Oscar Wilde: Das Bildnis des Dorian Gray

Wir befinden uns im Viktorianischen Großbritannien. Oscar Wilde schreibt 1890 seinen einzigen Roman, den Dorian Gray. Er enthält alles, was für einen Skandal nötig ist und wird auch Gegenstand des Unzuchtsprozesses gegen den homosexuellen Oscar Wilde.

Worum geht es? Dorian, jung, schön und unerfahren, möchte seine jugendliche Ausstrahlung verewigen lassen und lässt sich vom Maler Basil Hallward portraitieren. Der Anblick dieses Bildes in der Werkstatt Basils erweckt die Neugier des zynischen Dandys Lord Harry Wotton, der den jungen, schönen und unerfahrenen Dorian daraufhin in seinen Bann zieht und ihn rücksichtslos zu einem ausschweifenden Leben verführt, in dem Dorian alle moralischen Hemmungen fallen lässt. Mit der Zeit degeneriert Dorians Ebenbild auf dem Gemälde zusehends zur Fratze, wogegen er selbst scheinbar nicht zu altern scheint.

Von Dorian geht eine Faszination aus, die sein Maler Basil gegenüber Harry beschreibt:

Ich drehte mich halb um und sah zum ersten Mal Dorian Gray. Als unsere Blicke sich begegneten, spürte ich, wie ich erbleichte. Mich überfiel eine eigentümliche Panik. Ich wusste, dass ich jemandem gegenüberstand, dessen bloße Persönlichkeit so faszinierend war, dass sie, falls ich es zuließ, meine gesamte Natur, meine ganze Seele, ja meine Kunst selbst fesseln würde. (S. 17)

Basil ist fasziniert von Dorian: Er ist mir jetzt alle meine Kunst. (S. 19)

Für Basil ist es undenkbar, das fertige, sehr gelungene Porträt auszustellen. Und er will auch nicht, dass Harry Dorian kennenlernt, weil er befürchtet, dass dieser einen schlechten Einfluss auf ihn haben könnte:

Verdirb ihn mir nicht. Versuch nicht, ihn zu beeinflussen. Dein Einfluss wäre schlecht. Die Welt ist groß, und viele wunderbare Menschen sind darin. Nimm mir nicht den einen Menschen, der meiner Kunst den Reiz schenkt, den sie eben hat. Von ihm hängt mein Leben als Künstler ab. (S. 27)

Basil, fasziniert von Dorian und auch fasziniert von dem, was er auf die Leinwand gebracht hat, ist hier auch nicht ganz uneigennützig. Er will Dorian nicht an Harry verlieren. Harry und Basil wetten zwar nicht um die Seele von Dorian, aber die Nähe zur Faustthematik liegt auf der Hand. Auch wenn Dorian nicht nach Erkenntnis strebt und metaphysische Erlösungshoffnung kein Thema ist, die Analogie zu Faust ist trotzdem eine von vielen intertextuellen Bezügen im Roman. Intertextualität liegt immer da vor, wo Bezüge zu anderen Texten hergestellt werden können. Je mehr ich lese, desto mehr füllt sich meine ganz eigene literarische Bibliothek im Kopf und desto mehr vergleiche ich Texten miteinander und finde Ähnlichkeiten, Gegensätze, und verknüpfe im Kopf mehr und mehr die Texte. Ein sehr spannendes Thema! Die einzelnen Texte verbinden sich zu meinem ganz persönlichen großen Lebensbuch! Intertextualität ist ein großer und absolut spannender zeitgenössischer Forschungsgegenstand.

Die Verführung Dorians durch Harry nimmt ihren Lauf. Er lernt ihn im Atelier Basils kennen. Dorian fragt:

Haben Sie wirklich so einen schlechten Einfluss, Lord Henry? So schlecht, wie Basil sagt?“

Hier liegt kein Druckfehler vor, im Buch wird der Lord einmal mit „Harry“, das andere Mal „Henry“ genannt. Harry/Henry antwortet:

Einen guten Einfluss gibt es gar nicht, Mr Gray. Jeder Einfluss ist unmoralisch – unmoralisch vom wissenschaftlichen Standpunkt aus gesehen.“

Warum?“

Weil beeinflussen heißt, einem anderen die eigene Seele zu geben. Dann denkt dieser Mensch nicht seine natürlichen Gedanken, brennt nicht mit seiner natürlichen Leidenschaft. Seine Tugenden scheinen ihm nicht als real. Seine Sünden, falls es so etwas wie Sünden gibt, sind geborgt. Er wird zum Echo der Musik eines anderen, zum Schauspieler in einer Rolle, die nicht für ihn geschrieben worden ist. Das Ziel des Lebens ist die eigene Entwicklung. Die eigene Natur vollkommen zu verwirklichen – dazu ist jeder von uns hier. Heutzutage fürchten sich die Leute vor sich selbst.“ (S. 30f.)

Das klingt ja vernünftig, was Harry/Henry hier sagt. Keiner will Echo der Musik eines anderen sein. Jeder möchte seine eigene Rolle spielen, sich weiterentwickeln, sich verwirklichen. Aber was heißt: Heutzutage fürchten sich die Leute vor sich selbst? Dieser Satz fällt bei Dorian auf fruchtbaren Boden. Nein, er will sich nicht vor sich selbst fürchten, er will nicht zu diesen Leuten gehören, er will seinen eigenen Weg gehen. Und dass er genau dies tun solle, das suggeriert die Rede des Lords, die offensichtlich auf fruchtbaren Boden fällt. Basil bemerkt, dass in das Gesicht Dorians ein Ausdruck getreten war, den er dort noch nie gesehen hatte. (S. 30)

Die Verführung des Lords nimmt an Fahrt auf:

… „dennoch glaube ich, sollte ein Mensch sein Leben voll und ganz ausleben, jedem Gefühl Form verleihen, jedem Gedanken Ausdruck, Wirklichkeit jedem Traum – dann, glaube ich, würde die Welt einen solchen frischen freudigen Impuls erhalten, dass wir alle Leiden des mittelalterlichen Geistes vergessen und zum hellenischen Ideal zurückkehren würden, vielleicht gar zu etwas Edlerem, reicherem. Doch bei uns hat noch der Tapferste Angst vor sich selbst. (…) Eine Versuchung wird man nur los, wenn man ihr nachgibt. Widersteht man ihr, wird die Seele krank vor Sehnsucht nach den Dingen, die sie sich versagt hat, vor Verlangen nach dem, was ihre monströsen Gesetze monströs und ungesetzlich gemacht haben. (S. 31f.)

Natürlich will Dorian nicht, dass seine Seele krank vor Sehnsucht nach den Dingen wird, die sie sich versagt hat. Er ist bereit: In ihm ist eine geheime Saite angeschlagen, die noch nie berührt worden war, die nun aber, das spürte er, in seinem eigentümlichen Rhythmus pochte und vibrierte. (S. 31)

Großartig und filigran und das auch noch wunderbar übersetzt von Eike Schönfeld, entblättert hier Oscar Wilde die einzelnen Phasen der Verführung. Wieder haben wir es mit einem eigentlich Unschuldigen zu tun, der aber irgendwo Unzufriedenheit in sich angesammelt hat. Auch hier bei Dorian ist der Punkt erreicht, an dem er sagt: Es muss sich etwas ändern. Ich erwarte mehr vom Leben. Und dann kommt einer und verspricht ihm genau das, was ihm fehlt:

Leben Sie! Leben Sie das wunderbare Leben, das in Ihnen ist! Lassen Sie sich nichts entgehen! Suchen Sie immer nach neuen Empfindungen. Fürchten Sie nichts. … Ein neuer Hedonismus – das braucht unser Jahrhundert! (S. 37)

Diese Sätze könnten aus dem Jahr 2021 stammen, gesprochen von Menschen, die sich durch die Einschränkungen der Pandemie um ihr Leben betrogen fühlen und dazu aufrufen, endlich die Warteposition dieser endlos erscheinenden Zeit zu verlassen, all die Entbehrungen ad acta zu legen und endlich zu leben! Ein neuer Hedonismus … Wer sollte heute seinen Inhalt diktieren?

Dorian blickt sein Porträt an und erkennt:

Wie traurig!“, murmelte Dorian Gray, die Augen weiterhin auf sein Portrait geheftet. „Wie traurig! Ich werde alt werden, scheußlich und widerwärtig. Dieses Bild aber wird immer jung bleiben. Es wird nie älter als an diesem Tag im Juni sein … Wäre es nur umgekehrt! Würde ich nur immer jung bleiben und das Bild altern! Dafür – dafür – würde ich alles geben! Ja es gibt nichts auf der ganzen Welt, das ich nicht gäbe! Meine Seele würde ich dafür geben!“ (S. 41)

Was ist passiert? Dorian will die Gesetze des Lebens neu schreiben. Das Porträt soll altern, er aber nicht. Die äußere Schönheit, der äußere Glanz sind ihm wichtig. Würde er heute leben, ließe er sich trotz Lockdown seinen Friseur und seine Shoppingmeile ins Haus kommen lassen und alles dafür tun, dass zumindest sein Äußeres nicht unter den Einschränkungen des Alltags leiden müsste. Vor lauter Auf-das-Äußere-Blicken merkt Dorian nicht, dass er das eigentlich Wichtige vernachlässigt. Die mahnende Stimme Basils, der sehr wohl sieht, was sich bei Dorian verändert, will er nicht hören. Er ist geradezu besessen von dem, was der Lord ihm in Aussicht stellt, und dessen Aura löst in ihm den starken Drang aus, ins die Fülle des Lebens auszuschöpfen. Demagogie als Form der Verführung. Sie gibt es in allen Bereichen menschlichen Lebens, auch die Geschichte kennt fatalerweise viele Demagogen, die eine Heerschar Anhänger ins Verderben geführt haben.

Dem Lord jedenfalls gelingt es, Dorian in seinen Bann zu ziehen:

Er würde ihn zu dominieren suchen, hatte es ja schon halb getan. Er würde sich diesen wunderbaren Geist zu eigen machen. (S. 54)

Und wenige Seiten später heißt es:

Zu einem Großteil war der Junge seine Schöpfung. Er hatte ihn frühreif gemacht. (S. 79)

Das Fatale ist: Dorian geht es gut dabei. Er genießt skrupellos, er erlebt etwas, nichts spricht dafür, dass er auf die falsche Bahn gekommen ist. Auch hier ist der Verführer mächtig, der Verführte ohnmächtig, er lässt sich verführen, er schlittert mehr oder weniger bewusst in die Abhängigkeit. Und auch hier ist Verführung negativ konnotiert.

Der Trick Wildes ist genial: Nicht Dorian, sondern sein Porträt altert. Porträts kann man auf dem Dachboden lagern und braucht sie nie ansehen, sein eigenes Gesicht muss man dagegen ständig mit sich herumtragen. Ich denke, es gibt genügend Menschen, die gar nicht so traurig wären, wenn sie eine solche Möglichkeit hätten. Dorian schaut sich sein Porträt von Zeit zu Zeit an und vergleicht die sich zum Schlechten verändernden Züge darauf mit seinen eigenen. Aber viel zu spät lernt er die Veränderung des Porträts zu deuten.

Oscar Wilde, geboren 1854 in Dublin, brillanter Student der klassischen Literatur, hat bereits als junger Mann literarische Erfolge. Er ist ein Dandy, sieht sich als Ästhet der Ästheten, lebt und arbeitet in den USA und in Paris, gründet in England eine Familie und erlebt dort den Absturz in die Mittellosigkeit, nachdem der Skandal um sein Verhältnis zu Lord Alfred Douglas bekannt wird. Man verurteilt ihn zu zwei Jahren Zuchthaus. Oscar Wilde stirbt 1900 unter falschem Namen als kranker Mann in Paris. Dort ist er auf dem Friedhof Père Lachaise begraben. Sein Grab war lange übersät von Lippenstift-Küssen heutiger Verehrerinnen. Mittlerweile sind diese Abdrücke verboten, das Grab ist durch eine Glasplatte geschützt.

Oscar Wilde: Das Bildnis des Dorian Gray, übersetzt von Eike Schönfeld, Berlin (Insel Verlag) 2015

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