Theodor Fontane: Effi Briest

Nicht so wild, Effi, nicht so leidenschaftlich. Ich beunruhige mich immer, wenn ich dich so sehe. (S. 7)

Dieser Satz, gesprochen von der Mutter von Effi Briest gleich zu Beginn des Romans, legt das Programm fest. Weiter heißt es:

Und die Mama schien ernstlich willens, in Äußerung ihrer Sorgen und Ängste fortzufahren.

Effi ist da kein kleines Kind mehr. Sie ist eine junge Frau von siebzehn Jahren, die nach wie vor streng behütet wird. Baron Geert Instetten, gut zwanzig Jahre älter als sie, hält um ihre Hand an und ohne selbst gefragt zu werden, ist sie am gleichen Tag mit ihm verlobt. Ihr Vater beschreibt, wie er die Verbindung sieht:

Geert, wenn er nicht irre, habe die Bedeutung von einem schlank aufgeschossenen Stamm und Effi sei dann also der Efeu, der sich darumzuranken habe. (S. 17)

So ist das, Effi als Zierde, das ist ihre Zukunftsperspektive.

Schon die Hochzeitsreise zeigt: Da wird etwas schiefgehen. Die Reise führt die beiden nach Italien. Sie besuchen eine Galerie nach der anderen, stehen stundenlang vor Gemälden in Museen und in ihren Briefen an ihre Eltern wird deutlich, dass Effi eigentlich Sehnsucht nach zu Hause hat.

Das Gespräch der Eltern darüber spricht Bände:

Frau von Briest, als sie den Brief vorgelesen hatte, sagte:

Das arme Kind. Sie hat Sehnsucht.“

Ja,“ sagte Briest, „sie hat Sehnsucht. Diese verwünschte Raserei …“

Warum sagst du das jetzt? Du hättest es ja hindern können. Aber das ist so deine Art, hinterher den Feigen zu spielen. Wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist, decken die Ratsherren den Brunnen zu.“

Ach Luise, komm mir doch nicht mit solchen Geschichten. Effi ist unser Kind, aber seit dem dritten Oktober ist sie Baronin Instetten. Und wenn ihr Mann, unser Herr Schwiegersohn, eine Hochzeitsreise machen und bei der Gelegenheit jede Galerie neu katalogisieren will, so kann ich ihn nicht daran hindern. Das ist eben das, was man `sich verheiraten‘ nennt.“

Also jetzt gibst du das zu. Mir gegenüber hast du das immer bestritten, immer bestritten, daß die Frau in einer Zwangslage sei.“

Ja, Luise, das hab ich. Aber wozu das jetzt. Das ist wirklich ein zu weites Feld.“ (S. 39f.)

Ein weites Feld … Günter Grass nimmt dieses Bild als Titel für seinen Wenderoman und knüpft dadurch an Fontane an. Hier wie da steht dieses Bild für ein ausuferndes Thema mit dem kleinen Unterschied, dass bei Fontane noch zu steht: ein zu weites Feld. Diese kleine Nuancierung, ausgesprochen von Briest gegenüber seiner Frau, bedeutet nicht anders als: „Für dich, meine liebe Luise ist dieses Feld zu weit“, eine klare Wertung, die den Gepflogenheiten der Zeit entsprechend, die Ohnmacht der Frau zeigt. Das Gespräch zwischen den Eltern von Effi zeigt aber noch mehr: Ihr Vater sieht die Zwangslage der Frau als gegeben an und ihre Mutter leidet unter dieser genauso wie Effi. Effis Tragik wird durch das Rollenverhalten der Eltern noch verstärkt.

Effi und Instetten kehren von ihrer Reise zurück in eine zweigeteilte Welt mit festen Strukturen: Noch in der Kutsche nach Kessin erklärt Instetten die Unterschiede zwischen Stadt und Land, in denen sich das künftige Leben Effis abspielen sollte. Über die Kessiner sagt er:

Daß sie wirklich gut sind, will ich nicht gerade behaupten, aber sie sind doch anders als die andern; ja sie haben gar keine Ähnlichkeit mit der Landbevölkerung hier.“

Und wie kommt das?“

Weil es eben ganz andere Menschen sind, ihrer Abstammung nach und ihren Beziehungen nach. Was du hier landeinwärts findest, das sind sogenannte Kaschuben, von denen du vielleicht gehört hast, slawische Leute, die hier schon tausend Jahre sitzen und wahrscheinlich noch viel länger. (S. 42)

In der Stadt hingegen wohnen viele auch von fern Eingewanderte, die Handel treiben.

Die ganze Stadt besteht aus solchen Fremden, aus Menschen, deren Eltern oder Großeltern noch ganz woanders saßen.“

Höchst merkwürdig. Bitte sag mir mehr davon. Aber nicht wieder was Gruseliges. Ein Chinese, finde ich, hat immer etwas Gruseliges.“

Ja, das hat er,“ lachte Geert. „Aber der Rest ist, Gott sei Dank, von ganz anderer Art, lauter manierliche Leute, vielleicht ein bißchen zu sehr Kaufmann, ein bißchen zu sehr auf ihren Vorteil bedacht und mit Wechseln von zweifelhaftem Wert immer bei der Hand. Ja, man muss sich vorsehen mit ihnen.“ (S. 43f.)

Von Stadt und kaschubischen Landbewohnern grenzt sich die Adelsgesellschaft ab, auch nochmals zweigeteilt in Land- und Stadtadel. Fontane lässt keinen Zweifel daran, dass sich der Landadel als der eigentlich richtige versteht. Die gesellschaftliche Einteilung ist starr, Veränderungen sind nicht vorgesehen, geschweige denn möglich. Es steht nicht in der Macht des Einzelnen, die gesellschaftlichen Grenzen zu überschreiten. Fontane zeichnet ein sehr genaues Bild, vor welchem gesellschaftlichen Hintergrund sich die Tragödie um Effi abspielt. Machtstellung und Selbstwertgefühl sind fest an Stand, Titel und auch Größe des Grundbesitzes gebunden. Man ist stolz auf Familientraditionen, man denkt in Kategorien von „oben“ und „unten“ und man weiß: Zwischenmenschliche Beziehungen gründen nicht auf Neigung, sondern sind durch Notwendigkeit und Nützlichkeit geprägt.

Daran hängt doch am Ende Leben und Sterben“ (S. 65), so Instetten.

Die Szenen am Anfang des Romans legen die Umgangs- und Verkehrsfrage (S. 64) fest, die klarstellt, unter welchem Erwartungsdruck die Figuren stehen. Rollentypisches Verhalten, ständeadäquate Karrieren und Ehen, das alles ist bereits mit Geburt festgelegt und ein Ausscheren aus diesen Schienen ist gesellschaftlich unmöglich. Individuelle Freiheit gibt es nicht. Die Moral orientiert sich im spätbismarckschen Preußen an Pflicht und Ehre.

Effi kommt in der Welt Instettens an. Sein Haus ist ihr zu dunkel, sie will es umgestalten und sprüht nur so vor Ideen. Instetten hört ihr wohlwollend zu, spricht aber am Ende den Satz:

Es wird aber wohl am besten sein, wir lassen es beim alten.“ (S. 56)

In den kommenden Wochen lernt Effi bei Ausfahrten mit Instetten die Umgebung kennen und merkt schnell, dass ein Leben auf sie wartet, vor dem sie sich fürchtet. Instettens Frage:

Wirst du dich einleben?“ (S. 65) impliziert nicht sein Interesse daran, dass sich Effi wohlfühlt. Nein hier ist der nachfolgende Text eindeutig:

Wirst du populär werden und mir die Majorität sichern, wenn ich in den Reichstag will? Oder bist du für Einsiedlertum, für Abschluß von der Kessiner Menschheit, so Stadt wie Land?“ (S. 65)

Instetten hat hier klare Erwartungen. Effi muss spuren. Sie soll eine Rolle spielen, die ihren Mann weiterbringt. Heute würde man sagen, sie wird für die Karriere des Mannes instrumentalisiert, damals war das etwas, worauf man stolz war.

Ist das ein Thema von gestern, das unsere Gesellschaft gottlob überwunden hat? Beliebe nicht. Wir haben heute keinen Bismarck und auch keinen Kaiser Wilhelm mehr und wollen wirklich nicht zurück in diese Zeit. Wir haben andere Ordnungs- und Wertgefüge und es gibt die standeshomogene Ehe nur noch vereinzelt in westlichen Gesellschaften. Wir haben uns vom Duell verabschiedet, wenn es darum geht, Ehre zu verteidigen. Aber wenn es um die Karriere geht, sind Menschen nach wie vor bereit, sich zu verbiegen und Verträge zu unterschreiben, hinter denen sie im Grunde nicht stehen. Die Gesellschaft hat weiter einen Erwartungsdruck, er ist nicht minder grausam als damals, aber er hat andere Formen. Wie sähe die Effi von heute aus? Was würde sie tun, wenn sie bemerkt, dass sich das nicht erfüllen wird, was sie erwartet hat, dass sie nicht im siebten Himmel, sondern in einem goldenen Käfig gelandet ist? Gibt es heute nach wie vor Frauen, die ihr Leben nach der Karriere des Mannes ausrichten?

Wer Effi Briest heute, fern von jeglichem Schulzwang liest, entdeckt darin brandaktuelle Gesellschaftskritik. Nicht ohne Grund gibt es immer wieder Neuverfilmungen und Versuche, den Roman mit heutigem Blick in Szene zu setzen. In unserer globalisierten Welt gibt es weiter Ehrenmorde und auch nach wie vor die Problematik, dass die Konvention zum Druck für Menschen werden kann.

Die Geschichte von Effi erscheint zwischen 1894 bis 1895 in sechs Folgen in der Deutschen Rundschau und wird 1896 als Roman veröffentlicht. Fontane erzählt im für ihn typischen Stil: auktorial. Ein scheinbar allwissender Erzähler ist am Werk, der mit klar aufgebauten, teils sehr langen Sätzen exakt und atmosphärisch dicht beschreibt, kommentiert und auch wertet. Man hat den Eindruck, jedes Detail ist wichtig und ja, das ist auch so. Gleich zu Beginn wird der Garten des Briestschen Hauses beschrieben, der alles bietet, was das Herz begehrt, aber umrahmt ist von dicken Mauern, die wie ein Gefängnis wirken. Und dieses Bild ist geradezu Sinnbild für Effis Leben, in dem die Mauern um sie im übertragenen Sinn immer höher werden. Aber es wird nicht nur erzählt. Dieser große Gesellschaftsroman besteht weitgehend aus Dialogen, die den auktorialen Erzähler zurücktreten lassen und das Geschehen freigeben für eine personale Erzählhaltung aus der Sicht seiner Hauptfigur Effi. Plaudernd geht es zu wie in allen Romanen Fontanes, plaudernd beschreibt er eine Katastrophe, die sich heute mit anderen Vorzeichen noch genauso abspielen könnte, allein dass heute die Medien beteiligt wären und weiteres Öl ins Feuer gießen würden.

Theodor Fontane (1819-1898) beginnt im Alter von 20 Jahren zu schreiben und stirbt mit 80 Jahren. Das heißt, er hat 60 Jahre geschrieben. An seinem Werk kann man den kulturellen Epochenwandel von der Romantik zum Naturalismus verfolgen. Neben seiner schriftstellerischen Arbeit ist er Auslandskorrespondent, Zeitungsredakteur, Kriegsberichterstatter, Theaterkritiker und von Hause aus Apotheker. Seine sozialkritischen Romane der späten Schaffensperiode gelten als Gipfel seines Werkes. Fontane hat hugenottische Vorfahren und ist sich seiner nicht-deutschen Herkunft sehr bewusst. Daher kommt sehr filigran seine Distanz zum Preußentum zum Ausdruck. Er durchwandert die Mark Brandenburg und schreibt darüber vier Bücher, die bis heute lesenswert sind und darüber hinaus DIE Quelle für seine Romane darstellen, die allesamt in der Mark Brandenburg spielen. Theodor Fontane gehört zu den deutschen Schriftstellern, deren posthumer Ruhm ständig wächst.

Theodor Fontane: Effi Briest, (Hera Verlag) Berlin und Hamburg 1949

Oscar Wilde: Das Bildnis des Dorian Gray

Wir befinden uns im Viktorianischen Großbritannien. Oscar Wilde schreibt 1890 seinen einzigen Roman, den Dorian Gray. Er enthält alles, was für einen Skandal nötig ist und wird auch Gegenstand des Unzuchtsprozesses gegen den homosexuellen Oscar Wilde.

Worum geht es? Dorian, jung, schön und unerfahren, möchte seine jugendliche Ausstrahlung verewigen lassen und lässt sich vom Maler Basil Hallward portraitieren. Der Anblick dieses Bildes in der Werkstatt Basils erweckt die Neugier des zynischen Dandys Lord Harry Wotton, der den jungen, schönen und unerfahrenen Dorian daraufhin in seinen Bann zieht und ihn rücksichtslos zu einem ausschweifenden Leben verführt, in dem Dorian alle moralischen Hemmungen fallen lässt. Mit der Zeit degeneriert Dorians Ebenbild auf dem Gemälde zusehends zur Fratze, wogegen er selbst scheinbar nicht zu altern scheint.

Von Dorian geht eine Faszination aus, die sein Maler Basil gegenüber Harry beschreibt:

Ich drehte mich halb um und sah zum ersten Mal Dorian Gray. Als unsere Blicke sich begegneten, spürte ich, wie ich erbleichte. Mich überfiel eine eigentümliche Panik. Ich wusste, dass ich jemandem gegenüberstand, dessen bloße Persönlichkeit so faszinierend war, dass sie, falls ich es zuließ, meine gesamte Natur, meine ganze Seele, ja meine Kunst selbst fesseln würde. (S. 17)

Basil ist fasziniert von Dorian: Er ist mir jetzt alle meine Kunst. (S. 19)

Für Basil ist es undenkbar, das fertige, sehr gelungene Porträt auszustellen. Und er will auch nicht, dass Harry Dorian kennenlernt, weil er befürchtet, dass dieser einen schlechten Einfluss auf ihn haben könnte:

Verdirb ihn mir nicht. Versuch nicht, ihn zu beeinflussen. Dein Einfluss wäre schlecht. Die Welt ist groß, und viele wunderbare Menschen sind darin. Nimm mir nicht den einen Menschen, der meiner Kunst den Reiz schenkt, den sie eben hat. Von ihm hängt mein Leben als Künstler ab. (S. 27)

Basil, fasziniert von Dorian und auch fasziniert von dem, was er auf die Leinwand gebracht hat, ist hier auch nicht ganz uneigennützig. Er will Dorian nicht an Harry verlieren. Harry und Basil wetten zwar nicht um die Seele von Dorian, aber die Nähe zur Faustthematik liegt auf der Hand. Auch wenn Dorian nicht nach Erkenntnis strebt und metaphysische Erlösungshoffnung kein Thema ist, die Analogie zu Faust ist trotzdem eine von vielen intertextuellen Bezügen im Roman. Intertextualität liegt immer da vor, wo Bezüge zu anderen Texten hergestellt werden können. Je mehr ich lese, desto mehr füllt sich meine ganz eigene literarische Bibliothek im Kopf und desto mehr vergleiche ich Texten miteinander und finde Ähnlichkeiten, Gegensätze, und verknüpfe im Kopf mehr und mehr die Texte. Ein sehr spannendes Thema! Die einzelnen Texte verbinden sich zu meinem ganz persönlichen großen Lebensbuch! Intertextualität ist ein großer und absolut spannender zeitgenössischer Forschungsgegenstand.

Die Verführung Dorians durch Harry nimmt ihren Lauf. Er lernt ihn im Atelier Basils kennen. Dorian fragt:

Haben Sie wirklich so einen schlechten Einfluss, Lord Henry? So schlecht, wie Basil sagt?“

Hier liegt kein Druckfehler vor, im Buch wird der Lord einmal mit „Harry“, das andere Mal „Henry“ genannt. Harry/Henry antwortet:

Einen guten Einfluss gibt es gar nicht, Mr Gray. Jeder Einfluss ist unmoralisch – unmoralisch vom wissenschaftlichen Standpunkt aus gesehen.“

Warum?“

Weil beeinflussen heißt, einem anderen die eigene Seele zu geben. Dann denkt dieser Mensch nicht seine natürlichen Gedanken, brennt nicht mit seiner natürlichen Leidenschaft. Seine Tugenden scheinen ihm nicht als real. Seine Sünden, falls es so etwas wie Sünden gibt, sind geborgt. Er wird zum Echo der Musik eines anderen, zum Schauspieler in einer Rolle, die nicht für ihn geschrieben worden ist. Das Ziel des Lebens ist die eigene Entwicklung. Die eigene Natur vollkommen zu verwirklichen – dazu ist jeder von uns hier. Heutzutage fürchten sich die Leute vor sich selbst.“ (S. 30f.)

Das klingt ja vernünftig, was Harry/Henry hier sagt. Keiner will Echo der Musik eines anderen sein. Jeder möchte seine eigene Rolle spielen, sich weiterentwickeln, sich verwirklichen. Aber was heißt: Heutzutage fürchten sich die Leute vor sich selbst? Dieser Satz fällt bei Dorian auf fruchtbaren Boden. Nein, er will sich nicht vor sich selbst fürchten, er will nicht zu diesen Leuten gehören, er will seinen eigenen Weg gehen. Und dass er genau dies tun solle, das suggeriert die Rede des Lords, die offensichtlich auf fruchtbaren Boden fällt. Basil bemerkt, dass in das Gesicht Dorians ein Ausdruck getreten war, den er dort noch nie gesehen hatte. (S. 30)

Die Verführung des Lords nimmt an Fahrt auf:

… „dennoch glaube ich, sollte ein Mensch sein Leben voll und ganz ausleben, jedem Gefühl Form verleihen, jedem Gedanken Ausdruck, Wirklichkeit jedem Traum – dann, glaube ich, würde die Welt einen solchen frischen freudigen Impuls erhalten, dass wir alle Leiden des mittelalterlichen Geistes vergessen und zum hellenischen Ideal zurückkehren würden, vielleicht gar zu etwas Edlerem, reicherem. Doch bei uns hat noch der Tapferste Angst vor sich selbst. (…) Eine Versuchung wird man nur los, wenn man ihr nachgibt. Widersteht man ihr, wird die Seele krank vor Sehnsucht nach den Dingen, die sie sich versagt hat, vor Verlangen nach dem, was ihre monströsen Gesetze monströs und ungesetzlich gemacht haben. (S. 31f.)

Natürlich will Dorian nicht, dass seine Seele krank vor Sehnsucht nach den Dingen wird, die sie sich versagt hat. Er ist bereit: In ihm ist eine geheime Saite angeschlagen, die noch nie berührt worden war, die nun aber, das spürte er, in seinem eigentümlichen Rhythmus pochte und vibrierte. (S. 31)

Großartig und filigran und das auch noch wunderbar übersetzt von Eike Schönfeld, entblättert hier Oscar Wilde die einzelnen Phasen der Verführung. Wieder haben wir es mit einem eigentlich Unschuldigen zu tun, der aber irgendwo Unzufriedenheit in sich angesammelt hat. Auch hier bei Dorian ist der Punkt erreicht, an dem er sagt: Es muss sich etwas ändern. Ich erwarte mehr vom Leben. Und dann kommt einer und verspricht ihm genau das, was ihm fehlt:

Leben Sie! Leben Sie das wunderbare Leben, das in Ihnen ist! Lassen Sie sich nichts entgehen! Suchen Sie immer nach neuen Empfindungen. Fürchten Sie nichts. … Ein neuer Hedonismus – das braucht unser Jahrhundert! (S. 37)

Diese Sätze könnten aus dem Jahr 2021 stammen, gesprochen von Menschen, die sich durch die Einschränkungen der Pandemie um ihr Leben betrogen fühlen und dazu aufrufen, endlich die Warteposition dieser endlos erscheinenden Zeit zu verlassen, all die Entbehrungen ad acta zu legen und endlich zu leben! Ein neuer Hedonismus … Wer sollte heute seinen Inhalt diktieren?

Dorian blickt sein Porträt an und erkennt:

Wie traurig!“, murmelte Dorian Gray, die Augen weiterhin auf sein Portrait geheftet. „Wie traurig! Ich werde alt werden, scheußlich und widerwärtig. Dieses Bild aber wird immer jung bleiben. Es wird nie älter als an diesem Tag im Juni sein … Wäre es nur umgekehrt! Würde ich nur immer jung bleiben und das Bild altern! Dafür – dafür – würde ich alles geben! Ja es gibt nichts auf der ganzen Welt, das ich nicht gäbe! Meine Seele würde ich dafür geben!“ (S. 41)

Was ist passiert? Dorian will die Gesetze des Lebens neu schreiben. Das Porträt soll altern, er aber nicht. Die äußere Schönheit, der äußere Glanz sind ihm wichtig. Würde er heute leben, ließe er sich trotz Lockdown seinen Friseur und seine Shoppingmeile ins Haus kommen lassen und alles dafür tun, dass zumindest sein Äußeres nicht unter den Einschränkungen des Alltags leiden müsste. Vor lauter Auf-das-Äußere-Blicken merkt Dorian nicht, dass er das eigentlich Wichtige vernachlässigt. Die mahnende Stimme Basils, der sehr wohl sieht, was sich bei Dorian verändert, will er nicht hören. Er ist geradezu besessen von dem, was der Lord ihm in Aussicht stellt, und dessen Aura löst in ihm den starken Drang aus, ins die Fülle des Lebens auszuschöpfen. Demagogie als Form der Verführung. Sie gibt es in allen Bereichen menschlichen Lebens, auch die Geschichte kennt fatalerweise viele Demagogen, die eine Heerschar Anhänger ins Verderben geführt haben.

Dem Lord jedenfalls gelingt es, Dorian in seinen Bann zu ziehen:

Er würde ihn zu dominieren suchen, hatte es ja schon halb getan. Er würde sich diesen wunderbaren Geist zu eigen machen. (S. 54)

Und wenige Seiten später heißt es:

Zu einem Großteil war der Junge seine Schöpfung. Er hatte ihn frühreif gemacht. (S. 79)

Das Fatale ist: Dorian geht es gut dabei. Er genießt skrupellos, er erlebt etwas, nichts spricht dafür, dass er auf die falsche Bahn gekommen ist. Auch hier ist der Verführer mächtig, der Verführte ohnmächtig, er lässt sich verführen, er schlittert mehr oder weniger bewusst in die Abhängigkeit. Und auch hier ist Verführung negativ konnotiert.

Der Trick Wildes ist genial: Nicht Dorian, sondern sein Porträt altert. Porträts kann man auf dem Dachboden lagern und braucht sie nie ansehen, sein eigenes Gesicht muss man dagegen ständig mit sich herumtragen. Ich denke, es gibt genügend Menschen, die gar nicht so traurig wären, wenn sie eine solche Möglichkeit hätten. Dorian schaut sich sein Porträt von Zeit zu Zeit an und vergleicht die sich zum Schlechten verändernden Züge darauf mit seinen eigenen. Aber viel zu spät lernt er die Veränderung des Porträts zu deuten.

Oscar Wilde, geboren 1854 in Dublin, brillanter Student der klassischen Literatur, hat bereits als junger Mann literarische Erfolge. Er ist ein Dandy, sieht sich als Ästhet der Ästheten, lebt und arbeitet in den USA und in Paris, gründet in England eine Familie und erlebt dort den Absturz in die Mittellosigkeit, nachdem der Skandal um sein Verhältnis zu Lord Alfred Douglas bekannt wird. Man verurteilt ihn zu zwei Jahren Zuchthaus. Oscar Wilde stirbt 1900 unter falschem Namen als kranker Mann in Paris. Dort ist er auf dem Friedhof Père Lachaise begraben. Sein Grab war lange übersät von Lippenstift-Küssen heutiger Verehrerinnen. Mittlerweile sind diese Abdrücke verboten, das Grab ist durch eine Glasplatte geschützt.

Oscar Wilde: Das Bildnis des Dorian Gray, übersetzt von Eike Schönfeld, Berlin (Insel Verlag) 2015

Jean-Baptiste Molière: Tartuffe

1664 führt Molière Tartuffe in Versailles auf. Ludwig XIV. ist begeistert, der Erzbischof von Paris entsetzt. Im Tartuffe treffen Macht und Ohnmacht in geradezu teuflischer Weise aufeinander: Der Geistliche Tartuffe hat es auf Elmire, die Gattin von Orgon, abgesehen, schleimt sich in deren Haus ein, verschafft sich den unterwürfigen Respekt des Hausherrn und verfolgt skrupellos sein Ziel, die Hausherrin zu verführen. Molière überschreitet in seiner Komödie alle Grenzen des Anstands und der Sitte, kritisiert überspitzt zeitgenössische Formen religiöser Praxis, und scheut sich nicht, religiöses Heuchlertum komödiantisch auf die Bühne zu bringen. Es war klar, dass dieses Wagnis nur scheitern konnte. Molière muss mehrfach umarbeiten, erst fünf Jahre später erhält er die Rechte zur Aufführung. Am Tartuffe hängt nicht nur sein Ruf, sondern auch seine Existenz. Leider ist nur die letztlich erlaubte Textfassung überliefert: Diese ist mit Sicherheit um ein Vielfaches gegenüber den früheren Versionen abgeschwächt. Aber man kann sagen, dass diese dritte Version den Siegeszug des Stückes durch die Bühnen der Welt begründet. Und klar ist auch, dass der Tartuffe ein Meilenstein der Diskussion um die gesellschaftliche Relevanz von Komödien ist. Molières Botschaft ist eindeutig: Er will die Menschen nicht betrüben, sondern mit den Mitteln der Komik auf ihre Laster aufmerksam machen und sie dadurch läutern.

Wir springen in den dritten Akt, in dem die Hauptfigur Tartuffe erstmalig auftritt. Vorausgegangen ist, dass der Hausherr Orgon geschmeichelt ist, einen so angesehenen Geistlichen in seinem Haus zu empfangen. Es war damals durchaus gängige Praxis in aristokratischen und wohlhabenden Familien, sich geistliche Führer ins Haus zu holen, die dafür Sorge tragen sollten, dass die Familie anständig lebte. Orgon tut alles, um es Tartuffe recht zu machen und ist sogar bereit, seine Tochter Mariane mit ihm zu vermählen, obwohl diese Valère versprochen ist. Orgons Frau Elmire ist verzweifelt. Sie will das Unglück ihrer Tochter verhindern und bittet Tartuffe um ein vertrauliches Gespräch. Bei dieser Gelegenheit zeigt er seine wahren Absichten.

Elmire: Was ich mir wünsche, ist nur ein Gespräch
In dem Ihr Herz sich offen zeigen soll.

Tartuffe: Auch ich erbitte nichts als diese Gunst,
Vor Ihnen meine Seele auszubreiten.

Elmire: So versteh ich‘s
Es war die Sorge um mein Seelenheil.

Tartuffe (preßt ihre Fingerspitzen) Gewiß so groß ist meine Leidenschaft.

Elmire: Au, nicht so fest!

Tartuffe: Das war Übereifer. Denn niemals möcht ich Ihnen wehtun, und ich
Würde viel lieber…

(Er legt ihr die Hand aufs Knie)

Elmire: Was tut Ihre Hand da?

Tartuffe (befühlt ihr Kleid) Der Stoff ist so geschmeidig

Elmire: Um Himmels willen nicht, ich bin so kitzelig.

(Sie rückt mit ihrem Stuhl fort, Tartuffe rückt mit seinem Stuhl nach) (S. 36)

Wortkomik und Situationskomik wechseln sich ab, Elmire durchblickt das Spiel Tartuffes, sie spielt mit, um ihr Ziel zu erreichen. Tartuffe packt alles aus, was er, der Fromme, wo auch immer, an Liebesbekenntnissen gelernt hat. Er ist alles andere als der weltabgewandte Geistliche, er ist zielgerichteter Verführer, dem dabei jedes Mittel recht ist. Die Thematik des lüsternen Geistlichen … Wie viel wäre auch heute zu dieser Thematik zu sagen und wie viel wird auch heute noch darüber tabuisiert!

Immerhin, hier handelt es sich wenigstens nicht um Missbrauch an Kindern. Tartuffe umschmeichelt Elmire, preist sie als vollkommenes Geschöpf, bekennt, dass sein Herz in Liebe entbrannt ist. Ja, er weiß sogar, dass seine Leidenschaft keine Sünde ist und sich sehr wohl mit Sittsamkeit vereinbaren lässt, Elmire sei sein Hoffen, sein Wohl, sein Frieden. Elmires Erstaunen über diese Eröffnung ist nachvollziehbar:

Elmire: Dieses Bekenntnis ist durchaus galant
Doch kommt es mir ein wenig überraschend.
Sollten Sie nicht Ihr Herz viel besser wappnen
Und eine solche Absicht überdenken?
Ein frommer Mann wie Sie, von dem man spricht …

Tartuffe: Bin ich auch fromm, so bin ich doch ein Mann;
Der Anblick Ihrer himmlischen Gestalt
Ergreift das Herz; es denkt nicht lange nach.
(…)

Elmire: Ich höre zu, und mit gewandten Worten
Erklären Sie sich mir recht unverblümt
Fürchten Sie nicht, ich könnte meinem Mann
Von der galanten Leidenschaft erzählen?
(S. 38f.)

Sie ringt Tartuffe das Versprechen ab, ihrem Gatten nichts von Tartuffes Absichten zu erzählen, wenn er, Tartuffe, im Gegenzug auf Mariane verzichtet und deren Verbindung zu Valère unterstützt.

Im 4. Akt, 4. Aufzug, folgt die Fortsetzung dieser Szene. Orgon ist weiter geblendet von der Bigotterie Tartuffes. Um ihn zur Vernunft zu bringen und ihm vor Augen zu führen, um welchen Scharlatan es sich bei Tartuffe handelt, zwingt Elmire ihren Gatten, das folgende Gespräch zu belauschen und auf ihr Zeichen, ein Husten, einzuschreiten. Er muss sich unter dem Tisch verstecken. Molière gestaltet hier eine der schönsten Szenen klassischen Theaters. Gleichzeitig bricht er mit mehreren Tabus: Die Verführung einer verheirateten Frau durch einen Geistlichen vor den Augen des unter dem Tisch sitzenden Ehemanns, ein Glanzstück des Spiels im Spiel, nicht gemacht für devote Zuschaueraugen der Zeit. Die Macht dieser Verführungsszene konterkariert aufs Schärfste die Ohnmacht des gehörnten Ehemanns. Anders als im 3. Akt gibt sich Elmire nun bewusst offen gegenüber Tartuffe, ihre Kalkulation geht auf, Tartuffe kommt in Fahrt:

Tartuffe: Nichts scheint mir köstlicher, als solche Worte
Aus einem Mund zu hören, den man liebt:(…)

Ich traue solchen süßen Reden nicht,
Solange nicht ein Zeichen Ihrer Gunst
Mir das bestätigt, was mir jene sagen (…)

Elmire: (hustet, um ihren Mann aufmerksam zu machen)

Wie denn? In solcher Eile wollen Sie
Die Neigung eines Herzens ganz ausschöpfen. (..)

Tartuffe: Das Unverdiente wagt man nicht zu hoffen,
Und Worte sind kein Pfand für unsere Wünsche.
Um sich für solch ein Los erwählt zu halten,
Muss man genießen, ehe man es glaubt.
(S. 55f.)

Tartuffe verlangt ein sicheres Zeichen der Liebe Elmires. Diese versucht geschickt, ihn daran zu erinnern, dass doch der Himmel einer solchen Verbindung nicht zustimmen würde. Sie hustet und hustet. Orgon scheint das vereinbarte Zeichen vergessen zu haben, er bleibt jedenfalls unsichtbar. Tartuffe wischt die Einwände Elmires regelrecht vom Tisch:

Tartuffe: Die lächerliche Furcht kann ich zerstreuen
Und Ihre Skrupel weiß ich zu beheben
Der Himmel, ja, verbietet manche Freuden
Doch kann man sich mit ihm schon einigen;
Es gibt so eine Lehre, nach Bedarf
Die Bande des Gewissens leicht zu lockern,
Um dann das Schlechte einer Handlung durchaus.
Die Reinheit unserer Absicht gleich zu läutern (…)

Wer im Geheimen sündigt, sündigt nicht.

Elmire (nachdem sie nochmals gehustet hat)

Ich muss mich wohl entschließen nachzugeben
Und muss bereit sein, alles zu gewähren.
(S. 56f.)

Diese letzten Worte sind an beide Männer gerichtet: An Tartuffe, der sich auf dem Tisch nah an sie herangemacht hat und an ihren Mann unter dem Tisch, der sich weiter mucksmäuschenstill verhält. Es dauert noch eine ganze Weile, bis endlich Orgon unter dem Tisch hervorkommt und die Situation eskaliert. Der Skandal nimmt seinen Lauf. Der Verführer ist zwar auf frischer Tat ertappt, aber immer noch glaubt Orgon an das Gute in ihm.

Heutige Tartuffes sind nicht mehr devot in Soutane und mit triefenden Bibelzitaten auf der Bühne, sie sind macht- und geldlüsterne Verführer, die sich mit Unschuldsmiene einschleichen, um bislang klardenkende Menschen in folgsame unterwürfige Opfer zu verwandeln, die bereit sind, alles aufzugeben, um dem vermeintlichen Heil zu folgen. Tartuffe als Verschwörungstheoretiker, Tartuffe als Guru, Tartuffe als Lichtgestalt für ein neues Leben. Man kann sich viele Gesichter vorstellen, hinter denen sich Tartuffe verbirgt.

Alle Tartuffes sind selbstsicher, zynisch und wissen genau, wo Schwachstellen sind. Sie merken z.B., dass der gut situierte Orgon in die Midlife-Crisis gerutscht ist, seine bis dato gut gefestigte Machtposition innerhalb der Familie ins Wanken gerät, die Frau sich mehr und mehr emanzipiert, die Kinder flügge werden und all das macht ihn empfänglich für die Suche nach neuen Perspektiven. Ja, auch Orgon ist ein Opfer Tartuffes, er, der eigentliche Herr im Haus, wird verführt, ohne dass er es bemerkt. Tartuffe braucht seine Soutane oder seine weiße Weste, seine Bibel oder sein Offenbarungsbuch, er braucht aber auch ein Gegenüber, das mitspielt. Ein Gegenüber, das verblendet genug ist, um die Verführung nicht zu bemerken. Er braucht eine Person, die ihm hörig ist, die bereit ist, ihm Frau und Kind und Vermögen zu überlassen, er braucht einen, der auf seine aalglatten Betrügereien hereinfällt und seiner Demagogie auf den Leim geht, frei nach dem Motto: Wem genug der Bart gestreichelt wird, der ist bereit, sein eigenes Todesurteil zu unterschreiben. Tartuffe wird nicht aussterben, er kleidet sich in immer neue Gewänder und er findet verlässlich immer neue Opfer, egal zu welcher Zeit.

Molière (1622-1673) ist D E R große Komödiendichter Frankreichs. Bevor ihm mit den Précieuses Ridicules (Die lächerlichen Kleinodien) 1659 der Durchbruch gelingt, tingelt er mit seiner Truppe durch Frankreich, immer auf der Suche nach einem Gönner. Zu seiner Zeit wurden Schauspieler durch Exkommunikation gebrandmarkt und waren vollends von ihrem jeweiligen Mäzen abhängig. Mit der Ecole des femmes (Schule der Frauen) aus dem Jahr 1662 erwirbt er sich die Gunst des Königs und dieser wird sein Auftraggeber. Um diese Gunst zu behalten, muss Molière den Geschmack des Königs genau treffen und einen regelrechten Frondienst für ihn leisten, ein Stück nach dem anderen schreiben und mit seiner Truppe immer dort sein, wo der König gerade weilt. Molières Erfolgsdruck ist gewaltig. Er hält diesem Druck nicht stand, unterliegt im Kampf mit seinem Rivalen Lully und kommt durch die Auseinandersetzungen um den Tartuffe an physische und psychische Grenzen. Molière stirbt nach der 4. Aufführung des Malade imaginaire (Der eingebildete Kranke), den er selbst interpretiert und fällt vom einst gefeierten Arrangeur königlicher Zerstreuung auf den Status des aus der Kirche ausgestoßenen Asozialen. Molières Themen sind zeitlos. 2022 wird dem 400. Geburtstag Molières gedacht. Es wäre mehr als wünschenswert, wenn viele seiner Stücke für unsere Zeit neu interpretiert auf die Bühnen kämen.

Jean-Baptiste Molière: Tartuffe, übersetzt von Monika Fahrenbach-Wachendorf, Stuttgart (Reclam) 1989

Brüder Grimm: Lebenszeit

Als Gott die Welt geschaffen hatte und allen Kreaturen ihre Lebenszeit bestimmen wollte, kam der Esel und fragte ‚Herr, wie lange soll ich leben?‘ ‚Dreißig Jahre,‘ antwortete Gott, ‚ist dir das recht?‘ ‚Ach Herr,‘ erwiderte der Esel, ‚das ist eine lange Zeit. Bedenke mein mühseliges Dasein: von Morgen bis in die Nacht schwere Lasten tragen, Kornsäcke in die Mühle schleppen, damit andere das Brot essen, mit nichts als mit Schlägen und Fußtritten ermuntert und aufgefrischt zu werden! Erlaß mir einen Teil der langen Zeit.‘ Da erbarmte sich Gott und schenkte ihm achtzehn Jahre. Der Esel ging getröstet weg, und der Hund erschien. ‚Wie lange willst du leben?‘ sprach Gott zu ihm, ‚dem Esel sind dreißig Jahre zu viel, du aber wirst damit zufrieden sein.‘ ‚Herr,‘ antwortete der Hund, ‚ist das dein Wille? bedenke, was ich laufen muss, das halten meine Füße so lange nicht aus; und habe ich erst die Stimme zum Bellen verloren und die Zähne zum Beißen, was bleibt mir übrig, als aus einer Ecke in die andere zu laufen und zu knurren?‘ Gott sah, dass er recht hatte, und erließ ihm zwölf Jahre. Darauf kam der Affe. ‚Du willst wohl gerne dreißig Jahre leben?‘ sprach der Herr zu ihm, ‚du brauchst nicht zu arbeiten wie der Esel und der Hund, und bist immer guter Dinge.‘ ‚Ach Herr,‘ antwortete er, ‚das sieht so aus, ist aber anders. Wenn‘s Hirsenbrei regnet, habe ich keinen Löffel. Ich soll immer lustige Streiche machen, Gesichter schneiden, damit die Leute lachen, und wenn sie mir einen Apfel reichen und ich beiße hinein, so ist er sauer. Wie oft steckt die Traurigkeit hinter dem Spaß! Dreißig Jahre halte ich das nicht aus.‘ Gott war gnädig und schenkte ihm zehn Jahre.

Endlich erschien der Mensch, war freudig, gesund und frisch und bat Gott, ihm seine Zeit zu bestimmen. ‚Dreißig Jahre sollst du leben,‘ sprach der Herr, ‚ist dir das genug?‘ ‚Welch eine kurze Zeit!‘ rief der Mensch, ‚wenn ich mein Haus gebaut habe, und das Feuer auf meinem eigenen Herde brennt: wenn ich Bäume gepflanzt habe, die blühen und Früchte tragen, und ich meines Lebens froh zu werden gedenke, so soll ich sterben! oO Herr, verlängere meine Zeit.‘ ‚Ich will dir die achtzehn Jahre des Esels zulegen,‘ sagte Gott. ‚Das ist nicht genug,‘ erwiderte der Mensch. ‚Du sollst auch die zwölf Jahre des Hundes haben.‘ ‚Immer noch zu wenig.‘ ‚Wohlan,‘ sagte Gott, ‚ich will dir noch die zehn Jahre des Affen geben, aber mehr erhältst du nicht.‘ Der Mensch ging fort, war aber nicht zufriedengestellt.
Also lebt der Mensch siebzig Jahr. Die ersten dreißig sind seine menschlichen Jahre, die gehen schnell dahin; da ist er gesund, heiter, arbeitet mit Lust und freut sich seines Daseins. Hierauf folgen die achtzehn Jahre des Esels, da wird ihm eine Last nach der andern aufgelegt: er muss das Korn tragen, das andere nährt, und Schläge und Tritte sind der Lohn seiner treuen Dienste. Dann kommen die zwölf Jahre des Hundes, da liegt er in den Ecken, knurrt und hat keine Zähne mehr zum Beißen. Und wenn diese Zeit vorüber ist, so machen die zehn Jahre des Affen den Beschluss. Da ist der Mensch schwachköpfig und närrisch, treibt alberne Dinge und wird ein Spott der Kinder.

Jetzt wird wohl jeder schmunzeln und mancher, der vielleicht nicht allzu viel vom achten Lebensjahrzehnt weg ist, wird denken: „Was soll das denn? Mit siebzig ist man doch kein alter „Affe“. Stimmt! Aber stimmt nicht für die Zeit der Brüder Grimm. Da waren siebzig Jahre ein hohes Alter. Die dem Menschen gegebene übliche Lebenszeit war deutlich kürzer. Die Brüder Grimm selbst sind Ausnahmen: Jacob Grimm stirbt im Alter von 78 Jahren, sein Bruder Wilhelm wird 75 Jahre. Sie galten damals wahrlich als Greise, was man heute über Siebzigjährige wirklich nicht mehr sagen kann.

Um 1800 betrug die statistische Lebenserwartung vierzig Jahre. Mit vierzig fangen heute viele erst mit der Kinderplanung an. Wie viele Väter gibt es, die jenseits der 80 sind! Ich will mich zwar nicht als Mutter eines pubertierenden Görs vorstellen, wenn ich 60+ bin, aber mit Hilfe medizinischer Tricksereien wäre das heute schon möglich. Damals hätte es nicht binnen weniger Monate Impfstoffe gegen eine Pandemie gegeben, die Dimension einer solchen Seuche wäre um ein Vielfaches größer gewesen. Oh, was bin ich froh, dass ich heute lebe!

Man kann nicht sagen, dass die Gebrüder Grimm besonders für ihren Humor bekannt sind. Aber in diesem Märchen spiegelt er sich. Die Menschen kommen nicht gut weg dabei. Gruselig die Vorstellung vom Menschen, der nicht genug kriegen kann an Jahren und letztlich als zahnloser Alter nur noch Grimassen zieht und sich zum Gespött macht.

Das Märchen beginnt mit der Schöpfungsgeschichte. Gott erschafft die Welt und teilt jeweils Lebenszeit zu. Er geht dabei nach dem Gleichheitsprinzip vor: Jeder soll die gleiche Anzahl von Jahren bekommen, egal ob Esel, Hund, Affe oder Mensch: Jedem gibt er dreißig Jahre. In allen Märchen wird gern mit Symbolen gearbeitet. Die Tiere sind Symbole, die mit ihren Eigenschaften den Menschen spiegeln und ihn in ein bestimmtes Licht rücken. Der Esel steht für die ganze Last der täglichen Arbeit. Er plagt sich ab, kriegt dafür kaum Anerkennung und will nicht noch länger von Morgen bis in die Nacht schwere Lasten tragen, Kornsäcke in die Mühle schleppen, damit andere das Brot essen mit nichts als mit Schlägen und Fußtritten ermuntert und aufgefrischt werden. Diese Plackerei ist wirklich nicht das, was sich der Esel vom Leben vorstellt, und daher bittet er Gott, ihm achtzehn Jahre zu erlassen. Der dumme Esel ist hier ein sehr kluger. Ich weiß nur nicht, warum die Gebrüder Grimm gerade einen Esel auftreten lassen. Ein solcher kann nun einmal weitaus älter als dreißig Jahre werden. Jedenfalls macht ihn die Aussicht zufrieden, dass er achtzehn Jahre weniger dieser Plackerei von Gott in Aussicht gestellt bekommt. Die Zeit des Esels steht für die Zeit des Arbeitslebens, in dem all das aufgebaut werden muss, was die eigene und die nächsten Generationen am Leben hält.

Als nächstes kommt der Hund an die Reihe, den Gott sogar fragt: Wie lange willst du leben? Und auch der Hund erweist sich als klug, verweist auf seine kurzen Beine und die große Anzahl an Schritten, die er in dreißig Jahren machen müsse, und bittet um Verkürzung, weil er sich nicht als lahmer knurrender Alter von einer zur anderen Ecke schleppen will. Auch hier ist Gott gnädig und erlässt ihm zwölf Jahre. Das ist wiederum realistisch, denn Hunde können gut achtzehn Jahre alt werden. Die Zeit des Hundes steht für das Leben, in dem körperliche Kräfte schwinden, keine Aufgaben und oft auch kein Sinn mehr da zu sein scheinen und die Kraft fürs Beißen und Bellen nicht mehr reicht. Die schöne Redewendung: „Auf den Hund gekommen“, besagt, in bedauernswerte Umstände gekommen zu sein.

Letztlich geht es um den Affen, den Clown unter den Tieren, dessen Rolle es gemeinhin ist, Späße zu machen. Aber der Affe will diese Rolle nicht spielen, ihm ist der Druck zu groß, immer anderen zu gefallen. Er bittet um zehn Jahre weniger, und auch hier ist Gott gnädig und gewährt ihm die Verkürzung. Der närrische Affe steht für die Zeit, in der auch die geistigen Kräfte nachlassen und es nur noch kindisch zugeht. Das Wort Alzheimer war den Brüdern Grimm noch kein Begriff.

Alle drei Tiere sind klug, kann man sagen lebensklug? Sie überschätzen sich nicht und kalkulieren mit Vernunft. Jetzt kommt die Krönung der Schöpfung dran, der Mensch. Er findet, er habe viel zu wenig Lebenszeit erhalten. Gott schenkt ihm die achtzehn Jahre, die er dem Esel, die zwölf Jahre, die er dem Hund, und die zehn Jahre, die er dem Affen erlassen hat. Zu den ursprünglich vorgeschlagenen dreißig Jahren erhält der Mensch nochmals vierzig Jahre dazu, aber auch mit diesem Angebot ist er nicht zufrieden. Gott gibt sie ihm trotzdem. Was ist das Ergebnis? Der Mensch schuftet bis zum Rentenalter, fällt dann ins Loch und wird letztlich närrisch. Keine schöne Aussichten!

Welches Angebot hätte diesen Menschen zufriedenstellen können? Würden die Gebrüder Grimm heute leben, hätten sie vielleicht das Märchen weiterschreiben können. Das neue Märchen zur Lebenszeit wird gerade im Silicon Valley geschrieben. Auf die Frage Gottes, wie lange der Mensch denn leben wolle, hätte der Mensch heute vielleicht geantwortet: „Ewig!“ Viel Geld fließt seit Jahren in Forschungen, die den Menschen unsterblich machen sollen. Larry Ellison, der Gründer von Oracle, einem der größten Anbieter auf dem IT-Markt, hat eine Stiftung ins Leben gerufen, die sich vorrangig mit der Frage beschäftigt, wie man die biologischen Prozesse des Älterwerdens aufhalten kann, und er hat in diese bislang weit über 430 Millionen Dollar investiert. Larry Page, Mitbegründer von Google, will das Altern heilen und unterstützt die Anti-Aging-Forschung mit einem doppelt so hohen Betrag. 2013 sorgte seine „Calico“ (California Life Company) für Schlagzeilen, als es ihr gelang, das Leben eines Regenwurms zu verlängern. Das klingt banal, aber wenn die Methode funktioniert, könnte der Mensch irgendwann 400 oder 500 Jahre alt werden. Ich verzichte auf weitere Beispiele der innovativen Erforschung des ewigen Jungbrunnens. Es gibt viele, die in die gleiche Richtung gehen.

Ist das Märchen also heute out? Müsste es neu geschrieben werden? Warum nicht? Welche Stellung hätte dann der Mensch? Die eines Demiurgen, der letztlich am Hebel sitzt und alles planen kann? Ich weiß gar nicht, ob ich ein solcher sein wollte. Ich denke, ich begnüge mich damit, Vorsorge zu treffen, dass ich nicht als dummer Esel ein Hundeleben führen muss, in dem ich dann auch noch zum Affen werde.

Die Brüder Grimm sind bekannt für ihre Hausmärchen, die sie aus dem Volksgut gesammelt haben. Sie haben aufgeschrieben, was über Generationen erzählt wurde. Zwischen 1812 und 1858 geben sie ihre umfangreiche Sammlung heraus und prägen den Stil des Märchens bis heute. Märchen waren ursprünglich für Erwachsene gedacht und die Lebenszeit ist auch wirklich kein Stoff für Kinder. Ich kann mir aber gut vorstellen, dass sie ab einem bestimmten Alter sehr wohl den Bezug herstellen können zu Mama und Papa, die viel zu viel arbeiten, abends oder am Wochenende in den Seilen hängen statt für lustige Spiele aufgelegt zu sein und ab und zu dann einfach die Sau rauslassen und sich so zum Affen machen.

Jakob Grimm, Wilhelm Grimm: Kinder- und Hausmärchen. Mit einem Anhang sämtlicher, nicht in allen Auflagen veröffentlichter Märchen und Herkunftsnachweisen. Hrsg.: Heinz Rölleke 1. Auflage. Originalanmerkungen, Herkunftsnachweise, Nachwort (Band 3). Reclam, Stuttgart 1980, S. 260

Andreas Gryphius: Es ist alles eitel

Du sihst/ wohin du sihst nur Eitelkeit auff Erden.
Was dieser heute baut/ reist jener morgen ein:
Wo itzund Städte stehn/ wird eine Wiesen seyn/
Auff der ein Schäfers-Kind wird spielen mit den Herden.

Was itzund prächtig blüht/ sol bald zutretten werden.
Was itzt so pocht vnd trotzt ist morgen Asch vnd Bein/
Nichts ist/ das ewig sey/ kein Ertz/ kein Marmorstein.
Itzt lacht das Glück vns an/ bald donnern die Beschwerden.

Der hohen Thaten Ruhm muß wie ein Traum vergehn.
Soll denn das Spiel der Zeit/ der leichte Mensch bestehn?
Ach! was ist alles diß/ was wir vor köstlich achten/

Als schlechte Nichtigkeit/ als Schatten/ Staub vnd Wind;
Als eine Wiesen-Blum/ die man nicht wider find’t.
Noch wil was ewig ist/ kein einig Mensch betrachten!

„J‘en ai marre!“ Mit dem Gedanken bin ich heute in den Tag gestartet. „Ich habe die Nase voll!“ Französisch klingt, wie so oft, schöner. Die Pandemie zieht sich zäh durch die Tage, im Gegensatz zum ersten Lockdown ist das Wetter hauptsächlich schlecht, wann wieder einmal ein gemeinsames Treffen mit fetzigen literarischen Diskussionen vor Ort stattfinden kann, steht in den Sternen, etc. „J‘en ai marre!“

Mein zweiter Gedanke war dann aber wieder besser. „Alles fließt!“, die große Erkenntnis Heraklits, die ihn zwar fast zum Wahnsinn gebracht hätte, weil ihm klar wurde, dass er nichts festhalten kann, ist eine segensreiche Botschaft in solch zäher Zeit wie der jetzigen. Nichts bleibt, alles verändert sich. Das hier ist kein Dauerzustand. Wie oft war in den Jahresrückblicken für 2020 zu hören: Ein verlorenes Jahr. Ein Jahr zum Ausradieren, noch dazu ein Schaltjahr, das einen Tag länger gedauert hat. Woher kommt so eine Einschätzung? Ich finde sie absurd.

In der Geschichte gibt es viele leidgeprüfte Epochen. Ich nehme heute ein Gedicht von Andreas Gryphius aus dem dreißigjährigen Krieg, in dem sich die Haltung gegenüber seiner erbarmungslosen Zeit spiegelt. Die Datierung variiert je nach Quelle, sicher ist, dass es irgendwann zwischen 1637 und 1643 entstand. Der dreißigjährige Krieg tobt, seine Brutalität und die lange Dauer hat die Menschen verändert, Hoffnung auf schnelle Besserung gibt es nicht. Noch dazu ist die Gesellschaft gespalten. Während absolutistische Könige ihre Macht entfalten und ein höfisches Leben im Überfluss führen, lebt der größte Teil der Menschheit in Fron und Leibeigenschaft und führt ein Alltagsleben geprägt von Angst vor Tod und Krankheit. Diese Gegensätze bilden sich in der gesamten Literatur des Barock ab: Dem „carpe diem“ und dem „memento mori“ steht die „vanitas“ gegenüber. Zum einen will man leben, will fühlen, will genießen, man will den Tag pflücken und im Angesicht dessen, dass der Tod kommt, richtig leben. Zum anderen ist da das Wissen um die Nichtigkeit hiesigen Daseins, die sich im Vanitasgedanken bündelt. Die Menschen leben in Angst vor dem Moment, in dem sie vor Gottes Angesicht zu treten haben und dort dann Rechenschaft ablegen müssen über das gelebte Leben. Die Spielregeln sind klar: Der einfache Mensch ist ohnmächtig, für ihn muss das „carpe diem“ geradezu einen zynischen Klang haben. Hingegen ist der Fürst oder Herrscher mächtig mit entsprechend anderen Möglichkeiten, das Leben zu leben. Alle, unabhängig vom Rang, haben aber den Tod vor Augen und mit ihm das dann folgende göttliche Gericht. Auch hier setzen sich die Gegensätze fort: Auf der ohnmächtigen Seite steht der Mensch, auf der mächtigen, der ewigen Seite, steht Gott.

Wir sind weit weg vom Barock. Die damals gültigen Gegensätze gelten schon lang nicht mehr. Können wir diese Epoche wirklich verstehen? Vielleicht hilft uns Gryphius in seinem Gedicht. Ihm geht es darin vorwiegend um die Eitelkeit, die „vanitas“. Zu seiner Zeit war Eitelkeit nicht gleichbedeutend mit Arroganz und Hochnäsigkeit sondern meinte vor allem Nichtigkeit, Wertlosigkeit. Dieses Motiv findet sich in vielen Gedichten der Zeit und zielt auf alles, was vergänglich ist, was keinen Bestand hat, was mit hehren Zielen erbaut, sich dann als Blase erweist. Gryphius beschreibt die Veränderung in der ersten Strophe: Was einer baut, reißt der andere wieder ein, Städte werden wieder zu Wiesen. Man könnte stutzen, eigentlich lief die Entwicklung ja anders, aber derzeit sieht es eher danach aus, dass Innenstädte veröden und wer weiß, vielleicht werden wirklich einmal wieder Wiesen aus ihnen, weil es die Menschen aus der Stadt aufs Land getrieben hat und die Menschen im homeoffice lieber ins Grüne blicken als auf Betonbauten. Wir wissen, dass sich die Natur zurückholt, was der Mensch verlassen hat. Alles ist vergänglich. Die doppelte Leseranrede gleich zu Beginn fällt auf: Du sihst wohin Du sihst. Zweimal „Du“, zweimal „siehst“, eine klare Aufforderung zum aufmerksamen Wahrnehmen.

Die zweite Strophe erweitert die Bilder: Was heute blüht, wird morgen zertreten, die Mühe von heute, Was itzt so pocht und trotzt, ist morgen Asch vnd Bein. Wo heute Glück sind morgen Beschwerden. Gegenwart und Zukunft werden gegenübergestellt und dadurch bewertet. Im letzten Vers der zweiten Strophe werden Glück und Beschwerden personifiziert, es geht ums lachende Glück und die donnernden Beschwerden, das eine kommt, das andere geht. Gryphius nutzt hier Oxymora, also Komposita, die Gegensätze vereinen, sie dadurch grotesk verzerren und ihre Wirkung verstärken. Man spürt geradezu das bedrohliche Grollen des Donners, der das Leben schwer macht. Da braut sich etwas zusammen zu einem Unwetter. Wesentlich ist, dass nichts bleibt, dass sich alles verändert, dass nichts für die Ewigkeit gemacht ist. Die hier genutzten Bilder können durch Bilder ersetzt werden, die für uns heute gültig sind. Stimmt, kann ich sagen, ich habe einmal Kurzschrift gelernt, das kommt mir heute vor wie ein Relikt aus einer vorvergangenen Zeit. Wer braucht so ein Wissen heute noch? Aber so lang ist das nicht her. Ich habe gelernt, wie ein Auto zu fahren ist. Meine Enkel werden vielleicht nur noch lernen, wie man selbständig fahrende Autos startet und ihnen ein Ziel eingibt. Nichts ist für die Ewigkeit gemacht.

Die dritte und vierte Strophe sind durch ein Enjambement verbunden, das heißt, sie sind nur formal getrennt, bilden aber eine inhaltliche Einheit. Sie können als Kommentar der beiden ersten Strophen gelesen werden und beginnen mit einem Vergleich. Der hohen Thaten Ruhm muss wie ein Traum vergehn. Das heißt nichts anderes als Ruhm ist Schall und Rauch, schnell ist er vorbei im Spiel der Zeit. Was ist das Spiel der Zeit?In der Metapher steckt die Vorstellung, dass die Zeit mit mir spielt, dass ich nicht Herrin über sie bin, dass ich ihr gegenüber eher ohnmächtig bin. Die Zeit wird immer gewinnen, sie ist im Gegensatz zum Menschen unendlich. Die rhetorische Frage in der dritten Strophe: Soll denn das Spiel der Zeit der leichte Mensch bestehn? wird durch das Ach! was ist alles diß noch verstärkt. Ach, ein Seufzer, der die Verzweiflung spiegelt. Gryphius fragt hier nach dem Sinn, den der Mensch, leichtfüßig wie er ist, wohl kaum wirklich begreifen kann.

In der letzten Strophe steht eine Akkumulation von Begriffen zur Vergänglichkeit: Schatten, Staub, Wind. Vergänglichkeit hatte im Barock viele Namen und wurde mittels vieler Bilder ausgedrückt. In der Kunst tauchen z.B. immer wieder Sand- und auch Sonnenuhren auf. Auch die Blumenwiese vergeht und ist nicht wieder zu finden. Alles, was dem Menschen kostbar war, ist vergänglich und damit nichtig: Was ist alles diß… als schlechte Nichtigkeit. Meine Nackenhaare sträuben sich, aber ich weiß ja, wir sind im Barock. Welche Botschaft hat ein solches Gedicht für die leidgeprüften Menschen dieser Zeit? Was kann der Mensch machen, um dieser Nichtigkeit zu entfliehen, die ihm seine Ohnmacht immer wieder vor Augen führt? Er möchte bitte das betrachten, so meint Gryphius, was ewig ist. Für den barocken gottesfürchtigen Mensch war klar, was mit diesen Zeilen gemeint war: Der Mensch soll sich um das kümmern, was ihn rettet, er soll sich nicht an dem orientieren, was vergänglich ist. Hier ist sie, die von heute aus gesehen klare Keule, die Leben in gelungen und vergeudet scheidet. Nur der Gottesfürchtige, der dementsprechend lebt, der kümmert sich um das „Ewige“. Bedeutend ist hier das kleine Wort noch. Dieses zeigt an, dass Gryphius die Hoffnung nicht aufgegeben hat, dass sich der Mensch ändern kann. Gryphius sieht den Menschen machtlos der Zeit gegenüber. Er wähnt sich klug, ist es aber nicht. Er versucht, die Natur zu beherrschen, aber die Natur wehrt sich. Noch will der Mensch nicht das Ewige betrachten, noch ist er in der Verblendung, aber es ist nicht ausgeschlossen, dass er einen Ausweg findet. Ein gelebtes Jahr, auch eines, das sich zäh dahinschleicht und Pläne permanent durchkreuzt, ist trotzdem ein wichtiges Jahr aus barocker Sicht. Die Bedrohlichkeit von Vergänglichkeit hat heute abgenommen. Es gibt viele Mittel gegen sie anzugehen, nicht zuletzt all die Anti-Aging-Programme. Die Menschen dieser Epoche kannten nicht nur Krieg, sie kannten auch Seuchen. Diese dauerten Jahre und wüteten grausam. Mir kommt jetzt mein „j‘en ai marre“ nach wenigen Monaten Pandemie in den Sinn. Ich glaube nicht, dass ich gut gerüstet gewesen wäre für ein Leben zu dieser Zeit.

Formal haben wir es bei dem Gedicht mit der Königsform des Barock zu tun: dem Sonett. Hier ist es sogar auf einen Klimax ausgerichtet, also auf einen Höhepunkt. Kein Dichter von Rang und Namen kam um diese Form herum. Sie verlangt akribische Arbeit, da die Struktur klar festgelegt ist. Ein Sonett besteht immer aus 14 Zeilen, beginnend mit zwei Quartetten, denen zwei Terzette folgen. Die Versform ist der Alexandriner, der aus sechs Jamben mit Zäsur nach dem dritten Versfuß besteht. Meist, so auch hier, wird zunächst der umschließende Reim (abba) verwendet, d.h., die erste Zeile reimt mit der vierten und die zweite Zeile mit der dritten. In den Terzetten herrscht, so auch hier, der Schweifreim vor (ccd eed) d.h. die ersten beiden Zeilen der Terzette reimen und die dritte Zeile des ersten Terzetts reimt mit der dritten Zeile des zweiten Terzetts. Männliche und weibliche Kadenzen wechseln einander ab, männliche sind einsilbig, weibliche zwei- oder mehrsilbig, d.h. komplizierter. Wer auf eine solche Benennung kam, weiß ich nicht.

Andreas Gryphius wird 1618 in Glogau (heute Glogow, Polen) geboren. Er ist Sohn eines lutherischen Diakons, der kurz nach seiner Geburt stirbt, und verliert im Alter von 9 Jahren auch seine Mutter. Gryphius erlebt als Kind die Zwangsrekatholisierung der Region mit allen brutalen Konsequenzen, studiert im weltoffenen Danzig, wird Hauslehrer beim Ritter von Schönborn nahe Freyberg und begleitet dessen Söhne zum Studium nach Leiden, eine der fortschrittlichsten Universitäten der Zeit. Dort hört er die Vorlesungen von Descartes, dem Schöpfer der modernen Philosophie mit seiner blasphemischen Forderung: „Ich denke, also bin ich.“ Gryphius bricht zu einer damals üblichen Kavalierstour durch Frankreich und Italien auf, um die Welt zu sehen und erlebt wahrscheinlich in Angers den Einzug der aus England geflogenen Königin Henrietta Maria. Er kehrt zurück nach Schlesien, gründet eine Familie, wird Syndikus der Landesstände, schreibt unermüdlich und mit Erfolg, wird Mitglied der „Fruchtbringenden Gesellschaft“, der ersten deutschen Sprachakademie und stirbt 1664 an einem Schlaganfall. Heute gilt er als einer der bedeutendsten Lyriker des Barock.

Der Text ist entnommen: Der Kanon. Die deutscher Literatur. Gedichte, Bd 1, hg. v. Marcel Reich-Ranicki, Frankfurt (Insel Verlag) 2005

Seneca: Von der Seelenruhe

Aber nimm an, du seiest in eine schwierige Lebenslage geraten und das Schicksal habe dir, sei es im häuslichen oder im öffentlichen Leben, wider alles Vermuten eine Schlinge umgeworfen, die du weder lösen noch zerreißen kannst, so denken die Gefesselten: Anfangs wird es ihnen schwer, sich mit ihrer Last und den hemmenden Fußketten zurecht zu finden; haben sie aber einmal den Vorsatz gefasst, statt darüber in Wut zu geraten, sich in ihr Schicksal zu fügen, so lehrt sie die Not, das Unvermeidliche tapfer, die Gewohnheit, es leichter zu tragen. In keiner Lebenslage wird es dir an Aufmunterungen, Erholungen und Aufheiterungen fehlen, wenn du es über dich gewinnst, das Schlimme lieber erträglich zu halten, als es dir verhasst zu machen. […]

Niemand würde es aushalten, wenn das Unglück bei weiterer Fortdauer immer dieselbe Kraft hätte wie beim ersten Schlag. Wir alle sind an das Schicksal gekettet, die einen mit goldener und gefügiger Kette, die anderen mit eng anschließender und rostiger; doch was kommt darauf an? Wir alle, ohne Unterschied, leben in einer Art Gefangenschaft, und angebunden sind auch die, die uns angebunden haben, […]. Den einen fesseln Ehrenstellen, den anderen Reichtum; einige leiden unter ihrer vornehmen Geburt, andere unter dem Gegenteil; manche müssen sich fremde Herrschsucht gefallen lassen, manche hinwiederum sind Opfer der eigenen.[…]

Darum gilt es, sich an seine Lage zu gewöhnen, so wenig als möglich zu klagen und keine Erleichterung, die es etwa bietet, unbenutzt zu lassen. […]

Hüten wir uns vor dem Neid gegen Höherstehende. […]

Wir dürfen nicht unnütze Ziele verfolgen und dürfen unsere Bemühungen nicht nutzlos verschwenden; das heißt, wir dürfen unsere Wünsche nicht auf Dinge richten, die für uns unerreichbar sind, und dürfen uns andererseits nicht in die Lage bringen, nach Durchsetzung unserer leidenschaftlichen Wünsche, die Nichtigkeit derselben zu spät unter tiefer Scham einzusehen. […] Aufhören muss man mit dem ewigen Hin- und Herrennen, das so viele Menschen in Atem hält.

Denn wer sich auf Vielerlei einlässt, der gibt dem Schicksal häufig Macht über sich, dem gegenüber das sicherste ist, sich nur selten mit ihm auf Proben einzulassen, wenn man auch immer an es denken und sich nichts von seiner Zuverlässigkeit versprechen soll. (S. 35f.)

De trancillitate animi, dt. Über die Seelenruhe, ist ein Traktat des ca. sechzigjährigen Seneca, den er um das Jahr 60 n. Chr. schreibt. Er antwortet in ihm seinem Freund Serenus, der einige Jahre jünger als er selbst ist. Serenus fühlt sich zwischen den stoischen Vorschriften und den Reizen der Welt hin- und hergerissen. Er möchte endlich zufrieden durchs Leben gehen, erreicht aber trotz aller Mühe einfach nicht die Unerschütterlichkeit, die in der stoischen Philosophie angestrebt werden soll. Der Traktat beginnt mit einem Brief von Serenus an Seneca, in dem er klare Fragen stellt und in dem er seinen Seelenzustand folgendermaßen umreißt:

Weder unbedingt frei fühlte ich mich von den Fehlern, die ich fürchtete und hasste, noch auch andererseits völlig in ihrer Gewalt. Ich befinde mich also, wenn auch nicht gerade in der schlimmsten, so doch in einer höchst kläglichen und verdrießlichen Lage: ich bin weder krank noch gesund. (S. 7)

Serenus, das Land vor Augen (S. 13), leidet Not. Er ist unzufrieden und zweifelt daran, dass er die richtige Lebensweise gefunden hat, fühlt sich überfordert mit allem, was von ihm erwartet wird, es ist ihm alles zu viel, der Luxus der Gesellschaft, die Sucht nach Ehrenstellungen, die Verpflichtungen im gesellschaftlichen Leben. Serenus steht vor der roten Ampel und fühlt sich ohnmächtig, das eigene Leben gut zu regeln. Eine Klage auf hohem Niveau, könnte man sagen. Ja, durchaus, aber das würde Serenus nicht weiterhelfen. Er sucht keine Abwechslung, er sucht einen Ausweg. Heute würde er zum Psychologen gehen. In der Antike, insbesondere in der römischen, versuchte man, die stoischen Lehren zu verstehen und daraus einen Wegweiser für sich zu entwickeln. Der Traktat hat eine Länge von gut fünfzig Seiten und gehört zu den großen Schriften Senecas.

Seneca antwortet ausführlich, und er packt die gesamte stoische Weisheit in seine Antworten. Wir brauchen kein großes Vorstellungsvermögen, um die Gedanken, die Seneca vor gut 2000 Jahren formuliert hat, auch heute anzuwenden. Er hat eine klare Sprache, die selbst schlechte Übersetzungen nicht kaputtkriegen.

Auch wir sind gefangen, derzeit mehr als sonst, leben isoliert in unseren Wohnungen und fühlen uns angesichts all der Gefahren, die die Pandemie mit sich bringt, ohnmächtig. Das Warten darauf, dass es besser wird, dauert schon lang. Mehr, als sich an die gegebenen Regeln halten, kann man kaum tun. Die Fußfesseln sitzen fest und keiner will dauerhaft mit ihnen leben. Es zeigt sich aber, dass damals wie heute der Schlüssel, um so eine zähe Zeit zu meistern, offensichtlich im Kopf liegt. Das Schicksal hat zugeschlagen, hat eine Schlinge umgeworfen, die du weder lösen noch zerreißen kannst. Schön ausgedrückt, lieber Seneca, denke ich, aber wie soll ich klarkommen? Wie soll ich das Unvermeidliche tapfer, die Gewohnheit leicht tragen? Wütend werden ist kein Ausweg. Aber wo finde ich Aufmunterungen, Erholungen und Aufheiterungen?

Seneca gibt zu, dass keiner Ketten auf Dauer aushalten kann. Aber er verweist darauf, dass Ketten, unabhängig vom Schicksalsschlag, eigentlich immer eine Rolle spielen. Er findet schöne Namen für sie: goldene, gefügige oder rostige Ketten. Hier muss ich schmunzeln. Was ist das Problem von goldenen Ketten, die sind doch sehr angenehm, oder? Nein, würde da der Stoiker sagen, denn auch sie machen abhängig. Aus einem goldenen Käfig auszusteigen, ist nicht minder schwer als sich aus einem rostigen zu befreien. Und am schlimmsten sind für Seneca die eigenen Ketten, die man sich selbst auferlegt. Er spricht vom Opfer der eigenen Herrschsucht. Wer sieht sich schon gern selbst als herrschsüchtig an? Und doch, hier spricht er Fragen an sich selbst an, die für die Stoiker ganz wichtig sind: Ist im eigenen Leben eine Eigenschaft, z. B. die Herrschsucht zu stark ausgeprägt? Wie komme ich zum erfüllten Leben? Mit Sicherheit nicht, indem ich mir das Leben ständig schwer mache. Mehr Chancen habe ich, wenn ich die Schwere des Lebens akzeptiere und freudig auch nach den Erleichterungen greife: Wirkliche Geistesgröße hat auch im Privatleben Raum genug sich zu entfalten. (S. 20) Diese Einstellung führt weg von der großen Bühne Welt. Der Stoiker kannte sein Tagesprogramm: Immer neu Ausrichtung finden, immer neu Fragen stellen, die neuralgisch die Punkte berühren, die ein Leben in die Schräglage bringen: Bin ich neidisch? Verfolge ich Ziele, die schlicht unerreichbar sind? Verzettele ich mich? Wo, wann, warum? Und all diese Überlegungen führen zur zentralen Frage: Was hat Macht über mich?

Seneca beruft sich in all seinen Schriften auf Grundpfeiler der stoischen Lehre. Der erste ist sicher: Lebe bewusst, lass Dir Dein Leben nicht aus der Hand nehmen. Seneca ist überzeugt davon, dass das Schicksal nicht der Grund ist, der dem Menschen ein Gut oder Übel zuteilt. Er glaubt, das Schicksal liefere lediglich den Stoff, der sich im Menschen zu einem Gut oder Übel entfalte. Daher plädiert er vehement dafür, dass das Einzige im menschlichen Leben, was den Menschen in allem Wandel und Wechsel der Dinge oben hält, der Mut zu sich selbst sei.

Mut zu sich selbst, das ist der Tenor der Antworten an Serenus. Dieser Mut zu sich selbst ist für Seneca der Garant dafür, dass der Mensch sorgenfreier und gelassener leben kann. Er wendet den Blick nicht nach außen, sondern sucht immer wieder die Einsicht für die richtige Lebensrichtung im eigenen Inneren.

Aussortieren ist auch wichtig. Seneca spricht ganz klar die Verzettelung an, die den Menschen immer mehr in Abhängigkeiten bringt und ihn ohnmächtig werden lässt. Hier fordert Seneca dazu auf, dass sich der Mensch nicht mit dem belaste, was für ihn im Hier und Jetzt nicht gilt. Dazu gehört alles, was an Belastendem aus dem vergangenen Leben gezogen wird. Dazu gehört auch die ganze Sorge um das zukünftige Leben. Alles dies hindere den Menschen zu leben.

Und letztlich entscheidend ist die Gesamtsicht. Seneca lehrt die Bedeutung des Gesamtentwurfs für das Leben. Er will den Menschen vor Sinnleere schützen. Bei ihm kommt es allein auf die rechte geistige Haltung an, damit Leben gelingt. Anker dafür ist die stoische Ruhe.

Der Serenus von heute würde vielleicht resigniert Seneca gegenüber argumentieren, dass er genug Mut zu sich habe und eigentlich wisse, wie man schwere Zeiten überbrücke, dass ihm aber doch auch die mangelnden Zukunftsperspektiven Schwierigkeiten mache und dass er in seinem täglichen Mühen um Sinnerfüllung zuweilen am Rand stünde. Und abgesehen davon, würde Serenus vielleicht noch anfügen, sein Geld ginge ihm irgendwann auch aus. Seneca würde verständig nicken und dann aber klar und schnörkellos darauf hinweisen, dass ihn die Umstände niemals aus der Bahn werfen sollten, wie widrig sie auch seien. Das Mühen um die innere Ruhe sei weit wichtiger als die Schrecken dieser Welt. Und bei diesem Mühen gebe die Vernunft die Richtung an. Denken könne man nicht delegieren, das müsse er schon selbst leisten. Das Dasein von innen her zu bestimmen und dadurch frei zu sein, das möge die Ausrichtung sein, die Serenus suchen solle. Zum Hinweis auf den finanziellen Engpass, würde Seneca vielleicht darauf hinweisen, dass Sorge um Zukunft Gegenwart entreiße.

Puh! Ich gebe zu, dass ich hier massive Schwierigkeiten habe, Seneca zu folgen. Ohne Geldsorgen lassen sich solche Thesen gut verteidigen. In der gesamten Antike, nicht nur in der römischen, war Philosophie ein Privileg des gehobenen Standes und da auch nur der Männerwelt. Frauen, Sklaven, Kinder hatten keinen Zugang zu philosophischem Denken. Was würde heute Seneca einem Flüchtling auf Lesbos sagen oder dem Schüler, der gerade von Boko Haram entführt worden ist? Es wäre mehr als zynisch, hier die eine Gefangenschaft mit der zu vergleichen, in der Seneca Serenus weiß.

Seneca selbst, obwohl in Cordoba geboren, hat den Status eines Römers. Finanzielle Sorgen kennt er nicht. Aber er kennt alle anderen Tiefen des Lebens. Krankheiten, Verbannung, Verschwörung, Verfolgung, Todesurteil. Den Tod hat er, der Asthmatiker, zeitlebens vor Augen. Hineingeboren in die Ära des Augustus, Jugendlicher bei Herrschaftsantritt von Tiberius, Anwalt und Senatsmitglied unter Caligula, zwingt ihn Nero, sein einstiger Schüler, in den Tod. Seine Lehre erlebt einen Siegeszug durch alle Epochen abendländischer Geschichte und ist heute besonders gefragt. Die Voraussetzung, sich nicht ohnmächtig dem Schicksal zu beugen, ist der richtige Blick. Von ihm aus wird das Ziel festgelegt, der Weg überlegt, es werden Sachkundige mit einbezogen. Seneca warnt davor, zum Herdenvieh zu werden, und ermuntert dazu, die eigene Urteilsfähigkeit zu pflegen. Auf die Frage, was genau der richtige Blick ist, hätte Seneca vielleicht geantwortet: der des Stoikers. Trump würde antworten: Meiner. Was würde ich antworten? Mir gefällt nach wie vor noch eine Antwort, die Hans Georg Gadamer einst in einem unserer Seminare gegeben hat: „Der andere könnte auch recht haben“. Mit anderen Worten ausgedrückt heißt das: Um den richtigen Blick zu bekommen, ist weit mehr als die eigene Sicht notwendig. Viel gehört dazu, Demut ist nötig, Offenheit und auch Mut.

Seneca: Von der Seelenruhe, übersetzt von Otto Apelt, Köln (Anaconda-Verlag) 2010

Hermann Hesse: Siddharta

Freude sprang in seines Vaters Herz über den Sohn, den Gelehrigen, den Wissdurstigen, einen großen Weisen und Priester sah er in ihm heranwachsen, einen Fürsten unter den Brahmanen.

Wonne sprang in seiner Mutter Brust, wenn sie ihn sah, wenn sie ihn schreiten, wenn sie ihn niedersitzen und aufstehen sah, Siddharta, den Starken, den Schönen, den auf schlanken Beinen Schreitenden, den mit vollkommenem Anstand sie Begrüßenden. (S. 11f.)

Hermann Hesse schildert am Beginn seines Buches, dass Siddharta wohlbehütet im Kreis einer Familie der Brahmanen aufwächst. Brahmanen sind im indischen Kastensystem Angehörige der obersten Kaste. Die Eltern sind stolz auf ihn, ihm winkt eine aussichtsreiche Zukunft. Hesse lässt das Herz des Vaters über den wissdurstigen und gelehrigen Sohn springen und die Mutter voller Wonne seine schöne und starke Gestalt betrachten. Bei allem hat dieser Siddharta vollkommenen Anstand. Er scheint der perfekte Sohn zu sein. Alles passt, Siddharta wirkt nicht aufmüpfig, rebellisch oder pubertär sondern stellt eher das Gegenteil dar. Alle lieben ihn, allen ist er eine Freude, aber …

Siddharta hatte begonnen, Unzufriedenheit in sich zu nähren. Er hatte begonnen zu fühlen, dass die Liebe seines Vaters und die Liebe seiner Mutter, und auch die Liebe seines Freundes Govindas, nicht immer und für alle Zeiten ihn beglücken, ihn stillen, ihn sättigen, ihm genügen werde. Er hatte begonnen zu ahnen, dass sein ehrwürdiger Vater und seine anderen Lehrer, dass die weisen Brahmanen ihm von ihrer Weisheit das meiste und beste schon mitgeteilt, dass sie ihre Fülle schon in sein wartendes Gefäß gegossen hätten, und das Gefäß war nicht voll, der Geist war nicht begnügt, die Seele war nicht ruhig, das Herz nicht gestillt. (S. 13)

Siddharta hatte damit begonnen hatte, Unzufriedenheit in sich zu nähren. Was muss geschehen, damit ein Mensch beginnt, Unzufriedenheit in sich zu nähren? Ein wunderbares Bild, das Hesse hier gestaltet, es geht mit mir durchs Leben, und Hesses Siddharta ist immer dann besonders nah, wenn ich in mir spüre, dass etwas nicht in Ordnung ist, ohne schon genau sagen zu können, was es ist. Siddharta merkt jedenfalls, dass sich etwas ändern muss und wahrscheinlich merkt er auch, dass diese Änderung nicht von außen, sondern allein von ihm ausgehen muss. Er merkt, dass das Gefäß nicht voll und der Geist nicht begnügt, die Seele nicht ruhig war, das Herz nicht gestillt. Hesse bietet uns hier ein Feuerwerk an Gründen für die Unzufriedenheit. Sie hat nicht nur eine Quelle, nein, der Geist verlangt nach mehr, er ist innerlich unruhig und sein Herz sucht nach Erfüllung. Im Grunde kennt sich Siddharta sehr gut; wir kennen nicht sein genaues Alter, aber offensichtlich hat er viel beigebracht bekommen und ist fähig zu erkennen, was für ihn stimmig und nicht stimmig ist. Man könnte also geradezu sagen: Aufzucht gelungen! Hesses Siddharta ist keine Figur, die null Bock auf nichts hat, nein, sein Siddharta will etwas aus seinem Leben machen, er sucht nach seinem eigenen und er spürt, dass er das im elterlichen Haus, das ihm sicher lieb und wichtig ist, nicht findet.

Siddharta trat in die Kammer, wo sein Vater auf einer Matte aus Bast saß, und trat hinter seinen Vater und blieb da stehen, bis sein Vater fühlte, dass einer hinter ihm stehe. Sprach der Brahmane: „Bist du es, Siddharta? So sage, was zu sagen du gekommen bist.“

Sprach Siddharta: „Mit deiner Erlaubnis, mein Vater. Ich bin gekommen, dir zu sagen, dass mich verlangt, morgen dein Haus zu verlassen und zu den Asketen zu gehen. Ein Samana zu werden, ist mein Verlangen. Möge mein Vater dem nicht entgegen sein.“ (S. 17)

Peng! Mit anderen Worten heißt das: Tschüss, Papa, ich gehe. Und zwar schon morgen. Du wirst das schon hinkriegen, ohne mich. Ich mache mein Ding. Das hier ist nicht mein Leben. Ich weiß, dass das für mich richtig ist. Und sag bitte jetzt aber: Alles Paletti. Adieu und goodbye!

Ich kann mir vorstellen, dass dem Vater erst einmal die Luft wegbleibt. So eine Ansage würde wohl die meisten Eltern fassungslos machen. Siddharta will weg von all dem, mit dem er groß geworden ist, will zu den Asketen gehen, den Samanas, den Bettlern. Was ist da schiefgelaufen? Oder ist überhaupt etwas schiefgelaufen? Warum sucht der Sohn das Gegenteil dessen, was er gewohnt ist? Siddharta will hier nicht mit dem Elternhaus abrechnen, nein, er legt es nicht darauf an, im Streit zu gehen. Er will, dass die Eltern seine Suche nach dem eigenen Weg bejahen und ihn ziehen lassen. Das klingt einfach, ist es aber nicht. Denn die Konsequenzen sind den Eltern klar: Er wird ein Leben in Armut führen, ein Leben, das hart ist, ein Leben, das er nicht hätte haben müssen. Sie sehen seine Gaben, sie wissen wahrscheinlich auch, dass diese Gaben in diesem Leben keine Entfaltung finden können und es ist daher nachvollziehbar, dass der Vater alles versucht, den Sohn umzustimmen.

Was nun folgt, gehört zu mich zu den besten Szenen eines Ringens zwischen Vater und Sohn, die ich aus der Literatur kenne. Siddharta bittet den Vater um die Erlaubnis, zu den Asketen gehen zu dürfen. Und ungesagt bittet er ihn dafür auch um seinen Segen. Die Passage zeigt, dass es hier nicht nur um autoritäres Gehabe seitens des Vaters geht. Hier geht es um den Kampf zwischen Autonomie und Tradition. Der Vater kann nicht aus dem heraus, was seine Väter ihn schon gelehrt haben und was er mit bestem Wissen und Mühen weitergegeben hat. Der Sohn will aber etwas anderes. Siddharta will nicht einfach abhauen, sondern will, dass der Vater ihn im Frieden ziehen lässt. Was verlangt Siddharta da vom Vater? Dass er freudig zustimmen solle: Ja, werde Bettler, darauf habe ich nur gewartet? Nein, das kann der Vater nicht gutheißen. Und was verlangt der Vater von Siddharta: Dass dieser weiter auf dem Weg bleibe, den er für ihn vorgesehen hat. Im Grunde verlangen beide voneinander das Unmögliche. Hesse lässt uns teilhaben an den Gedanken des Vaters:

Der Brahmane schwieg und schwieg so lange, dass im kleinen Fenster die Sterne wanderten und ihre Figur veränderten, ehe das Schweigen in der Kammer ein Ende fand. Stumm und regungslos stand mit gekreuzten Armen der Sohn, stumm und regungslos saß auf der Matte der Vater, und die Sterne zogen am Himmel. Da sprach der Vater: „Nicht ziemt es dem Brahmanen, heftige und zornige Worte zu reden. Aber Unwille bewegt sein Herz. Nicht möchte ich diese Bitte zum zweiten Male aus deinem Munde hören.“

Langsam erhob sich der Brahmane, Siddharta stand stumm mit gekreuzten Armen.

Worauf wartest du?“ fragte der Vater.

Sprach Siddharta: „Du weißt es.“

Unwillig ging der Vater aus der Kammer, unwillig suchte er sein Lager auf und legte sich nieder.

Nach einer Stunde, da kein Schlaf in seine Augen kam, stand der Brahmane auf, tat Schritte hin und her, trat aus dem Hause. Durch das kleine Fenster der Kammer blickte er hinein, da sah er Siddharta stehen, mit gekreuzten Armen, unverrückt. Bleich schimmerte sein helles Obergewand. Unruhe im Herzen, kehrte der Vater zu seinem Lager zurück.

Nach einer Stunde, da kein Schlaf in seine Augen kam, stand der Brahmane von neuem auf, tat Schritte hin und her, trat vor das Haus, sah den Mond aufgegangen. Durch die Fenster der Kammer blickte er hinein, da stand Siddharta, unverrückt, mit gekreuzten Armen, an seinen bloßen Schienbeinen spiegelte das Mondlicht. Besorgnis im Herzen, suchte der Vater sein Lager auf.

Und er kam wieder nach einer Stunde, und kam wieder nach zweien Stunden, blickte durchs kleine Fenster, sah Siddharta stehen im Mond, im Sternenschein, in der Finsternis. Und kam wieder von Stunde zu Stunde, schweigend, blickte in die Kammer, sah den unverrückt Stehenden, füllte sein Herz mit Zorn, füllte sein Herz mit Unruhe, füllte sein Herz mit Zagen, füllte es mit Leid.

Und in der letzten Nachtstunde, ehe der Tag begann, kehrte er wieder, trat in die Kammer, sah den Jüngling stehen, der ihm groß und wie fremd erschien.

Siddharta“, sprach er, „worauf wartest du?“

Du weißt es.“

Wirst du immer so stehen und warten, bis es Tag wird, Mittag wird, Abend wird?“

Ich werde stehen und warten.“

Du wirst müde werden, Siddharta.“

Ich werde müde werden.“

Du wirst einschlafen, Siddharta.“

Ich werde nicht einschlafen.“

Du wirst sterben, Siddharta.“

Ich werde sterben.“

Und willst lieber sterben, als deinem Vater gehorchen?“

Siddharta hat immer seinem Vater gehorcht.“

So willst du dein Vorhaben aufgeben?“

Siddharta wird tun, was sein Vater ihm sagen wird.“

Der erste Schein des Tages fiel in die Kammer. Der Brahmane sah, dass Siddharta in den Knien zitterte. In Siddhartas Gesicht sah er kein Zittern, fernhin blickten die Augen. Da erkannte der Vater, dass Siddharta schon jetzt nicht mehr bei ihm und in der Heimat weile, dass er ihn schon jetzt verlassen habe. (S.17f.)

Hesse beschreibt die Seelenkämpfe des Vaters in dieser Nacht und denen gegenüber die Standhaftigkeit Siddhartas. Über die Gedanken Siddhartas schreibt er nichts. Stumm und regungslos stand mit gekreuzten Armen der Sohn, stumm und regungslos saß auf der Matte der Vater, und die Sterne am Himmel zogen. Der Sohn steht, geradezu in Kriegerpose, stark und entschlossen, der Vater sitzt, in sich gekehrt, beide sind stumm und entschlossen und die Zeit verstreicht. Ich sehe förmlich die Sterne wandern. Siddharta weiß, dass der Kampf mit dem Vater lang wird. Aber er will seine Zustimmung erreichen. Beide sind mächtig und ohnmächtig zugleich. Die geradezu erschütternde Ohnmacht des Vaters wird spürbar, als er bemerkt, dass der Sohn ihm groß und fremd erschien. Am Ende der Passage kommt der Vater zu der Einsicht, der Sohn habe ihn schon jetzt verlassen. Ich kann mir das Leid vorstellen, das dieser Mann durchmacht. Und ich sehe da auch eine Ohnmacht seitens des Sohnes, der weiß, was seine Entscheidung vom Vater und der Mutter abverlangt, der aber nicht feige einfach abhauen, sondern in Frieden ziehen will. Er will seine Eltern nicht verletzen und weiß, dass er es tun muss. Welch ein Konflikt.

Der Vater berührte Siddhartas Schulter.

Du wirst“, sprach er, „in den Wald gehen und ein Samana sein. Hast du Seligkeit gefunden im Walde, so komm und lehre mich Seligkeit. Findest du Enttäuschung, dann kehre wieder und lass uns wieder gemeinsam den Göttern opfern. Nun gehe und küsse deine Mutter, sage ihr, wohin du gehst. Für mich aber ist es Zeit, an den Fluß zu gehen und die ersten Waschungen vorzunehmen.“

Er nahm die Hand von der Schulter seines Sohnes und ging hinaus. Siddharta schwankte zur Seite, als er zu gehen versuchte. Er bezwang seine Glieder, verneigte sich vor seinem Vater und ging zur Mutter, um zu tun, wie der Vater gesagt hatte. (S. 19)

Die Nacht verstreicht. Der Sohn steht, der Vater findet keine Ruhe, geht immer wieder hin und schaut nach dem Sohn. Die Arme des Sohnes sind gekreuzt, nicht offen, sein Entschluss steht, der Vater erkennt, dass er diesen akzeptieren muss. Er lenkt ein, nicht der Sohn. Von diesem kommt am Ende kein Wort mehr gegenüber dem Vater, aber es kommt eine Verneigung, eine Geste, die Unterwürfigkeit und Respekt gleichermaßen ausdrückt. Unklar ist, ob der Vater diese überhaupt sieht oder nicht schon draußen ist, er hatte sich ja zum Gehen gewandt.

Wir lassen Siddharta seinen Weg ziehen und verlassen ihn in dem Moment, wo er sich von der Mutter verabschiedet. Uns interessiert hier nur die Sicht auf die Thematik, die in jeder Familie in mehr oder weniger starker Form existiert. Irgendwann gehen die Kinder aus dem Haus, sie gehen vielleicht andere Wege als die, die die Eltern sich für sie wünschen. Sie suchen ihr eigenes Leben und die Eltern sind damit konfrontiert, loszulassen und zu akzeptieren, dass gelungen ist, worum sie sich jahrelang bemüht haben: Das Kind zur Selbständigkeit zu erziehen, es auf eigenen Füßen seinen Weg gehen zu lassen.

Wer ist hier Sieger im Kampf? Hesse berichtet aus Sicht des Vaters und lässt uns weit mehr an dessen Gefühlsleben teilnehmen als an dem Siddhartas. Ist er hier parteiisch? Nein. Hesse selbst sieht sich weit mehr als Siddharta als als Vater. Und Hesse selbst hat oft genug andere, auch die eigene Frau, im Stich gelassen, um seinen Weg zu suchen. So wortgewaltig er in seiner Dichtung war, so stumm war er selbst oft genug gegenüber den Menschen, die ihm am nächsten waren. Vielleicht, wirklich nur vielleicht, bringt Hesse hier den zarten Versuch zum Ausdruck, dass ihm wohl bewusst war, dass der andere durchaus unter seinen Entschlüssen gelitten hat. Der Vater lässt den Sohn ziehen, legt seine Hand auf dessen Schulter, bemerkt vorher, das Zittern in dessen Knien, aber die Festigkeit in dessen Blick und zeigt ihm an, dass die Tür des elterlichen Hauses offen stehe und dass der Sohn, wenn er die Seligkeit im Wald gefunden habe, zurückkommen könne, um sie ihm, dem Vater, zu lehren. Und wenn er keine Seligkeit, aber Enttäuschung fände, so solle er auch zurückkommen. Und dann geht er wahrscheinlich mit tiefer Traurigkeit im Herzen zum Fluss, um das zu tun, was er täglich tut.

Siddharta hingegen steht und wartet, weiß, dass er müde werden wird, aber nicht einschlafen wird und dass er sterben wird und das tun wird, was sein Vater ihm sagt. Warum gibt es hier keine Passage, in der Siddharta dem Vater zu verstehen gibt, dass er ihn liebt? Warum verweist er nur darauf, dass er immer seinem Vater gehorcht hat und auch jetzt das tun wird, was der Vater ihm sagt? Ja, Siddharta entscheidet sich klar gegen Anpassung und Traditionen, aber seine Radikalität wirkt auf mich auch stur. Zwingt er nicht letztlich den Vater dazu, ihm das zu sagen, was er hören will? Muss nicht der Vater kapitulieren, weil er weiß, dass sein willensstarker Sohn nicht einlenken wird?

Das Buch begleitet Siddharta auf seinem Weg, vom Vater ist nichts mehr zu hören. Von daher wissen wir nicht, was aus ihm geworden ist, wie er damit klarkommt. Und auch Siddharta denkt nur in einem Moment, als es ihm ganz schlecht geht, an das elterliche Haus zurück und geht ansonsten seinen durchaus holprigen Weg. Die Frage nach dem langfristigen Sieg bliebt also offen, in der zitierten Passage ist es aber so, dass Siddharta sein Ziel erreicht hat.

Hesses schreibt Siddharta im Alter von etwa 45 Jahren. Zwischen dem ersten und zweiten Teil liegen gut zwei Jahre Schaffenspause. Er veröffentlicht das Werk 1922. Das Buch wird zu einem der einflussreichsten Bücher des 20. Jahrhunderts. Hesse war und ist Kult. Bei seinem Erscheinen las man das Buch anders als zu Zeiten der 68er und heute ist es wieder insbesondere bei jungen Menschen, die auf der Suche nach dem eigenen Leben sind, hoch im Kurs. Mit Siddharta hat sich Hesse nach eigener Auskunft vom indischen Denken selbst befreit, es sei ein sehr europäisches Buch, das stark vom individualistischen Denken geprägt ist. Im Grunde bietet die beleuchtete Passage auch heute noch eine ideale Vorlage, um über die Problematik von Machtstrukturen und die Bedeutung von Traditionen innerhalb der Familie zu diskutieren.

Hermann Hesse: Siddharta, Frankfurt (suhrkamp) 2004

Franz Kafka: Auszüge aus dem Brief an den Vater

Macht und Ohnmacht in der Familie ist ein Thema, über das nicht gern gesprochen wird, das aber Biographien enorm beeinflusst. Der Über-Vater oder die Über-Mutter sind dankbare Themen der Psychologie. Wir wollen sie hier nicht vertiefen, sondern schauen auf einen Schriftsteller, dessen Werk ohne den Bezug zu seinem Leben kaum denkbar wäre: Franz Kafka. Er selbst ahnte nicht, dass er einmal zu den ganz Großen der Weltliteratur gehören sollte, als er sagte: „Niemand wird lesen, was ich hier schreibe.“ Mit dieser Einschätzung sollte er unrecht behalten. Kafka wirkt schulbildend, sein Werk wird als Katalysator einer unüberschaubaren Fülle an Deutungen angesehen. Ein Schlüssel zu Kafkas Werk ist der Brief an den Vater, auf den im Folgenden eingegangen wird.

Der Brief besteht im Original aus mehr als hundert handschriftlichen Seiten, auf denen Kafka versucht, seinen Vaterkonflikt schreibend zu bewältigen. 1919 geschrieben und nie abgeschickt, wird er posthum 1952 veröffentlicht und dient als wichtige Quelle für das Verständnis seines Werkes. Der Brief thematisiert von der ersten bis zur letzten Seite den Versuch des Sohnes, sich gegen den Vater zu behaupten, und ist gleichzeitig die Suche nach seinem eigenen Weg im Leben. Kafka beschreibt die grundverschiedene Wesensart von Vater und Sohn:

Jedenfalls waren wir so verschieden und in dieser Verschiedenheit einander so gefährlich, dass, wenn man es hätte etwa im voraus ausrechnen wollen, wie ich, das langsam sich entwickelnde Kind, und Du, der fertige Mann, sich zueinander verhalten werden, man hätte annehmen können, dass Du mich einfach niederstampfen wirst, dass nichts von mir übrigbleibt. Das ist nun nicht geschehen, das Lebendige lässt sich nicht ausrechnen, aber vielleicht ist Ärgeres geschehen. Wobei ich Dich aber immerfort bitte, nicht zu vergessen, dass ich niemals im entferntesten an eine Schuld Deinerseits glaube. Du wirktest so auf mich, wie Du wirken musstest, nur sollst Du aufhören, es für eine besondere Bosheit meinerseits zu halten, dass ich dieser Wirkung erlegen bin.

Kafka schreibt von gefährlicher Verschiedenheit zwischen sich und dem Vater, äußert die Angst, dass nichts von ihm übrigbleiben wird, dass ihn der Vater niederstampfen werde. Diese Bilder erschrecken. Ein väterliches Monster scheint da dem jungen Kafka gegenüberzustehen. Auf der einen Seite die Macht und auf der anderen Seite die Ohnmacht. Aber der zweite Teil des Abschnitts verwirrt: Da kommt geradezu Verständnis für den Vater auf: Du wirktest so auf mich, wie Du wirken musstest. Heißt das, wie es der Sitte entsprach? Das wäre durchaus denkbar. Kafka ist 1883 geboren, da war die Familienhierarchie klar festgelegt und weit von dem entfernt, was heute üblich ist. Das eigentliche Drama sieht Kafka darin, dass er der Wirkung der väterlichen Autorität unterlag und ihm das vom Vater als Boshaftigkeit ausgelegt worden ist. Heißt das, dass der Vater lieber einen Sohn gehabt hätte, der gegen ihn rebelliert hätte? Wohl kaum, aber vielleicht hätte er sich einen Sohn gewünscht, der ihm ebenbürtiger gewesen wäre und nicht so zurückgezogen und vergeistigt, wie es Kafka zeit seines Lebens war. Der Vater wollte offensichtlich aus dem Sohn einen starken jungen Mann machen und kam mit dessen hoher Sensibilität offensichtlich nicht zurecht.

Kafka denkt sich in den Vater hinein und versucht, dessen geistige Oberherrschaft, wie er sie nennt, zu verstehen:

Du hattest Dich allein durch eigene Kraft so hoch hinaufgearbeitet, infolgedessen hattest Du unbeschränktes Vertrauen zu Deiner Meinung. Das war für mich als Kind nicht einmal so blendend wie später für den heranwachsenden jungen Menschen. In Deinem Lehnstuhl regiertest Du die Welt. Deine Meinung war richtig, jede andere war verrückt, überspannt, meschugge, nicht normal. Dabei war Dein Selbstvertrauen so groß, dass Du gar nicht konsequent sein musstest und doch nicht aufhörtest recht zu haben. Es konnte auch vorkommen, dass Du in einer Sache gar keine Meinung hattest und infolgedessen alle Meinungen, die hinsichtlich der Sache überhaupt möglich waren, ohne Ausnahme falsch sein mussten. Du konntest zum Beispiel auf die Tschechen schimpfen, dann auf die Deutschen, dann auf die Juden, und zwar nicht nur in Auswahl, sondern in jeder Hinsicht, und schließlich blieb niemand mehr übrig außer Dir. Du bekamst für mich das Rätselhafte, das alle Tyrannen haben, deren Recht auf ihrer Person, nicht auf dem Denken begründet ist. Wenigstens schien es mir so.

Die hier beschriebenen Eigenschaften sind sicher nicht nur beim Vater Kafkas zu finden. Ich wage zu behaupten, dass es auch heute noch Menschen gibt, die das Recht für sich gepachtet haben und keine Meinung als die ihre gelten lassen. Kafka betont hier, dass er sehr wohl sieht, was sein Vater alles erarbeitet hat, aber der Hinweis „In deinem Lehnstuhl regiertest Du die Welt“, zeigt auch, dass alle anderen ihm gegenüber keine Chance hatten. Der Patriarch im Haus lässt keine Konkurrenten zu. Kafkas Bild des Vaters ist klar beschrieben. Und doch lässt etwas aufhorchen: Im letzten Satz des Abschnitts heißt es: Wenigstens schien es mir so. Hier frage ich mich: Warum schränkt Kafka seine unmissverständliche Beschreibung der vorigen Sätze ein? Ihm schien es so, vielleicht nur ihm? Oder ist das ein Hinweis auf einen sehr großen Minderwertigkeitskomplex, ein schwaches Selbstbewusstsein?

In den nächsten Sätzen geht es um das unerbittliche Urteil des Vaters:

Es genügte, dass ich an einem Menschen ein wenig Interesse hatte – es geschah ja infolge meines Wesens nicht sehr oft -, dass Du schon ohne jede Rücksicht auf mein Gefühl und ohne Achtung vor meinem Urteil mit Beschimpfung, Verleumdung, Entwürdigung dreinfuhrst. Unschuldige, kindliche Menschen wie zum Beispiel der jiddische Schauspieler Löwy mussten das büßen. Ohne ihn zu kennen, verglichst Du ihn in einer schrecklichen Weise, die ich schon vergessen habe, mit Ungeziefer, und wie so oft für Leute, die mir lieb waren, hattest Du automatisch das Sprichwort von den Hunden und Flöhen bei der Hand. An den Schauspieler erinnere ich mich hier besonders, weil ich Deine Aussprüche über ihn damals mir mit der Bemerkung notierte: »So spricht mein Vater über meinen Freund (den er gar nicht kennt) nur deshalb, weil er mein Freund ist. Das werde ich ihm immer entgegenhalten können, wenn er mir Mangel an kindlicher Liebe und Dankbarkeit vorwerfen wird.« Unverständlich war mir immer Deine vollständige Empfindungslosigkeit dafür, was für Leid und Schande Du mit Deinen Worten und Urteilen mir zufügen konntest, es war, als hättest Du keine Ahnung von Deiner Macht. Auch ich habe Dich sicher oft mit Worten gekränkt, aber dann wusste ich es immer, es schmerzte mich, aber ich konnte mich nicht beherrschen, das Wort nicht zurückhalten, ich bereute es schon, während ich es sagte. Du aber schlugst mit Deinen Worten ohne weiters los, niemand tat Dir leid, nicht währenddessen, nicht nachher, man war gegen Dich vollständig wehrlos.

Offensichtlich will der Vater die Kontakte des Sohnes steuern. Kafkas Freund, der jiddische Schauspieler, gehört nicht zu den Menschen, die der Vater mit dem Sohn sehen will. Das väterliche Urteil beeinflusst den jungen Kafka dermaßen, dass er keinerlei eigenständige Vorstellungen entwickeln kann. Er fühlt sich dem Vater grenzenlos unterlegen und sieht keine Möglichkeit, auf Augenhöhe zu ihm zu kommen, und er leidet unter der Empfindungslosigkeit des Vaters. Es war, als hättest Du keine Ahnung von Deiner Macht. Was meint Kafka mit dieser Annahme? Versucht Kafka hier das Verhalten des Vaters zu entschuldigen? Wenn dem so wäre, warum kommt es nie zu einer Aussprache? Kafka gibt im Folgenden eine mögliche Erklärung:

Die Unmöglichkeit des ruhigen Verkehrs hatte noch eine weitere eigentlich sehr natürliche Folge: ich verlernte das Reden. Ich wäre ja wohl auch sonst kein großer Redner geworden, aber die gewöhnlich fließende menschliche Sprache hätte ich doch beherrscht. Du hast mir aber schon früh das Wort verboten. Deine Drohung: »kein Wort der Widerrede!« und die dazu erhobene Hand begleiten mich schon seit jeher. Ich bekam vor Dir – Du bist, sobald es um Deine Dinge geht, ein ausgezeichneter Redner – eine stockende, stotternde Art des Sprechens, auch das war Dir noch zu viel, schließlich schwieg ich, zuerst vielleicht aus Trotz, dann, weil ich vor Dir weder denken noch reden konnte. Und weil Du mein eigentlicher Erzieher warst, wirkte das überall in meinem Leben nach. Es ist überhaupt ein merkwürdiger Irrtum, wenn Du glaubst, ich hätte mich Dir nie gefügt. »Immer alles contra« ist wirklich nicht mein Lebensgrundsatz Dir gegenüber gewesen, wie Du glaubst und mir vorwirfst. Im Gegenteil: Hätte ich Dir weniger gefolgt, Du wärest sicher viel zufriedener mit mir. Vielmehr haben alle Deine Erziehungsmaßnahmen genau getroffen; keinem Griff bin ich ausgewichen; so wie ich bin, bin ich (von den Grundlagen und der Einwirkung des Lebens natürlich abgesehen) das Ergebnis Deiner Erziehung und meiner Folgsamkeit. Dass dieses Ergebnis Dir trotzdem peinlich ist, ja dass Du Dich unbewusst weigerst, es als Dein Erziehungsergebnis anzuerkennen, liegt eben daran, dass Deine Hand und mein Material einander so fremd gewesen sind. Du sagtest: »Kein Wort der Widerrede!« und wolltest damit die Dir unangenehmen Gegenkräfte in mir zum Schweigen bringen, diese Einwirkung war aber für mich zu stark, ich war zu folgsam, ich verstummte gänzlich, verkroch mich vor Dir und wagte mich erst zu regen, wenn ich so weit von Dir entfernt war, dass Deine Macht, wenigstens direkt, nicht mehr hinreichte.

Kafka verstummt gegenüber dem Vater, aber nicht gegenüber der Welt. In sein Werk fließt all das ein, was er an Ohnmacht zu Hause erfahren hat. Er schreit es geradezu in die Welt hinaus. Im Brief spricht er eine geradezu diabolische Symbiose an: Er sei das Ergebnis Deiner Erziehung und meiner Folgsamkeit. Kafka verkriecht sich, er sucht das Weite. Wer Kafkas Biographie kennt, der weiß, dass auch seine vergeblichen Heiratsversuche ein ähnliches Muster zeigen: Immer wieder sieht sich Kafka durch die Anwesenheit der Partnerinnen – sei es Felice, Julie oder Milena – derart bedroht, dass er immer neue Gründe für eine Trennung findet. Ich will hier die Rolle des Vaters keinesfalls abschwächen, aber das Naturell Kafkas ist nicht einfach gestrickt.

Am Ende des Briefes an den Vater macht Kafka einen gedanklichen Salto: Er überlegt, was der Vater an ihn, den Sohn, in einem Brief schreiben würde. Das heißt, er versetzt sich voll und ganz in die Gedankenwelt des Vaters und überlegt, was er ihm wohl antworten könnte:

Du könntest, wenn Du meine Begründung der Furcht, die ich vor Dir habe, überblickst, antworten:

…Du hast es Dir nämlich in den Kopf gesetzt, ganz und gar von mir leben zu wollen. Ich gebe zu, dass wir miteinander kämpfen, aber es gibt zweierlei Kampf. Den ritterlichen Kampf, wo sich die Kräfte selbständiger Gegner messen, jeder bleibt für sich, verliert für sich, siegt für sich. Und den Kampf des Ungeziefers, welches nicht nur sticht, sondern gleich auch zu seiner Lebenserhaltung das Blut saugt. Das ist ja der eigentliche Berufssoldat und das bist Du. Lebensuntüchtig bist Du; um es Dir aber darin bequem, sorgenlos und ohne Selbstvorwürfe einrichten zu können, beweist Du, dass ich alle Deine Lebenstüchtigkeit Dir genommen und in meine Taschen gesteckt habe…“

Darauf antworte ich, dass zunächst dieser ganze Einwurf, der sich zum Teil auch gegen Dich kehren lässt, nicht von Dir stammt, sondern eben von mir. So groß ist ja nicht einmal Dein Misstrauen gegen andere, wie mein Selbstmisstrauen, zu dem Du mich erzogen hast…

In Kafkas Werk spielen Ungeziefer und dessen Eigenschaften immer wieder eine große Rolle. Hier kommt auch ein Ungeziefer vor, und zwar ein besonders blutdürstiges, das zu seiner Lebenserhaltung den anderen braucht und ihn dabei zerstört. Dieses Motiv gibt es bei Kafka auch an anderer berühmter Stelle: „Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt.“ So beginnt Kafkas Verwandlung. Der Satz gehört zu den berühmtesten Sätzen der Literaturgeschichte. Kafka soll schallend gelacht haben, als er ihn vorlas. Ausgrenzung, Fremdbestimmung, Lieblosigkeit, das sind die großen Themen nicht nur der Verwandlung sondern auch des Briefes an den Vater.

Der Brief fußt auf Realitäten aus Kafkas Leben, einige Fakten sind belegt, z. B. die harte Kindheit seines Vaters, die Probleme Kafkas mit seiner Teilhaberschaft an der Prager Asbestfabrik oder der Ausbruch seiner Schwester Ottla in die Arbeitswelt der Landwirtschaft und natürlich die gescheiterten Heiratsversuche. Auch dass sich Kafka minderwertig und angstbesetzt empfunden hat, entspricht dem, was man über ihn weiß. Aber dieses furchteinflößende, hemmungslos aburteilende, vitale Wesen Hermann Kafka, dem sich der Sohn Franz ausgeliefert sah und mit dem er ständig innerlich rang, wird von anderen, u. a. von Max Brod, dem Freund und Nachlassverwalter Kafkas, als normaler jüdischer Geschäftsmann beschrieben, der menschenfreundlich und beschwingt mit beiden Beinen in seinem Geschäft stand. Das gibt es immer wieder, dass Menschen im familiären Kontext Macht ausleben und im öffentlichen Leben das Gegenteil zeigen. Die umgekehrte Version ist auch möglich. Aus Sicht von Franz Kafka ist die Macht eindeutig auf der väterlichen Seite. So schmerzlich sich diese auch für ihn gestaltet haben mag, vielleicht ist Kafkas literarisches Schaffen dadurch erst möglich geworden. In dem Fall wäre Kafka mit seinem Vater genauso untrennbar verbunden wie mit seinem eigenen Schaffen.

Erschütternd ist, dass es der Sohn nicht vermochte, sich geistig von seinem Vater zu lösen und sein ganzes Leben auf den Vater hin definierte. Er konnte sich aus dieser regelrechten Hass-Liebe zum Vater nicht lösen. Denn er liebte ihn auch wirklich. Dieses Dilemma bietet den Schlüssel zum intensiven Erleben, ohne das Kafkas Werk unvorstellbar wäre.

Franz Kafka: Brief an den Vater, herausgegebenund kommentiert von Michael Müller, Stuttgart (Reclam) 1995

Der Eingangssatz aus der Verwandlung ist zitiert aus: Franz Kafka: Die Verwandlung, München (Anaconda Verlag), 2005

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Eine Rezension von Michael Braun erschien im Magazin 5plus, Nr. 23 (erhältlich in Buchhandlungen).

In Ubi Bene erschien eine Rezension im Heft 2020/3 aus Seite 94.

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