ende offen. Damit ist er für seine Zeit ein ungemein moderner Dichter. Nicht grundlos wird er als der Vorläufer der Kurzgeschichte gesehen.

Johann Friedrich Hebel veröffentlicht sein Schätzkästlein des rheinischen Hausfreundes 1811 bei Cotta. Fast alle Geschichten sind in den Jahren zuvor bereits in unterschiedlichen Kalendern und Zeitschriften erschienen. Heute gibt es Schmuckausgaben. Die Geschichten gehören zum Kulturgut und auch kritische Denker wie Ernst Bloch, einer der philosophischen Köpfe der Studentenrevolution der sechziger Jahre, zitiert das „Unverhoffte Wiedersehen“ aus dem Schatzkästlein als die schönste Geschichte der Welt. Hebel begeistert noch heute. Kein Schwulst, keine Einfalt, kein Besserwissen, nein, er findet einen Erzählton, der zeitlos ist, der heute noch anspricht. Die Konzentration auf Wesentliches, das schnelle Umschlagen vom Alltäglichen ins Groteske, die nie endende Hoffnung trotz schlechter Vorzeichen, all das macht Hebel zum Dauerbrenner, der nicht unmodern wird.

Johann Peter Hebel, 1760 in Basel geboren, 1826 in Schwetzingen gestorben, ist früh verwaist. Gönner ermöglichen dem gescheiten Jungen eine gute Schulausbildung. Er studiert Theologie, aber sein Wunsch, eine eigene Pfarrei führen zu können, wird nicht erfüllt. Er spielt bei der Vereinigung der lutherischen mit der reformierten Landeskirche Badens zur Evangelischen Landeskirche Badens 1821 eine wesentliche Rolle und erhält daher von der Universität Heidelberg den Ehrendoktortitel in Theologie. 1826, schwer erkrankt an Darmkrebs, nimmt er trotzdem in Heidelberg und Mannheim Schulprüfungen ab und verstirbt bei Freunden in Schwetzingen. Auf dem dortigen Friedhof ist er auch beerdigt.

Die Liste seiner Bewunderer ist lang. Immer wieder wird die Bodenständigkeit seines Werkes betont. Marcel Reich-Ranicki nimmt Hebels Schatzkästlein in den „Kanon der deutschen Literatur“ auf, das Buch gehört auch zur „ZEIT-Bibliothek der 100 Bücher“. Bis heute gilt es als Fundgrube vieler Autorinnen und Autoren, von denen hier zwei genannt werden sollen: Patrick Roth und W. G. Sebald.

Johann Peter Hebel: Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes, Stuttgart (Reclam) 1981, S. 116f.

Katharina Johanna Ferner: Wie Anatolij Petrowitsch Moskau den Rücken kehrte und beinahe eine Revolution auslöste

An diesem Tag stürmte und schneite es unerbittlich und das Eis am Asphalt war so dick, dass man mit Schlittschuhen zur Arbeit laufen hätte können, aber Anatolij Petrowitsch hatte keine Zeit für solche Späßchen. Er musste dringend der Verlobung seiner Tochter beiwohnen ­ oder noch besser: diese verhindern. Dummerweise hatte seine Tochter von seiner Abgeneigtheit gegenüber ihrem Zukünftigen bereits Wind bekommen und Anatolija deswegen zur Verlobung vorsorglich gar nicht erst eingeladen. Aber nach ein paar Flaschen Jelzin (Anmerkung: Name eines Wodkas) redeten auch Elisawetas beste Freunde gerne und außerdem wurde Anatolij Petrowitsch von den meisten Studienanfängern als Respektperson gesehen, nachdem ihm Putin bei der letzten Schneeräumaktion persönlich die Hand geschüttelt hatte. Er war sogar im Fernsehen gewesen.

Russland brauche mehr Männer wie Tolja“, verkündete der ewige Präsident mit dröhnender Stimme, „tapfere Gehilfen, die Wind und Wetter trotzen würden und dem Volk etwas Gutes täten, also dem russischen. Die anderen können ihren eigenen Dreck zusammenkehren“, lachte Putin, wobei er den letzten Satz natürlich nicht laut sagte, sondern erst später, als er Anatolij zum Abschied noch kurz die Schulter tätschelte. (S. 9)

Der tätschelnde Putin kommt nur einmal in Katharina Ferners Debüt von 2015 vor. Aber wir lernen einen Protagonisten kennen, der unzählige Male im heutigen Russland vertreten ist. Anatolij Petrowitsch, politisch zwar nicht mit der Linie des Landes einverstanden, aber auch nicht bereit, dieser entgegenzutreten, familiär alles andere als auf der Sonnenseite des Lebens unterwegs und auch hier nicht bereit, die Gründe dafür zu suchen. Schon die Eingangsszene zeigt, mit wem wir es zu tun haben: Anatolij Petrowitsch ist ein Mensch, der vom eigentlichen Geschehen nichts mitkriegt, wenn überhaupt, dann zu spät kommt und sich immer wieder in Situationen verfangen sieht, die er nicht versteht, der aber auch nichts dafür tut, diese aufzuklären. Ein tragischer Held, der aber eines weiß: Er will möglichst ungeschoren und ohne Schwierigkeiten sein Leben leben, und dies so gut wie möglich. Dabei zieht er viel zu oft den Kürzeren, wird zum Spielball und gibt alles ab, verliert seine Autonomie. Ja, Anatolij macht sich – und das ist das Tragische ­ leider selbst zur Witzfigur. Katharina Ferner zeichnet seine Ambivalenz fein, subtil und humorvoll. Dass ihn seine Frau mit einem deutschen Diplomaten noch zu Sowjetzeiten verlassen hat, das ist für ihn Geschichte. Dass aber jetzt die Tochter in eine für ihn unangemessene Beziehung schlittert, das will er verhindern, aber er hat dabei keinen Erfolg. Anatolij meint, die Fäden in der Hand zu halten, er glaubt an seine Autorität, sein Ansehen, sein Können usw. Aber im Grunde hat er zu wenig Traute, will auch gar nicht alles verstehen, zögert allzu oft, hat Angst vor dem Machtapparat und ist dadurch ein paradigmatischer Mitläufertyp, einer, der froh ist, wenn es nicht schlimmer kommt, als es schon ist, und einer, der sich nicht vorstellen kann, dass es einmal ganz schlimm kommen kann. Hierin liegt die größte Kritik des Buches. Die Anatolijs dieser Welt sind Legion.

Anatolij gewinnt zwei Tickets für die Eröffnungsfeier der olympischen Spiele in Sotschi, obwohl er genau weiß, dass er an keiner Lotterie teilgenommen hat. Freude darüber kommt nicht auf, woher diese Tickets stammen, bleibt ungeklärt und er hinterfragt das auch nicht. Er will sie nicht verfallen lassen. Daher nimmt er Michail mit, einen seiner Arbeitskollegen. Anatolij ist durchaus entsetzt, als er das Hotelzimmer sieht, das ihn dazu verdammt, mit dem Arbeitskollegen ein gemeinsames Bett zu teilen. Die ganze Situation ist grotesk: Er ist an einem Ort, an den er nicht will, mit einem Menschen, der ihm nur kollegial nahesteht, und er weiß nicht genau, was das Ganze soll. Seine durchaus erbärmliche Lage wird auf dem Bild über dem Bett gespiegelt:

Über dem Bett in einem schweren Holzrahmen hing ein Porträt des lächelnden Staatsoberhauptes, der mit nacktem Oberkörper vor einem Bären posierte. Anatolij fragte sich, ob der Bär tatsächlich echt war und wie es kam, dass er den Mann vor ihm nicht einfach gefressen hatte. Sein Kollege schüttelte angewidert den Kopf und wollte das Bild entfernen. Es war jedoch nicht möglich, das Bild auch nur irgendwie zu bewegen, weswegen die beiden sich entschlossen, es mit einem Handtuch zu verhängen, von denen im Hotel mehr als genug vorhanden waren. (S. 18f.)

Anatolij arrangiert sich mit allem, was wohl nicht zu verändern ist. Und wenn er Putins Bild schon nicht abhängen kann, dann kann er es wenigstens verhüllen. Diese Haltung ist Programm: Anatolij würde nie weitergehen, als mit Hilfe eines Handtuchs Dinge aus seinem Blickfeld zu entfernen. Zu radikalen Änderungen ist er nicht fähig. Er fühlt sich nicht wohl in seiner Haut, zieht trotzdem den braunen Samtanzug aus Zeiten der Sowjetunion an und wird von seinem Kollegen deswegen ausgelacht. Michail ergreift die Initiative:

Er pickte ein paar bunte Hemden und eine schwarze glänzende Hose aus dem Stapel, reichte sie Anatolij und schob ihn mit den Worten: „Husch, husch, ab in die Umkleide!“ ins Badezimmer. Anatolij Petrowitsch fühlte sich zwar höchst unwohl, traute sich aber nicht zu widersprechen. (S. 20)

Diese Haltung ist Programm. Er erträgt ohne Widerspruch einen Zustand, der ihm zuwider ist. Letztlich trägt er eine viel zu enge Hose, die ihn zwar mehr als beengt, dem anderen aber gefällt.

Immer wieder führt Katharina Ferner ihren Helden in solch absurde Situationen. Sie werden zunehmend tragischer. Anatolij wacht am anderen Tag im Hotel nackt neben seinem Arbeitskollegen im Hotelbett auf, ohne zu wissen, wie es dazu gekommen und was vielleicht passiert ist. Er schämt sich für diese Erinnerungslücke und will bloß noch nach Hause. Um seinen Kopf frei zu bekommen, fährt er für zwei Wochen auf die Krim, ein Urlaub, getarnt als Dienstreise. Kaum dort angekommen, wird er von russischen Soldaten aufgefordert, in seinem Zimmer zu bleiben, bis die Aufregung vorbei wäre.

Welche Aufregung?“

Anatolij verstand die Welt nicht mehr. Dass er doch nur hier sitzen wolle und die Sonne genießen. Die Soldaten schüttelten den Kopf. (S. 32)

Von der Annexion kriegt er nichts mit oder will nichts mitkriegen. Natürlich versucht er sich zu informieren, aber im Hotel gibt es ausschließlich russische Fernsehsender, sein Lieblingssender ist nicht dabei.

Anatolij Petrowitsch bedauerte das, war es doch der einzige Sender gewesen, auf dem man ab und zu etwas Neues erfuhr. Jetzt blieb ihm allerdings nichts anderes übrig, als den russischen Staatssender einzuschalten, wo der Präsident eine feurige Rede hielt. Anatolij gähnte und versuchte herauszufinden, was diesmal verbrochen worden war. Er hatte natürlich von den Demonstrationen gehört, hatte der ganzen Situation aber nur wenig Bedeutung zugemessen. (S. 32)

Kein Staunen, kein Sich-Wundern, kein Hinterfragen, keine Reflexion. Anatolij will nicht länger in seinem Zimmer stillsitzen, er will raus, er will etwas erleben. Voller Tatendrang betritt er den Aufzug, dieser bringt ihn gemächlich Etage um Etage tiefer ­ und hält plötzlich abrupt an. Nichts bewegt sich mehr. Auch hier wiederum eine absurde Situation. Aufgrund von Unruhen gäbe es technische Probleme, ertönt es aus dem Lautsprecher, die ukrainische Nationalhymne bricht ab und dann folgt in Dauerschleife die russische. Anatolij wartet und wartet. Irgendwann setzt sich der Aufzug wieder in Bewegung. Kein Mensch in der Lobby, niemand im Restaurant. Und auch hier kein Sich-Wundern, kein Suchen nach Antworten. Anatolij geht zurück auf sein Zimmer und liest: Der Tag des Opritschniks. Katharina Ferner verzichtet darauf, ihre Leser darüber zu informieren, dass dies ein Buch von Vladimir Sorokin ist, einem, wenn nicht dem schärfsten Kritiker der politischen Eliten Russlands. Aber auch diese Lektüre heißt nichts; denn Anatolij schaut von seinem Fenster aus auf die aufgebrachte Menschenmenge auf der Straße und begreift wiederum nichts:

Anatolij Petrowitsch war positiv überrascht von dem Auflauf. Er hatte zwar keine Ahnung, was dieser vor seinem unscheinbaren Hotel zu suchen hatte, freute sich aber, dass endlich etwas passierte und beschloss, sich umgehend ebenfalls in die Menge zu stürzen, um herauszufinden, was es mit dem Wirbel auf sich hatte. (S. 37)

Die Ereignisse nehmen ihren Lauf.

Was geschieht hier? Katharina Ferner schreibt keine Science Fiction. Die Annexion der Krim hatte vor der Niederschrift ihres Buches stattgefunden. Nein. Sie erzählt distanziert Episoden aus dem Leben Anatolij Petrowitsch und verdeutlicht mit leisem Unterton, wie rasch ein Mensch, der sich tunlichst unpolitisch verhält, in gefährliches Fahrwasser kommt, insbesondere in einem Regime, bei dem es auf eine weitere Leiche nicht ankommt. Nicht grundlos erscheint der Verweis am Anfang des Buches:

An die russische Regierung:

Diese Geschichten sind frei erfunden

und ausschließlich zum literarischen Genuß gedacht.

Im Vortext zitiert sie eine Passage aus Bulgakovs Meister und Margarita. Allein dieser Prätext ist die beste Interpretation ihres Romans. Bulgakovs Literatur ist alles andere als nur literarischer Genuss, Bulgakov nutzt sein literarisches Können für beißende politische Kritik.

Aus der Sicht der einfachen Menschen à la Anatolij entwickelt Katharina Ferner die groteske Komik der gesamten politischen Situation. Was von außen gut sichtbar ist, was scheinbar allen anderen offensichtlich erscheint, ist diesem Anatolij nicht greifbar. Er lebt sein Leben, als habe er gar nicht verstanden, was um ihn herum geschieht. Und ja, da ist viel schwarzer Humor im Spiel, denn die Ereignisse des Jahres 2022 führen die Konsequenzen des Handelns von Anatolij in erschreckender Weise vor Augen. Der Roman zeigt uns noch viele Facetten von Anatolij. Manchmal bleibt einem dabei das Lachen im Hals stecken, gerade dann, wenn die Maskerade allzu dick aufgetragen ist. Was ist eigentlich nötig, damit diesem Menschen endlich die Augen aufgehen? Der Anblick von gefolterten Kollegen, ja auch geliebten Menschen, scheint nicht für ein Umdenken auszureichen.

Katharina Ferner ist ein zukunftsträchtiges Buch gelungen, Alice Haring hat dazu ein treffendes Cover gestaltet: Ein Harlekin mit einem Sowjetstern auf dem Kopf, allerdings ist dieser blau. Katharina Ferner schreibt das Buch in einer Zeit, in der sie selbst Slawistik in Wien studiert. Sie, 1991 in Salzburg geboren, hat schon als Schülerin bei den Rauriser Literaturtagen die Lust zum eigenen Schreiben entdeckt und ist inzwischen eine der jungen Stimmen Österreichs, die kreativ neue Wege suchen. 2021 liest sie einen ihrer Texte beim Bachmann-Wettbewerb vor. Sie lebt als freie Schriftstellerin in Salzburg, schreibt Prosa, Gedichte und Kolumnen.

Katharina Johanna Ferner: Wie Anatolij Petrowitsch Moskau den Rücken kehrte und beinahe eine Revolution auslöste, Wien (wortreich) 2015

Ephraim Kishon. Philharmonisches Hustenkonzert

Zu den begehrtesten Statussymbolen in Israel gehört ein Abonnement für die Konzerte des Philharmonischen Orchesters.

Sein Besitz gilt als Ehrensache für jeden, der in der Lage ist, seiner Frau ein Kleid zu kaufen, oder der selbst Kleider verkauft oder sich in der Export-Import-Branche betätigt oder irgendeine andere Legitimation vorweisen kann, zum Beispiel eine Erkältung.

So beginnt Kishons Hustenkonzert, geschrieben 1967. Prägnant wird beschrieben, wie der Erzähler an eines der begehrten Abonnements des Philharmonischen Orchesters gekommen ist. Begleiten wir ihn in seine Gedankenwelt während eines Konzertes:

Der dritte Abend des Konzertzyklus begann wie üblich. Die Mitglieder des Orchesters stimmten ihre Instrumente (ich frage mich immer wieder, warum sie das nicht zu Hause machen), und der Dirigent wurde mit warmem Beifall empfangen. Er konnte ihn brauchen, denn draußen war es kalt. Unvermittelt hatte der Winterfrost eingesetzt und einen jähen Temperatursturz bewirkt. Tschaikowskis »Pathétique« klang denn auch am Beginn ein wenig starr. Erst als die Streicher gegen Ende des ersten Satzes das Hauptmotiv wiederholten, kam Schwung in die Sache: Ein in der Mitte der dritten Reihe sitzender Textilindustrieller hustete. Es war ein scharfer Sforzato-Husten, gemildert durch ein gefühlvolles Tremolo, mit dem der Vortragende nicht nur seine perfekte Kehlkopftechnik bewies, sondern auch seine flexible Musikalität.

Von jetzt an steuerte der Abend immer neuen Höhepunkten zu. Die katarrhalischen Parkettreihen in der Mitte und ein Schnupfensextett auf dem Balkon, spürbar von der aufwühlenden Hustenkadenz inspiriert, fielen mit einer jubelnden Presto-Passage ein, deren Fülle – eine Ensemblewirkung von natürlichem, wenn auch etwas nasalem Timbre – nichts zu wünschen übrigließ. In dieser Episode machte besonders die auf einem Eckplatz sitzende Inhaberin eines führenden Frisiersalons auf sich aufmerksam, die ihr trompetenähnliches Instrument virtuos zu behandeln wusste und mit Hilfe ihres Taschentuchs reizvolle »Con sordino«-Wirkungen erzielte. Obwohl sie manchmal etwas blechern intonierte, verdiente die Präzision, mit der sie das Thema aufnahm, höchste Bewunderung. Ihr Gatte steuerte durch diskretes Räuspern ein kontrapunktisches Element bei, das sich dem Klangbild aufs glücklichste einfügte.

Ein gemischtes Duo, das neben uns saß, beeindruckte uns durch werkkundiges Mitgehen. Beide hielten sich mit beispielhaft konsequentem Husten an die auf ihren Knien liegende Partitur: »tam-tam« moderato sostenuto, »tim-tim« – allegro ma non troppo. Meine Frau und ich waren von den Darbietungen hingerissen und ließen uns auch durch das Orchester nicht stören, dessen disparate Bemühungen in unvorteilhaftem Kontrast zur Harmonie des Tutti-Niesens standen.

Das nächste Programmstück, ein blässlicher Sibelius, wurde durch den polyphonen Einsatz der Zuhörerschaft nachhaltig übertönt. Ich meinerseits wartete, bis das Tongedicht an einer Fermate zum Stillstand kam und die Bläser für die kommenden Strapazen tief Atem holten, erhob mich ein wenig von meinem Sitz und ließ ein sonores, ausdrucksvolles Husten hören, das meine musikalische Individualität voll zur Geltung brachte.

Die Folgen waren elektrisierend. Der Dirigent, respektvolles Erstaunen im Blick, wandte sich um und gab dem Orchester ein Zeichen, meine Darbietung nicht zu unterbrechen. Er zog auch noch einen in der ersten Reihe sitzenden Solisten heran, einen erfolgreichen Grundstücksmakler, der das von mir angeschlagene Motiv in hämmerndem Stakkato weiterführte. Befeuert von den immer schnelleren Tempi, die der Maestro ihm andeutete, steigerte er sich zu einem trillernden Arpeggio, dessen lyrischer Wohlklang gelegentlich von einer kleinen Unreinheit gestört wurde, im ganzen aber eine höchst männliche, ja martialische Färbung aufwies.

Es ist lange her, seit das Mann-Auditorium von einer ähnlich überwältigenden Hustensymphonie erfüllt war. Auch das Orchester konnte nicht umhin, vor der unwiderstehlichen Wucht dieser Leistung zurückzuweichen und das Feld denen zu überlassen, die in der schwierigen Kunst des konzertanten Hustens solche Meisterschaft an den Tag legten. Das sorgfältig ausgewogene Programm gipfelte in einem Crescendo von unvergleichlicher Authentizität und einem machtvollen Unisono, das – frei von falschem Romantizismus und billigen Phrasierungen – alle instrumentalen Feinheiten herausarbeitete und mit höchster Bravour sämtliche Taschentücher, Zellophansäckchen, vor den Mund gehaltenen Shawls und Inhalationsapparate einsetzte.

Ein unvergesslicher Abend, der so recht den Unterschied zwischen einem gewöhnlichen Konzert und einem künstlerischen Ereignis erkennen ließ.

Wer kennt das nicht? Den Hustenanfall des Nachbarn im Konzert, das ständige Räuspern genau dann, wenn es still sein soll. Und wer hat sich darüber nicht schon einmal geärgert? Kishon dreht den Ärger um. Er lässt den Husten Teil des Konzertes werden und ihn in Interaktion mit dem Orchester treten. Und dabei zeichnet er mit fachterminologischer Kompetenz und klar sichtbarer Ironie ein herrliches Bild von der Gesellschaft, die das Konzert besucht. Wer kriegt hier eigentlich kein Fett ab? Alle werden durch den Kakao gezogen und das gleich in mehreren Musikstücken. Die Pointe ist, dass das Hustenkonzert nicht irgendwo stattfindet, sondern ins Mann-Auditorium verlegt wird, dem größten Konzertsaal Tel Avivs, und dass es sich nicht um irgendein Konzert handelt, sondern um den Auftritt des Israel Philharmonic Orchestra. Selbst da, wo eigentlich nur die hinkommen, die es sich leisten können und die sich zu der besseren Gesellschaft zählen, herrscht Disziplinlosigkeit. Wer hustet, sollte wissen, dass er stört und Konzerten und Theatern fernbleiben. Kishon braucht für diese Botschaft nicht den moralischen Zeigefinger, sondern lässt den Husten selbst sprechen.

Auf die Frage, ob es einen israelischen Humor gibt, antwortet Kishon in steter Regelmäßigkeit: Nein, aber ich lebe davon. Wie sieht der Humor von Kishon eigentlich aus?

Zugegeben, ich kannte lange Kishon ausschließlich mit Texten wie dem obigen. Und ja, da braucht man keine weitschweifige Interpretation, der Humor ist deutlich, er ist leicht zugänglich. Eine israelische Freundin fragte mich in den 1990er Jahren, ob ich auch den politischen Kishon kenne, einen, der weit über Pünktlichkeit ist eine Zier, Brillenputzen, Autokauf und andere Texte hinausgehe, einen, der Position beziehe und von dem tunlichst nicht alles ins Deutsche übersetzt werde. Kishon, der Patriot, Kishon, der Israel als das einzige Land der Welt bezeichnet, in dem er kein Jude ist, Kishon, der klare Verfechter der Politik Rabins. Ich sah plötzlich einen anderen Kishon und begann mich zu fragen, was da los ist. Er, den jeder kannte, kam partout nicht ins literarische Quartett, warum eigentlich nicht? Reich-Ranicki hat doch sonst sehr sorgsam Autoren ausgesucht, die den Holocaust überlebt haben. Im Fall von Kishon hält er sich bedeckt: Kishons Werk sei aus literarischen Aspekten nicht zu beurteilen. Was das genau bedeutet, darüber kann viel spekuliert werden. Vielleicht meint Reich-Ranicki, dass er nicht in die (seine) gerade gültige literarische Auffassung passt. Literarische Wertmaßstäbe ändern sich ja bekanntermaßen. Sie sind von vielen außerliterarischen Aspekten abhängig. Zum Beispiel erfährt ein Wilhelm Busch heute eine weit bessere Bewertung als zu seiner Zeit, aber keiner käme wohl auf die Idee, dies mit seiner literarischen Qualität zu begründen.

Ephraim Kishon, als Ferenc Hoffmann 1924 in Budapest geboren, stirbt 2005 in der Schweiz an einem Herzanfall. Seine Eltern sind assimilierte Juden, im Haus Hoffmann wird weder Jiddisch noch hebräisch gesprochen, man ging auf Distanz zu allem, was Galizisch war. Schon früh zeigt sich die philologische Begabung des Sohnes. Er macht ein glänzendes Abitur, darf aufgrund der „Judengesetze“ nicht studieren und absolviert eine Lehre als Goldschmied, bevor ihn die Nazis 1944 in ein Arbeitslager stecken, aus dem er flieht. Er wird jedoch wieder gefangen, überlebt Todesmärsche und übersteht letztlich nur alles, weil er mit seinen Wächtern Schach spielt und genau auslotet, wann es sinnvoll ist, dabei zu verlieren. Der größte Teil seiner Familie wird in dieser Zeit ermordet. Nach dem Krieg studiert er Kunstgeschichte in Budapest und beginnt, Satiren zu schreiben. Schnell kommt er in Ungarn zu Ehren. Sein Künstlername Kishont bedeutet „kleiner Hont“ ein Verweis auf den historischen Verwaltungsdistrikt Hont und gleichzeitig ein Protest gegen das kommunistische Ungarn, in dem es solche Distrikte nicht mehr gab. Er emigriert nach Israel, als der ungarische Erziehungsminister ihm aufträgt, ein Musical »Über die Führungsrolle des industriellen Proletariats“ zu schreiben. Er, der kein Wort Hebräisch spricht und sich auch nicht als Jude fühlt, weiß, dass nur Israel für Juden Sicherheit bedeutet und kommentiert seine Flucht dorthin mit den Worten: „Nur der Kommunismus kann ein solches Wunder vollbringen.“ Ihm ist bewusst, dass er als Jude keine große Wahl hat. Nicht die Sehnsucht, sondern die politische Überzeugung treibt ihn weg. Erst in Israel wird aus Kishont Kishon. Eine Ausreise aus Ungarn ist für Juden verboten, Kishon und seine damalige Frau lassen alles zurück und flüchten über Tschechien auf das völlig überbelegte Schiff Galiläa. Sie leben eine Zeit in einem Durchgangslager nahe Haifa, bevor sie sich in einem Kibbuz nahe Nazareth niederlassen. Dort arbeitet er als Elektriker, Knecht und Latrinenreiniger. Er weiß, dass er Hebräisch sprechen muss, wenn er ankommen will, lernt mit Schnelligkeit und veröffentlicht von 1952 an dreißig Jahre lang tägliche Kolumnen. Seine internationale Karriere beginnt 1959 mit dem Buch: Drehn Sie sich um, Frau Lot. Er gründet ein eigenes Theater, dreht Filme, lässt sich scheiden, heiratet insgesamt dreimal und steigt zu einem der bekanntesten Satiriker auf. Sein Werk wird in 37 Sprachen übersetzt und erreichte bislang eine Auflage von über 43 Millionen Exemplaren. In der Bundesrepublik Deutschland ist er besonders beliebt, was Kishon, selbst Holocaust-Überlebender, als wahre Ironie der Geschichte sieht. Erst posthum setzt eine wissenschaftliche Betrachtung von Kishons Werk ein, und dabei wird deutlich, wie wichtig er für die Wahrnehmung Israels im Nachkriegsdeutschland war. Kishon, der bewusst in Ivrit schreibt, wird in der jungen Bundesrepublik als Symbol israelischer Literatur wahrgenommen, es ist aber kaum bekannt, dass Ivrit nicht seine Muttersprache war. Kishon schreibt nichts über den Holocaust. Erst 1997 im satirischen Roman Mein Kamm setzt er sich explizit mit der Nazizeit auseinander. Die politischen Texte Kishons werden erst einmal kaum übersetzt. Warum? War Kishon nur Kishon, wenn er unterhaltsam war? An diesem Autor könnte man exemplarisch zeigen, dass Verleger, Übersetzer, Literaturkritiker, also der ganze Apparat, durchaus wesentlichen Anteil am Gesamtbild eines Autors haben können. Und allein diese Überlegung lässt viel Raum für kritisches Nachhaken.

Ephraim Kishon: Alle Satiren, übersetzt von Friedrich Torberg, München (Langen-Müller), 2014

Aristophanes: Die Frösche

Athen befindet sich im fünften Jahrhundert vor Christus in voller Blüte. Der Philosoph Sokrates lehrt auf den Straßen, Literatur und Theater florieren, Perikles baut die Akropolis, die Demokratie entfaltet sich mehr und mehr. Aber die Zeiten ändern sich, als Sparta mächtiger wird. Der attische Seebund zerbricht durch die Niederlage im Peloponnesischen Krieg 404 v. Chr. und damit ist der Abstieg Athens besiegelt. Erst ein Jahrhundert später erlebt es dann in der Zeit von Platon und Aristoteles erneut eine glanzvolle Epoche.

Aristophanes lebt in der Blütezeit des fünften Jahrhunderts vor Christus. Er ist Komödiendichter und beteiligt sich immer wieder an den Dionysien, den Festspielen zu Ehren des Gottes Dionysos, dem Gott der Freude, des Rausches und des Weines. Acht Tage werden kultische Riten praktiziert, Höhepunkt ist der Dichterwettstreit. Um die Dionysien zu organisieren, ist jeweils eine mehrmonatige Vorbereitung nötig. Wer am dichterischen Wettstreit teilnehmen würde, wird dabei erst zwei Tage im Vorfeld bekannt gegeben. Athen fiebert und alles, was Rang und Namen hat, ist auf den Beinen. Der Ablauf der Festivitäten ist streng geregelt. Nach einem Festzug am ersten Tag, nach Opferzeremonien und einem Chorwettstreit ist Tag zwei dem Wettstreit der Komödiendichter gewidmet. An den weiteren Tagen messen sich die Tragödiendichter. Einige wenige Sieger dieser Zeit sind heute noch bekannt, einer von ihnen ist Aristophanes.

Bedenkt man, dass diese Festspiele mehrmals im Jahr stattfanden und stellt man sich vor, wie viele unterschiedliche Komödien und Tragödien zur Aufführung kamen, dann wird man schnell still angesichts der schmalen Zahl der heute überlieferten Stücke. Sophokles, Aischylos, Euripides, Aristophanes und noch einige wenige andere sind uns bekannt. Die weitaus größere Zahl von Dichternamen ist untergegangen. Die Gründe zu erörtern ist interessant: z. B. haben sie es nicht aufs Siegertreppchen geschafft und sind daher nicht bekannt geworden oder sie entsprachen nicht dem Zeitgeschmack oder ihre Stücke sind Opfer der vielen Bücherstürme geworden, die über die antike Welt gefegt sind oder … Es gibt multiple Gründe.

Nun aber Die Frösche von Aristophanes. Ein spannendes und durchaus auch sehr aktuelles Thema greift der Dichter in ihnen auf: Zwei berühmte Autoren, Aischylos und Euripides nehmen gegenseitig ihre Werke auseinander. Dionysios verehrt den kürzlich verstorbenen Euripides und reist daher in die Unterwelt, um ein Gespräch zwischen ihm und dem Altmeister Aischylos zu organisieren, in dem es darum gehen soll, wer der Würdigere sei. Das Treffen findet im Haus von Pluton, dem Gott der Totenwelt, statt. Pfiffig ist diese Idee, ein Gespräch zwischen zwei literarischen Koryphäen anzuregen, heute würde man vielleicht aus deutscher Sicht Wolfgang von Goethe auf Thomas Mann treffen lassen.

Aischylos und Euripides schonen sich gegenseitig nicht, sie liefern sich einen regelrechten Wettstreit mit hohem Unterhaltungswert. Was ist der beste Stil? Welche Inhalte dürfen und sollen angesprochen werden? Gibt es eine ästhetische Grenze der Kunst? Aristophanes greift Themen aus dem Leben seiner Zeit auf, berichtet über das, worüber man sich aufregt und worüber man spricht. Er zeigt uns mit den beiden Schriftstellern auf der Bühne zwei Menschen mit ihren Stärken und Schwächen, aber besonders ihre Makel machen sie sympathisch. Derber Humor paart sich mit feinsinniger Parodie.

Schauen wir uns den Beginn des Gespräches an. Die Reise von Dionysos in den Hades und die damit verbundenen Hindernisse nehmen einen guten Teil des Schauspiels ein. Entnervt durch das Geschrei der Frösche im See, der zur Unterwelt führt und deren Unterhaltung er nicht versteht, kommt Dionysos dort an. Er ist gespannt auf das Gespräch zwischen Euripides und Aischylos und ja, er hofft natürlich auch, dass der von ihm so verehrte Autor Euripides als Sieger aus ihm hervorgehen wird. Werden sich diese Dichter verstehen? Haben sie eine gemeinsame Sprache? Wird er, Dionysos, zu einem klaren Urteil kommen? Oder wird er deren Sprache ebenso wenig verstehen wie die der Frösche? Bei Pluton ist es üblich, dass der würdigste Dichter an der Tafel neben ihm Platz nehmen darf. Dort sitzt gerade Aischylos. Nun setzt Euripides alles daran, diesen von diesem Platz zu verdrängen. Wir blicken in die fünfte Szene:

Euripides: Der Ehrensitz ist mein, ich lass’ ihn nicht;
Nicht er, ich bin der Meister der Tragödie!

Dionysos: Was schweigst du, Aischylos? Du hörst ihn doch?

Euripides: Erst tut er feierlich, so wie er stets
In seinen Stücken grandios sich spreizt!

Dionysos zu Euripides:
Hör, Menschenkind, du nimmst den Mund zu voll!

Euripides: Ich kenn’ ihn, ich durchschaut’ ihn längst, den Schöpfer
Der Ungeheuer, den Posaunenmund,
Unbändig reißend ohne Zaum und Zügel,
Aufsprudelnd, wortgebälkverklammerungskundig!

Aischylos: „Ha, Sohn der Göttin vom“ Gemüsemarkt,
Mir das von dir sagen lassen, du Bühnenlumpensammler,
Du Bettelbrutaushecker, Fetzenstückler!
Dein Wort soll dich verderben!

Dionysos: Aischylos,
Hör auf, erhitze dir die Galle nicht!

Aischylos: Nein, nein, entlarven will ich erst den Vater
Der Krüppelhelden, der so frech mir trotzt!

Dionysos zum Gefolge:
Ein Lamm, ihr Sklaven, bringt ein schwarzes Lamm,
Es steigt ein gräßlich Ungewitter auf!

Aischylos zu Euripides:
Du, der du Hurenmonologe schmiedest
Und in der Kunst die Blutschand’ eingeschwärzt!

Dionysos: Halt ein, geehrter Meister Aischylos!
Und du geschlagner Mann, Euripides,
Weich aus dem Hagelwetter, sei gescheit,
Eh’ er mit einem Kernwort dir das Hirn
Zerschlägt, daß dir der Telephos herausspritzt!

Du aber, prüfe ruhig, Aischylos,
Und laß dich prüfen! Dichtern will’s nicht ziemen,
Sich auszuschimpfen wie die Hökerweiber.
Du knatterst gleich wie Eichenholz im Feuer!

Sie schonen sich nicht. Dichtern gezieme es nicht, sich wie Hökerweiber auszuschimpfen. Aber sie greifen zu herbem Vokabular, um sich gegenseitig zu treffen: Wortgebälkverklammerungskundig soll Aischylos sein. Das kann er nicht auf sich sitzen lassen und nennt Euripides einen Bettelbrutaushecker, einen Fetzenstückler, einen Krüppelhelden, der Hurenmonologe schmiedet. Political corectness? Dieses Phänomen kennt die Antike nicht. Euripides wirft Aischylos maßlose Prahlerei vor und kritisiert, dass er die Zuschauer viel zu lange auf das eigentlich Wichtige warten lässt. Aischylos kontert, dass Dichter doch die Aufgabe hätten, Menschen besser zu machen, ein Ziel, das Euripides weit verfehle, da er eher im unmoralischen Morast versumpfe.

Aischylos: (…) Schändliches soll sorgfältig verhüllen der Dichter,
Nicht ans Tageslicht ziehn und öffentlich gar aufführen: denn was für die Knaben
Der Lehrer ist, der sie bildet und lenkt, das ist für Erwachs’ne der Dichter.
Nur das Treffliche dürfen wir singen.

Euripides: Und du, wenn du Riesengebirge von Worten
Auftürmst und lauter Parnasse sprichst, heißt das wohl, das Treffliche singen?
Man muß doch menschlich auch reden!

Der vollkommen ernst gemeinte Schlagabtausch hat seine komischen Seiten, insbesondere, wenn man ihn sich auf der Bühne vorstellt. Dionysos muss irgendwann eine Entscheidung treffen, welcher der beiden Dichter der würdigere ist. Er weiß, dass er nur einen der beiden mit zurück in die Oberwelt nehmen kann. Diese Entscheidung fällt ihm nicht leicht. Er will den bevorzugen, der der Polis am meisten nutzt. Letztlich überzeugt Aischylos mit einer klareren und verständlicheren Rede. Geschickt baut Aristophanes in die Komödie auch die Themen „Wie bewerte ich Kunst?“ und „Welche Aufgabe haben Dichter?“ ein. Diese Fragen muss sich jede Zeit stellen und nach passenden Antworten suchen.

Die Frösche sind ein Paradestück der Antike, in dem der Slapstick des Anfangs immer mehr in gegenseitige Parodien der Dichter übergreift und hier dann auch die Kenntnis ihrer Stücke vorausgesetzt wird. Die Frösche leben von intertextuellen Bezügen, d. h. die beiden Dichter verweisen ständig auf einen Fundus anderer Werke. Wie reich ist das literarische Leben in ihren Köpfen! Wäre die Komödie heute entstanden, würde sie ohne Probleme als postmodernes Stück durchgehen, das aus ganz unterschiedlichen Zitaten anderer literarischer Texte zusammengesetzt ist. Viele Andeutungen in den Fröschen erschließen sich uns nicht mehr. Das Wissen um die Literatur der Zeit ist weitgehend verloren gegangen. Wenn wir die Komödie heute lesen, interessiert uns die Frage: Welcher Dichter ist es wert, gelesen zu werden? Nach welchen Kriterien gehe ich vor, wenn ich Literatur gut oder schlecht befinde? Aristophanes stellt uns wahrlich keine hoch intellektuelle Diskussion zwischen Euripides und Aischylos vor. Nein, er legt ihnen geradezu lächerliche Argumente in den Mund. Sie nutzen derbe und durchaus auch obszöne Witze und jede Menge neue Wortschöpfungen. Dadurch wird im Grunde die Fragwürdigkeit von literarischer Wertung und erst recht von Preisen komödiantisch beleuchtet.

Aristophanes hat ca. vierzig Komödien geschrieben. Die Frösche entstehen 406 v. Chr. Aristophanisch schreiben heißt mit beißendem, geistvollem Witz schreiben. Bis heute gibt es Adaptionen, besonders zu nennen ist das Musical The Frogs von Stephen Sondheim, das im Swimmingpool der Yale University in den 1970er Jahren Meryl Streep und Sigourney Weaver uraufgeführt wurde. Seit 2004 ist das Musical am Broadway zu sehen.

Aristophanes interessiert, wie sich Gesellschaft verändert. Besonders im Visier hat er all diejenigen, die sich besonders klug wähnen und im Leben komplett versagen. Vielleicht würde er heute sehr erfrischende neue Argumente in das Dauerthema „Darf Kunst alles?“ einbringen. Vielleicht wäre sein Thema heute nicht der Dichterwettstreit, sondern die Frage nach der Qualität der Inszenierung, des Regietheaters und der bewussten Veränderung literarischer Stoffe.

Aristophanes: „Die Frösche“, in: ders.: Komödien. Übersetzt von Ludwig Seeger. Wiesbaden/Berlin: Vollmer Verlag, o. J.

Mascha Kaléko: An meinen Schutzengel

Den Namen weiß ich nicht. Doch du bist einer
Der Engel aus dem himmlischen Quartett,
Das einstmals, als ich kleiner war und reiner,
Allnächtlich Wache hielt an meinem Bett.

Wie du auch heißt – seit vielen Jahren schon
Hältst Du die Schwingen über mich gebreitet
Und hast, der Toren guter Schutzpatron,
Durch Wasser und durch Feuer mich geleitet.

Du halfst dem Taugenichts, als er zu spät
Das Einmaleins der Lebensschule lernte.
Und meine Saat mit Bangen ausgesät,
Ging auf und wurde unverhofft zur Ernte.

Seit langem bin ich tief in deiner Schuld.
Verzeih mir noch die eine – letzte – Bitte
Erstrecke deine himmlische Geduld
Auch auf mein Kind und lenke seine Schritte.

Er ist mein Sohn. Das heißt: Er ist gefährdet.
Sei um ihn tags, behüte seinen Schlaf.
Und füg es, daß mein liebes schwarzes Schaf
Sich dann und wann ein wenig weiß gebärdet.

Gib du dem kleinen Träumer das Geleit.
Hilf ihm vor Gott und vor der Welt bestehen.
Und bleibt dir dann noch etwas freie Zeit,
Magst du bei mir auch nach dem Rechten sehen.



Engel sind heute wieder modern. 1987 hat Wim Wenders Film Der Himmel über Berlin das Thema aufgegriffen, die Scorpions sangen sich mit ihrem Lied Send me an angel in die Hitlisten, wir kennen alle den Blauen Engel als Umweltzeichen und den gelben Engel auf den Straßen und wir wissen auch, was hinter den Begriffen Business Angel und Hells Angel steht. Engel sind also nicht nur ein rein religiöses Thema. Nicht nur das Christentum, sondern auch andere Religionen kennen Engel und abgefallene Engel, die durch das Weltall schweifen. Die Literatur ist voll von Engelgeschichten, Jostein Gaarder hat sogar in seinem Buch Wie ein Spiegel durch ein dunkles Wort einen Engel zum Gesprächspartner für ein schwerkrankes Mädchen gemacht, um ihm die Chance zu geben, über die wirklich wichtigen Fragen im Leben zu sprechen. Sind das Zufälle, dass Engel heute so gefragt sind? An Engel muss man nicht glauben, Engel erfährt man, z. B. als Schutzengel, der den Menschen behütet. Wir erleben auch, dass ein anderer Mensch für uns zu einem Engel wird und uns den Weg weist aus einem Schlamassel, in das wir eingefahren sind. Engel sind aus christlicher Sicht Boten, durch die Gott in den Menschen etwas bewirkt: Umkehr, Neuanfang, Segen, Trost. Auch in unserem aufgeklärten Zeitalter ist ein Gefühl für das Geheimnis der Engel geblieben. Und gerade, weil die Bibel kaum nähere Enthüllungen über ihr Wesen macht, scheinen die Dichter für sich das Recht abgeleitet zu haben, Engelsbegegnungen greifbar darzustellen.

Schutzengel liebe ich. Und ich bin felsenfest überzeugt, dass es sie gibt, Aufklärung hin und Aufklärung her. Ich bin auch immer froh, wenn ich Menschen treffe, die der gleichen Meinung sind wie ich: Schutzengel sind enorm wichtig für unsere Welt und es ist gut, dass es viele von ihnen gibt. Von daher gilt, seit ich Enkel habe: Wenn sie bei uns schlafen, singe ich vor dem Schlafengehen: „Abends, wenn ich schlafen geh, vierzehn Engel um mich stehn“. Wenn ich es vergäße, würden es die Kinder einfordern.

Mascha Kaléko, Dichterin mit jüdischen Wurzeln aber ohne Bezug zum Glauben, legt hier in ihrer gewohnt ironisch-satirischen Weise ein humorvolles Gedicht an ihren Schutzengel vor, der zum lyrischen „Du“ wird. Und sie trägt eine Bitte nach der anderen an ihn heran, jeweils mit dem Tenor: Und das will ich noch, und das will ich noch. Die Sprecherin ist nicht gerade bescheiden, sondern überzeugt davon, dass sie ihrem Schutzengel das alles auch zumuten kann. Er hat zwar keinen Namen, aber wohnt im Himmel und gehört zum himmlischen Quartett und wacht schon von klein auf über sie. Auf ihren Schutzengel ist Verlass, er bietet Sicherheit. Im Gedicht können wir durchaus Mascha Kaléko und ihr lyrisches „Ich“ als identisch ansehen.

Die zweite Strophe nimmt die Eigenschaften Verlässlichkeit und Namenlosigkeit nochmals auf: Wie du auch heißt – seit vielen Jahren schon ist der Engel da und zwar als Schutzpatron, der durch Wasser und durch Feuer trägt, der also gerade in Gefahr eine sehr große Rolle spielt. Sogar dem Taugenichts steht er bei und lässt die Saat aufgehen, geradezu unerwartet. Offensichtlich wertet der Engel nicht, er steht auch dem bei, der faul ist, was für ein Trost! Die Sprecherin weiß, dass sie ihren Schutzengel bislang ziemlich gut beschäftigt hat: Seit langem bin ich tief in deiner Schuld. Er ist also in Übung, auf ihn ist Verlass und daher nimmt sie all ihren Mut zusammen und bittet ihn fern von jeder Bescheidenheit, weitere Aufgaben zu übernehmen: Der Engel möge sich dem schwarzen Schaf – ihrem Sohn – annehmen und ihn in ein weißes Schaf verwandeln. Was steht hinter dem Bild des schwarzen Schafes? Das ist ja alles andere als ein Kompliment für den Sohn. Es ist kein zynisches Bild, nein, es ist ein Bild, bei dem viele Assoziationen kommen: Der Sohn, der noch ungelenk nach seinem eigenen Weg sucht, der Sohn, der Ermutigung braucht, der Sohn, der Stärke braucht. Ihn auf den rechten Weg führen, ihn aus dem Schlamassel herausholen. Viele Variationen sind hier möglich. Und noch eine Bitte kommt dazu: der Weg des kleinen Träumers möge vor Gott und der Welt Bestand haben. Volles Programm für den Engel! Kann er das überhaupt stemmen? Kaléko wird jetzt sehr ironisch und setzt humorvoll noch eine Bitte drauf. Wenn noch Zeit übrig ist, dann möge sich der Engel ihrer selbst annehmen. Klare Ansage, klares Programm.

Ein seltsamer Monolog wird hier wiedergegeben: Da gibt es einen Engel, der offensichtlich wahrgenommen wird, der einen großen Stellenwert erhält, dem Dank gezollt wird, dessen Name aber nicht behalten wird und der unermüdlich seiner Aufgabe nachgeht. Diesem Engel vertraut die Sprecherin unerschütterlich. Sie weiß, dass sie undankbar war, dass sie ihm viel zugemutet hat und dass sie auch nichts dazu beigetragen hat, dass er ihr so treu ist. Vielleicht ist diese Erfahrung von der grenzenlosen Sicherheit, die ihr dieser Engel gibt, die Voraussetzung dafür, dass sie ihn losschickt zu ihrem geliebten Kind. Sie weiß, wenn der Engel bei ihrem Kind ist, dann wird ihm nichts passieren. Und in seinen Arbeitspausen möchte er sich bitte um sie selbst kümmern. Ein Engel im Dauereinsatz.

Mascha Kaléko ist 1907 zwanzig Kilometer östlich von dem Ort geboren, der später als Ort des Schreckens in die Geschichte eingegangen ist: Auschwitz. Sie ist assimilierte Jüdin, zieht, um den Pogromen zu entgehen, bereits im Alter von sieben Jahren mit ihrer Mutter nach Berlin ­– ohne Vater, denn der war wegen seiner russischen Staatsbürgerschaft als feindlicher Ausländer interniert und kommt erst Jahre später zur Familie zurück. Als junge Frau arbeitet sie in einem Büro und besucht abends Kurse in Philosophie und Psychologie. Sie lernt die Berliner Avantgarde um Lasker-Schüler, Ringelnatz und andere im Romanischen Café kennen und beginnt zu schreiben. Bereits 1929 veröffentlicht sie erste Gedichte im Stil der Neuen Sachlichkeit, die durch Alltagslyrik gekennzeichnet ist. Kaléko schafft es, sich ihren Platz als bedeutsame Lyrikerin zu sichern, sie, die man den weiblichen Kästner nennt. Nicht jeder Reim muss rein sein, aber der sarkastisch humorvolle Blick auf die Zeit, auf all die vielen alltäglichen Dinge des Lebens, der ist entscheidend. Als 1933 ihr lyrisches Stenogrammheft publiziert wird, ist den Nazis noch nicht klar, dass die Autorin Jüdin ist. Erst ein Jahr später wird sie mit Zensur belegt. 1938 emigriert sie mit ihrem zweiten Mann in die USA, steht dort ihre Frau und nimmt jede Arbeit an, um den Unterhalt der Familie zu sichern. Kaléko schreibt weiter, unermüdlich, immer bezogen auf das, was sie gerade erlebt. Ihr Mann, der Dirigent Chemio Vinaver, erntet nicht den erhofften Erfolg. Die Familie macht einen Neuanfang in Israel, der aber misslingt. Sohn und Mann sterben, sie will zurück nach Berlin ziehen, in eine Stadt, an die sie gute Jugenderinnerungen hat, aber dazu kommt es nicht mehr. Sie stirbt 1975 bei einer Reise an ihrem Magenkrebs in Zürich.

Marcel Reich-Ranicki reiht Mascha Kaléko zu den großen Dichterinnen des 20. Jahrhunderts ein, beklagt aber ihren ausgebliebenen Ruhm: „Sie ist eine Dichterin, die überall fremd geblieben ist: in Deutschland eine polnische Jüdin, in Amerika eine unbelehrbare Europäerin, in Polen eine Unbekannte“. Wer sie einmal entdeckt hat, den lässt sie nicht mehr los.

Mascha Kaléko: Sämtliche Werke und Briefe, München (dtv) 2012

Das Zitat von Marcel Reich-Ranicki stammt aus der Kolumne: „Fragen Sie Reich-Ranicki“, in FAZ, 2.12.2007

Ilse Aichinger: Das Fenstertheater

Am 1.11.2021 ist dem 100. Geburtstag von Ilse Aichinger gedacht worden. Ihr Name ist unweigerlich damit verbunden, dass man sie neben Ingeborg Bachmann zu den großen Damen der Gruppe ‘47 einreiht, jener Vereinigung von Schriftstellern, die sich 1947 locker zusammenfinden, um nach einer neuen literarischen Sprache zu suchen, die es nach dem verheerenden Krieg und dem Deutsch der Nazis braucht. 1952 liest sie bei einem Treffen der Gruppe die Spiegelgeschichte, für die sie den Preis der Gruppe erhält und die sie schlagartig berühmt macht. Bei der gleichen Tagung lernt sie Günter Eich kennen, den sie heiratet und mit dem sie eine Familie gründet.

Ilse Aichinger, geboren in Wien, darf als Jüdin nicht studieren. Sie beginnt nach dem Krieg mit dem Medizinstudium, verdient sich aber ihren Unterhalt mit Schreiben. Ihr Werk lässt sich nicht in eine Richtung einordnen, frühe Texte sind eher surrealistisch gefärbt, späte verzichten oft auf eine zusammenhängende Handlung. Heute gilt sie als eine der großen Autorinnen der literarischen Moderne.

Das Fenster-Theater ist eine Kurzgeschichte aus dem Jahr 1963.

Sie ist aus Sicht einer Frau geschrieben, die aus dem Fenster ihrer Wohnung in einem der oberen Stockwerke des Gebäudes schautlehnt und dabei einen Mann in der gegenüberliegenden Wohnung beobachtet, der sich aus ihrer Sicht sehr waghalsig und seltsam verhält:

(…) Die Frau blieb am Fenster.

Der Alte öffnete und nickte herüber. Meint er mich? dachte die Frau. Die Wohnung über ihr stand leer, und unterhalb lag eine Werkstatt, die um diese Zeit schon geschlossen war. Sie bewegte leicht den Kopf. Der Alte nickte wieder. Er griff sich an die Stirne, entdeckte, dass er keinen Hut aufhatte, und verschwand im Innern des Zimmers.

Die Szene ist nachvollziehbar. Heute gibt es zwar immer weniger Menschen, die aus dem Fenster schauen und das Geschehen auf der Straße beobachten, aber 1963 war das kein Stalken, sondern gute Tradition. Meine Oma machte jeden Tag die Fensterläden im Erdgeschoss zu: Ein Vorgang, der lange dauern konnte, je nachdem, wer da gerade zu einem Schwätzchen auf der Straße vorbei kam. In meiner Erinnerung hat meine Oma am Fenster einen festen Platz. In Aichingers Geschichte wird die durchaus plausible Situation geschildert, dass sich eine Frau die Welt vom Fenster aus ansieht. Was geschieht nun mit dem Mann gegenüber?

Gleich darauf kam er in Hut und Mantel wieder. Er zog den Hut und lächelte. Dann nahm er ein weißes Tuch aus der Tasche und begann zu winken. Erst leicht und dann immer eifriger. Er hing über die Brüstung, dass man Angst bekam, er würde vorn überfallen. Die Frau trat einen Schritt zurück, aber das schien ihn nur zu bestärken. Er ließ das Tuch fallen, löste seinen Schal vom Hals – einen großen bunten Schal – und ließ ihn aus dem Fenster wehen. Dazu lächelte er. Und als sie noch einen weiteren Schritt zurücktrat, warf er den Hut mit einer heftigen Bewegung ab und wand den Schal wie einen Turban um seinen Kopf. Dann kreuzte er die Arme über der Brust und verneigte sich. Sooft er aufsah, kniff er das linke Auge zu, als herrsche zwischen ihnen ein geheimes Einverständnis. Das bereitete ihr so lange Vergnügen, bis sie plötzlich nur mehr seine Beine in dünnen, geflickten Samthosen in die Luft ragen sah. Er stand auf dem Kopf. Als sein Gesicht gerötet, erhitzt und freundlich wieder auftauchte, hatte sie schon die Polizei verständigt.

Was tut der Mann da eigentlich? Man kann sich die Panik geradezu vorstellen, die diese Frau ergreift. Sie kann ihn stimmlich nicht erreichen, alle ihre warnenden Gesten bleiben ungehört, sie hat Angst, es könne etwas passieren: Da ist es nachvollziehbar, dass sie handeln muss. Man fühlt sich geradezu an den Film von Hitchcock: Das Fenster zum Hof von 1954 erinnert, in dem, großartig gespielt von James Stuart und Grace Kelly, der Mann im Rollstuhl Zeuge eines Verbrechens wird, das in der gegenüberliegenden Wohnung geschieht und bei dem er im Grunde machtlos zusehen muss. Hier geschieht kein Verbrechen. Wir wissen ja noch gar nicht, was da überhaupt passiert und warum sich der Mann so verhält.

Und während er, in ein Leintuch gehüllt, abwechselnd an beiden Fenstern erschien, unterschied sie schon drei Gassen weiter über dem Geklingel der Straßenbahnen und dem gedämpften Lärm der Stadt das Hupen des Überfallautos. Denn ihre Erklärung hatte nicht sehr klar und ihre Stimme erregt geklungen. Der alte Mann lachte jetzt, so dass sich sein Gesicht in tiefe Falten legte, streifte dann mit einer vagen Gebärde darüber, wurde ernst, schien das Lachen eine Sekunde lang in der hohlen Hand zu halten und warf es dann hinüber. Erst als der Wagen schon um die Ecke bog, gelang es der Frau, sich von seinem Anblick loszureißen.

Das in die Luft geworfene Lachen ist ein wunderschönes Bild. Wem gilt es? Spannung wird aufgebaut. Die Situation spitzt sich zu. Unten auf der Straße kommen in Hektik Polizeiautos zusammen, oben am Fenster scheint eine andere Welt zu existieren. Die Polizisten stürmen die Wohnung. Sie gehen vorsichtig vor, wie bei einem Menschen, der suizidgefährdet ist und nicht erschreckt werden darf. Sie brechen die Wohnung des Mannes auf, die Frau, die die Polizei gerufen hat, ist bei allem dabei.

Als die Tür aufflog, stand der alte Mann, mit dem Rücken zu ihnen gewandt, noch immer am Fenster. Er hielt ein großes weißes Kissen auf dem Kopf das er immer wieder abnahm als bedeutete er jemandem, dass er schlafen wolle. Den Teppich, den er vom Boden genommen hatte, trug er um die Schultern. Da er schwerhörig war, wandte er sich auch nicht um, als die Männer schon knapp hinter ihm standen und die Frau über ihn hinweg in ihr eigenes finsteres Fenster sah.

Noch immer sind die Leser im Unklaren über das Geschehen. Es wirkt skurril. Ein erwachsener Mensch, der offensichtlich mit seinem Kissen Zeichen setzt und sich den Teppich umgelegt hat. Ein Mensch, der völlig aufgeht in seiner Welt und dann als Kontrast die Frau, die mit den Polizisten in die Wohnung eingebrochen ist und in ihre eigene finstere gegenüber sieht. Kein Wort ist hier zu viel. Hier der agierende Mann, da die in die Finsternis blickende Frau.

Die Werkstatt unterhalb war, wie sie angenommen hatte, geschlossen. Aber in die Wohnung oberhalb musste eine neue Partei eingezogen sein. An eines der erleuchteten Fenster war ein Gitterbett geschoben, in dem aufrecht ein kleiner Knabe stand. Auch er trug sein Kissen auf dem Kopf und die Bettdecke um die Schultern. Er sprang und winkte herüber und krähte vor Jubel. Er lachte, strich mit der Hand über das Gesicht, wurde ernst und schien das Lachen eine Sekunde lang in der hohlen Hand zu halten. Dann warf er es mit aller Kraft den Wachleuten ins Gesicht.

Hier endet die Geschichte. Bis zum Lockdown las man sie sicher anders. Seitdem hat die Kommunikation mit dem Nachbarhaus über das Fenster, oft der einzige Kontakt zum Nächsten, eine neue Dimension erfahren. Die Geschichte ist skurril und rührend zugleich. Sie hat ein ernstes Thema, das leicht erzählt, geradezu mit viel Ironie untermalt ist: Die Einsamkeit in unserer modernen anonymen Gesellschaft. Die Frau hatte gar nicht bemerkt, dass die Wohnung über ihr wieder bewohnt war, sie war fest davon überzeugt, dass sie selbst Adressatin der Gesten und der Mimik des Mannes sei und als er nicht auf ihre Zeichen reagierte, musste sie davon ausgehen, dass sich da etwas Schlimmes anbahnen würde. Sie kam gar nicht auf die Idee nachzusehen, ob auch noch ein anderer Adressat möglich gewesen wäre. Eine sehr eingeschränkte Sichtweise. Deren Folgen werden hier von Aichinger auf den Punkt gebracht. Die Frau ist nun blamiert, ihr Verhalten war voreilig und überflüssig und ja, sie denkt auch ohne große Fantasie. Demgegenüber haben wir es mit einem Theaterspieler zu tun, der noch dazu schwerhörig, aber sehr wohl kommunikationsbereit ist, der aktiv und dem Leben zugewandt aus der Situation kreativ etwas macht. Und der Dritte im Bunde ist das Kind, gefesselt an sein Gitterbett, und sicher auch fasziniert von dem, was da gegenüber gespielt wird. Es bekommt die volle Aufmerksamkeit des Mannes, die beiden vergessen alles um sich herum, sie verstehen sich, haben ihre Freude miteinander und sie lassen sich auf das Spiel ein, das von außen nicht verstanden wird.

Interessant ist der Schluss: Er greift das zugeworfene Lachen nochmals auf. Der Junge lachte, strich mit der Hand über das Gesicht, wurde ernst und schien das Lachen eine Sekunde lang in der hohlen Hand zu halten. Dann warf er es mit aller Kraft den Wachleuten ins Gesicht. Die metaphorische Weitergabe des Lachens: welch genialer Schachzug. Wir wissen nicht, wie die Polizisten oder auch die Frau reagieren. Ob sie das Lachen aufnehmen können? Ob sie selbst in befreiendes Lachen übergehen können? Oder ob sie verbissen über die Nutzlosigkeit ihrer Aktion erbost sind?

Ilse Aichinger: „Das Fenster-Theater“, in: dieselbe: Der Gefesselte. Erzählungen. Frankfurt (Fischer) 1963

Theodor Fontane: Das Trauerspiel von Afghanistan

Der Schnee leis stäubend vom Himmel fällt,
Ein Reiter vor Dschellalabad hält,
„Wer da!“ – „„Ein britischer Reitersmann,
Bringe Botschaft aus Afghanistan.“

Afghanistan“! er sprach es so matt
Es umdrängt den Reiter die halbe Stadt,
Sir Robert Sale, der Commandant,
Hebt ihn vom Rosse mit eigener Hand.

Sie führen in’s steinerne Wachthaus ihn,
Sie setzen ihn nieder an den Kamin,
Wie wärmt ihn das Feuer, wie labt ihn das Licht,
Er athmet hoch auf und dankt und spricht:

„Wir waren dreizehntausend Mann,
Von Cabul unser Zug begann,
Soldaten, Führer, Weib und Kind,
Erstarrt, erschlagen, verraten sind.“

„Zersprengt ist unser ganzes Heer,
Was lebt, irrt draußen in Nacht umher,
Mir hat ein Gott die Rettung gegönnt,
Seht zu, ob den Rest ihr retten könnt.“


Sir Robert stieg auf den Festungswall,
Offiziere, Soldaten folgten ihm all’,
Sir Robert sprach: „Der Schnee fällt dicht,
Die uns suchen, sie können uns finden nicht.“


„Sie irren wie Blinde und sind uns so nah,
So laßt sie’s hören, daß wir da,
Stimmt an ein Lied von Heimath und Haus,
Trompeter, blas’t in die Nacht hinaus!“

Da huben sie an und sie wurden’s nicht müd’,
Durch die Nacht hin klang es Lied um Lied,
Erst englische Lieder mit fröhlichem Klang,
Dann Hochlandslieder wie Klagegesang.

Sie bliesen die Nacht und über den Tag,
Laut, wie nur die Liebe rufen mag,
Sie bliesen – es kam die zweite Nacht,
Umsonst, daß ihr ruft, umsonst, daß ihr wacht.

Die hören sollen, sie hören nicht mehr,
Vernichtet ist das ganze Heer,
Mit dreizehntausend der Zug begann,
Einer kam heim aus Afghanistan.

Wir schreiben das Jahr 1859. Theodor Fontane, dessen 100. Todestag in das letzte Jahr der Vor-Corona-Zeit fiel, beschreibt ein Afghanistan seiner Zeit. Gut 150 Jahre sind seither vergangen und beim Lesen erstarrt das Blut ob der Aktualität. Die Ballade erzählt von einem britischen Commandanten, Sir Robert Sale, der einen Boten vom Pferd hebt, der erschöpft mit schrecklicher Kunde aus Dschellalabad kommt. Er erzählt von der Flucht von dreizehntausend Mann, Soldaten, Führer, Weib und Kind, ein großer Zug auf dem Weg weg von Cabul, und keiner hat überlebt. Ein beispielloses Massaker hat stattgefunden, nur angedeutet, um so mehr geht es unter die Haut. Das britische Heer ist zersprengt, er fleht den Commandanten um Hilfe an, die zu retten, die draußen in der Nacht umherirren. Was tut der Commandant? Er steigt auf den Festungswall und spricht die folgenschweren Worte:

Der Schnee fällt dicht, Die uns suchen, sie können uns finden nicht.

Er kapituliert gegenüber den Truppen Akbar Kahns, der hier in der Ballade ungenannt bleibt. Die britische Perspektive ist die wichtige. Statt Hilfe schickt Sale Trompeten in die Luft mit einem letzten Gruß aus der Heimat, englische und afghanische Musik. Die nutzt den Menschen im Elend nichts. Was für ein Galgenhumor! Ein völliges Versagen, ein komplettes humanitäres Scheitern wird hier von Fontane beschrieben. Die Tatsache, dass dies vor mehr als 150 Jahren geschah, dass die Analogie zu heute erschreckend klar ist, macht stumm und lässt Fragen aufkommen, ob sich denn seitdem gar nicht verändert hat. Fontane erzählt in seinem gewohnt distanzierten Ton poetisch die Realität seiner Zeit. Das britische Königreich hatte den Versuch unternommen, das Land mit westlichen Mitteln zu demokratisieren. Mission impossible. Statt zu einer Stabilität, kam es zu dem verheerenden Massaker.

Die Ballade richtet sich ganz klar an die Kolonialherren, die Sicht derer, die man heute Ortskräfte nennen würde, ist nicht ausgearbeitet. Sie bleiben Verlierer, damals wie heute, egal aus welcher Perspektive man betrachtet. Einer kam heim aus Afghanistan, der letzte Vers ist hier klar. Das Heimkommen bezieht sich auf das britische Territorium.

Was war geschehen? 1839 nahmen die Briten Afghanistan ein und es begann ein Krieg, der als erster Anglo-Afghanischer Krieg in die Geschichte eingegangen ist. Sie kämpften um ihre Vormachtstellung und wollten mit allen Mitteln russische Expansionsbestrebungen in diesem Raum verhindern. Die Russen wollten sich einen eisfreien Hafen am Indischen Ozean sichern und brauchten dafür einen Verbindungsweg durch Afghanistan. Man nennt diese jahrelang anhaltenden britisch-russischen Auseinandersetzungen „The Great Game“. Die Lage Afghanistans ist geopolitisch seit eh und je interessant. Als die Briten das Land 1839 besetzten, kam es immer wieder zu zermürbenden Kämpfen zwischen der anglo-indischen Armee und den Afghanen. Ihr Ziel erreichten die Briten nicht. Daher reduzierten sie 1841 die finanzielle Unterstützung der Stammesfürsten und wurden in Folge von ihnen zunehmend weniger unterstützt. Anfang 1842 kam es zur Revolte. Die Briten verhandelten mit den Stammesfürsten freies Geleit und zogen sich am 6. Januar 1842 komplett aus Kabul zurück. Tausende flüchteten aus Angst vor der völlig undurchsichtigen Zukunft. Die Vereinbarung über das freie Geleit wurde gebrochen und am Chaiber-Pass kam es zu einem entsetzlichen Massaker, bei dem nur der britische Militärarzt William Brydon überlebte, der dann die Nachricht der Katastrophe übermittelte, die Fontane beschreibt.

Wie kommt Fontane dazu, über diese Katastrophe zu berichten? Er ist von 1855-1859 in London und dort als Auslandskorrespondent für den preußischen Staat zuständig. Das britische Desaster in Afghanistan war da deutlich spürbar und ist bis heute präsent. Fontane beschränkt sich auf eine einzige Wertung in der Ballade und die findet sich im Titel: Trauerspiel Afghanistan. Er bezieht sich auf das Great Game. Aus dem großen Spiel ist ein Trauerspiel geworden. Fontane übernimmt den Titel von der hervorragenden Analyse Karl-Friedrich Neumanns: Das Trauerspiel Afghanistan, erschienen in Leipzig 1848. Der Titel trägt noch heute. Die Spieler sind ausgetauscht. Aber die Tragödie am Hindukusch scheint endlos zu sein.

Nach dem ersten Anglo-Afghanischen Krieg folgten noch zwei weitere. Die Briten wollten die erlittene Demütigung nicht akzeptieren. Erst 1919, nach sechzig Jahren unter britischer Vorherrschaft, wurde Afghanistan unabhängig, steht aber seitdem immer wieder im Fokus unterschiedlicher Interessen und hat nie eine innere Stabilität erlangt.

Was sich seit den späten achtziger Jahren abspielt, hat die Weltöffentlichkeit sehr genau verfolgen können. 1989 erlebten die Sowjets wie die Briten ihre Niederlage, aktuell sind es die NATO-Staaten. Was jetzt folgt, ist möglicherweise nicht weit von dem entfernt, was Fontane beschreibt.

Wie würde Fontane heute seine Ballade erzählen? Vielleicht würde er nicht nur im Titel seine Gesellschaftskritik bündeln sondern auch im Inhalt ansetzen. Alle bisherigen Demokratisierungsversuche sind gescheitert. Die Lage der Menschenrechte ist katastrophal. Und doch kann sich die vermeintlich „bessere Welt“ mit ihren Freiheiten und ihrem Rechtssystem nicht durchsetzen.

Philosophiestudenten lernen in den ersten Semestern, was das Wort Ethik bedeutet. Es heißt: Der gewohnte Ort. Eine Ethik muss entstehen, muss sich entfalten und wachsen können, sie muss passen und für den Ort stimmig sein. Nirgendwo auf der Welt ist es gelungen, Ethik zu oktroieren auch wenn die Strategie noch so ausgefeilt und gut war und viel Geld in die Hand genommen worden ist. Offensichtlich ist diese Lehre nicht zu verstehen. Der Vers Fontanes: Sie irren wie Blinde und sind uns so nah, bezieht sich in der Ballade zwar auf die Flüchtenden, aber aus heutiger Sicht hat dieser Satz noch eine beißende weitere Bedeutung. Was muss noch geschehen, dass Blinde sehend werden? Was muss geschehen, bis die Welt begreift, dass die Welt viel zu komplex ist als sie nur aus einer Perspektive zu betrachten.

Theodor Fontane: Alle Balladen, Berlin (elv) 2014

Das Spiel von Macht und Ohnmacht

Literarische und philosophische Texte sind oft wahre Fundgruben und können Orientierung geben. Was tun, um dem festen Griff der Angst zu entkommen? Wie erkennen, wenn Verführer keine guten Absichten haben? Was, wenn in Familie, ja sogar auch in Liebesbeziehungen mit Macht und Ohnmacht gespielt wird? „Die Texte sind für mich lebensrettende Pillen für die traumatisierte Seele“, so eine Leserin. Sie springen kurz und prägnant quer durch mehr als zwei Jahrtausende der Weltliteratur, thematisieren zentrale Fragen, wie sich Macht und Ohnmacht im Leben von Einzelnen und auch Gruppen, ja sogar auch Staaten auswirken kann und werden von Ulrike Mielke pointiert, bisweilen auch sarkastisch kommentiert. Ein Buch, das viele Denkanstöße für Dialoge mit sich und anderen bietet.

Ulrike Mielke
Das Spiel von Macht und Ohnmacht
literarisch-philosophische Betrachtungen
Heidelberg, 2021, 312 Seiten
ISBN 978-3-754115-71-8
Vertrieb über epubli
Preis 19,50€

Erhältlich in allen Buchhandlungen, online bei Internetbuchhandlungen und bei der Autorin. Direktkauf über epubli kann hier erfolgen.

Bestellungen mit Wünschen für eine persönliche Widmung schicken Sie an literatur@mielke-hd.de

Immanuel Kant: Was ist Aufklärung?

Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung. (S. 9)

So beginnt Kants berühmter Aufsatz zur Frage: Was ist Aufklärung? in der Dezember-Nummer der Berlinischen Monatsschrift von 1784. Vorausgegangen war eine Veröffentlichung des Berliner Pfarrers Johann Friedrich Zöllner im gleichen Blatt ein Jahr zuvor, in dem er die kirchliche Ehe gegenüber der Zivilehe verteidigt und gegen die Verwirrung vorgeht, die

unter dem Namen der Aufklärung in den Köpfen und Herzen der Menschen angerichtet werde. (…) Was ist Aufklärung? Diese Frage, die beinahe so wichtig ist, als: Was ist Wahrheit, sollte doch wohl beantwortet werden, ehe man aufzuklären anfinge! (S. 3)

Diese Frage, gestellt von einem relativ unbekannten protestantischen Pfarrer über das Eherecht wird zu einer folgenschweren Frage, deren Beantwortung immer wieder neu versucht wird. Moses Mendelssohn, Philosoph und Wegbereiter der jüdischen Aufklärung, der Haskala, greift Zöllners Frage in der Septemberausgabe 1784 der Berlinischen Monatsschrift auf und schreibt dazu einen Aufsatz. Es ist nicht sicher, ob Kant diesen Aufsatz kannte. Kants Antwort auf die Frage ist jedenfalls klar und gut verständlich: Der Mensch soll frei, d. h. mündig werden und Mut haben, selbst zu denken. Klasse! Diese Forderung gilt nach wie vor und ist immer noch nicht so ganz gelungen umgesetzt.

Kant lebt von 1724–1804. Zu seiner Zeit ist seine Antwort auf die Frage eine absolute Provokation. Es herrscht Feudalismus, Deutschland besteht aus über 300 Fürstentümern, daneben gibt es freie Reichsstädte und in Preußen regiert Friedrich II., der zwar französische Aufklärer an seine Tafelrunde holt, gleichzeitig aber auch verheerende Kriege führt. Wie sollte sich ein Leibeigener in dieser Zeit aus seiner Unmündigkeit befreien, von der Kant sagt, sie sei selbstverschuldet?

Kant weiß, dass er nicht in einer aufgeklärten Zeit lebt, aber er fordert, dass das Leben in ein Zeitalter der Aufklärung übergehe. Aufklärerische Gedanken entwickeln sich nicht in der Masse der Bevölkerung, sie sind vorerst einem kleineren Kreis der Gesellschaft vorbehalten. Gerade Berliner Salons, geführt von intelligenten Frauen, sind Hotspots aufklärerischen Gedankenguts.

Kant nennt Gründe, warum die Aufklärung nur schleppend in Gang kommt:

Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung freigesprochen hat, dennoch gern zeitlebens unmündig bleiben; und warum es anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist bequem, unmündig zu sein. (S. 9)

Mit anderen Worten heißt das: Es ist leichter, seine Ohnmacht zu leben als sich selbst zu führen. Da ist ja was dran. Selber denken macht Mühe. Es ist bequemer, darauf zu vertrauen, dass andere das schon machen werden. Kant ist hier aber rigoros. Er bezeichnet eine solche Haltung als faul und feige und zeichnet auch die Konsequenzen auf: Anderen wird es leicht gemacht, sich zu Vormündern zu ernennen.

Wir können uns durchaus einen wütenden Kant an seinem Schreibtisch vorstellen, der durchaus polemisch und mit Galgenhumor seine Zeit beschreibt:

Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt u.s.w., so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen. Daß der bei weitem größte Teil der Menschen (darunter das ganze schöne Geschlecht) den Schritt zur Mündigkeit außer dem, daß er beschwerlich ist, auch für sehr gefährlich halte: dafür sorgen schon jene Vormünder, die die Oberaufsicht über sie gütigst auf sich genommen haben. Nachdem sie ihr Hausvieh zuerst dumm gemacht haben und sorgfältig verhüteten, dass diese ruhigen Geschöpfe ja keinen Schritt außer dem Gängelwagen, darin sie eingesperreten, wagen durften, so zeigen sie ihnen nachher die Gefahr., die ihnen drohet, wenn sie es versuchen, allein zu gehen. Nun ist diese Gefahr zwar eben so groß nicht, denn sie würden durch einigemal Fallen wohl endlich gehen lernen; allein ein Beispiel von der Art macht doch schüchtern und schreckt gemeiniglich von allen ferneren Versuchen ab. (S. 9f.)

Kant geht hart ins Gericht mit seinen Zeitgenossen. Wer sagt: „Hier sieh, in dem Buch steht es schwarz auf weiß!“, wer sagt: „Hier sieh, das hat der Seelsorger gesagt!“, wer sagt: „Hier sieh, das hat der Arzt diagnostiziert!“, der gibt allzu leicht Verantwortung ab. Kant weist sehr deutlich darauf hin, dass die Ursache für das leichtfertige Abgeben von Verantwortung in den Einschüchterungen derer liegt, die lenken wollen. Ob sie dann aber so lenken, dass es für mich gut ist, das steht auf einem anderen Blatt. Die Drohungen gehören zum System: „Wenn ihr nicht das tut, was ich will, dann seid ihr in Gefahr!“ Wer will das schon gern sein? Also ist es vielleicht doch besser, sich unter den Schutz dessen zu stellen, der es doch eigentlich gut mit allen meint …

Kant ist davon überzeugt, dass nur ein Prozess des Erkennens eine Änderung der Haltung herbeiführen wird. Man kann dem Menschen nicht sagen: „Sapere Aude! Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ und dann darauf hoffen, dass er das gleich in die Tat umsetzt. Das Sapere aude, das ist mit eine der am schwersten umzusetzenden Forderungen der Aufklärung. Eigenständig denken heißt: In Frage stellen, hinterfragen, nachfragen, vielleicht auch mehrfach, zweifeln, Gegenvorstellungen entwickeln, neue Wege suchen, das heißt, sich seiner Ohnmacht und seines Nicht-Wissens bewusst werden und daran arbeiten, dass sich das ändert, das heißt, sich auf den Weg der Emanzipation zu begeben. Emanzipation ist damit verbunden, dass Fesseln gelöst werden, durchaus aber neue entstehen können. Kant weiß um die Dauer dieses Entwicklungsprozesses.

Durch eine Revolution wird vielleicht wohl ein Abfall von persönlichem Despotism und gewinnsüchtiger oder herrschsüchtiger Bedrückung, aber niemals wahre Reform der Denkungsart zustande kommen; sondern neue Vorurteile werden, ebenso als die alten, zum Leitbande des gedankenlosen großen Haufens werden. (S. 10f.)

Kant erlebt einige Jahre nach Abfassen dieser Schrift die Französische Revolution und ihr Scheitern. Würde er heute aus seiner Gruft auferstehen, hätte er sehr viele Beispiele für gescheiterte Revolutionen zu beklagen. Hätte man Kant in all diesen Jahren ordentlich gelesen und verstanden, wäre vielleicht die Bedeutung des Wortes Reform stärker ins Bewusstsein gekommen. Man wird nicht mal eben durch eine Revolution mündig.

Ich hatte eine sehr engagierte Professorin für lateinamerikanische Literatur, Frauke Gewecke. Sie brachte uns, allesamt interessiert an den Umwälzungen der lateinamerikanischen Befreiungsbewegungen in den achtziger Jahren, gnadenlos bei: „Leute, worin mündet normalerweise der Befreiungskampf, der mit viel Herzblut und absolut reinem Gewissen geführt wird? Normalerweise mündet er in einen Zustand, der noch schlimmer ist als der vorherige.“ Wir hatten heftige Diskussionen und lernten bei lateinamerikanischen Autoren viel über Politik und Gesellschaft.

Gut, Kant will einen Prozess der Wandlung. Aber was genau fordert er? Er fordert etwas ein, was zum Kern unseres demokratischen Verständnisses gehört und in vielen Bereichen unserer Zeit immer noch nicht umgesetzt ist: Er fordert ein, den Wert der Freiheit zu erkennen.

Zu dieser Aufklärung aber wird nichts erfordert als Freiheit: und zwar die unschädlichste unter allem, was nur Freiheit heißen mag, nämlich die: von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen. (S. 11)

Der öffentliche Gebrauch der Vernunft solle jederzeit frei sein. Das heißt, Pressefreiheit, Religionsfreiheit, Meinungsfreiheit. Darin liegt ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis der Aufklärung. Freies Denken, jenseits aller Moden, jenseits des Mainstreams, das einzufordern und öffentlich davon Gebrauch zu machen, das sind zentrale Überzeugungen Kants. Manchmal würde ich gerne Kant in die Talkshows von heute beamen, vielleicht würde er heute sagen: „Wer sein Hirn an ein Parteibuch abgibt, hat die Aufklärung nicht verstanden.“

Die Macht der Vernunft, das war es, woran die Aufklärer mit Inbrunst geglaubt haben. Und damals wie heute gehört zur Vernunft eine gesunde Portion Skepsis gegenüber allen Autoritäten. Die Aufklärer waren optimistisch in ihrer Einschätzung, dass es möglich ist, Menschen zum mündigen Selbstdenken zu bringen. Sie hofften, dass es nur eine Frage der Zeit sein würde, dass Unvernunft und Unwissen verschwunden sein würden, da sie ein sehr positives Bild vom Menschen hatten. Der Mensch ist fähig zum Fortschritt, er kann sich wandeln.

Die optimistische Stimmung weicht aber im Laufe der Jahre. Der Prozess, der so fulminant begonnen hatte, verläuft wohl auch aus dem Grund nur schleppend, weil der Mensch nun einmal kein reines Vernunftswesen ist. Und heute? Welchen Stellenwert hat die Vernunft heute?

Zugegeben, heute haben wir eine andere Zeit, welche Macht hat die Vernunft heute? Sie ist mitunter auch angesichts der Explosion unterschiedlicher Einstellungen und sich widersprechenden Wissens zu einer Überforderung des Menschen geworden und zeigt klar, wo die Grenzen der Aufklärung sind. Grenzen von Aufklärung sehen wir in der aktuellen Situation überall. Wir haben täglich umfassenden Zugang zu einer Vielzahl von Erklärungsmodellen und Handlungsstrategien bezüglich der Pandemie. Sie überfordern nicht nur die Menschen, die Entscheidungen treffen müssen, auch der Einzelne kann unmöglich allesamt im Blick haben und fühlt sich ohnmächtig. Was sind vernünftige Entscheidungen? Wie ist der Flut von Urteilen zu begegnen, die sich aus Bauchgefühl, Aberglauben, Vorurteilen oder schlicht Fehlinformationen nähren? Die Grundlagen für Mündigkeit, die in der Aufklärung entstanden, sind weiterhin gültig: Vernunftbasierte Entscheidungen sind nach wie vor das Beste, was uns zur Verfügung steht. Nur dadurch können Aberglaube und Fanatismus, Schwärmerei und Vorurteile entlarvt werden.

Immanuel Kant hat sein ganzes Leben in Königsberg verbracht. Er hätte Professuren in Erlangen und Jena haben können, lehnt diese aber ab. 1770 im Alter von 46 Jahren wird er zum ordentlichen Professor der Logik und Metaphysik an der Königsberger Universität ernannt. Er ist ständig im Konflikt mit preußischen Zensurbehörden, die seine Lehren als nicht vereinbar mit der Bibel und geltenden Herrschaftsverhältnissen sehen, korrespondiert mit Schiller, kennt die Schriften Lessings, Voltaires, Rousseaus und aller anderen aufklärerischen Philosophen seiner Zeit. Sein Einfluss auf die Philosophie und Geistesgeschichte ist gewaltig. Heute gilt er als der am meisten rezipierte deutsche Philosoph.

Immanuel Kant: Was ist Aufklärung? In: Was ist Aufklärung? Thesen und Definitionen, hrsg. Ehrhard Bähr, Stuttgart, (Reclam Verlag) 1974, S. 9–17

Das Zitat von Johann Friedrich Zöllner entstammt ebenfalls aus der Bährschen Zusammenstellung.