Nicht so wild, Effi, nicht so leidenschaftlich. Ich beunruhige mich immer, wenn ich dich so sehe. (S. 7)
Dieser Satz, gesprochen von der Mutter von Effi Briest gleich zu Beginn des Romans, legt das Programm fest. Weiter heißt es:
Und die Mama schien ernstlich willens, in Äußerung ihrer Sorgen und Ängste fortzufahren.
Effi ist da kein kleines Kind mehr. Sie ist eine junge Frau von siebzehn Jahren, die nach wie vor streng behütet wird. Baron Geert Instetten, gut zwanzig Jahre älter als sie, hält um ihre Hand an und ohne selbst gefragt zu werden, ist sie am gleichen Tag mit ihm verlobt. Ihr Vater beschreibt, wie er die Verbindung sieht:
Geert, wenn er nicht irre, habe die Bedeutung von einem schlank aufgeschossenen Stamm und Effi sei dann also der Efeu, der sich darumzuranken habe. (S. 17)
So ist das, Effi als Zierde, das ist ihre Zukunftsperspektive.
Schon die Hochzeitsreise zeigt: Da wird etwas schiefgehen. Die Reise führt die beiden nach Italien. Sie besuchen eine Galerie nach der anderen, stehen stundenlang vor Gemälden in Museen und in ihren Briefen an ihre Eltern wird deutlich, dass Effi eigentlich Sehnsucht nach zu Hause hat.
Das Gespräch der Eltern darüber spricht Bände:
Frau von Briest, als sie den Brief vorgelesen hatte, sagte:
„Das arme Kind. Sie hat Sehnsucht.“
„Ja,“ sagte Briest, „sie hat Sehnsucht. Diese verwünschte Raserei …“
„Warum sagst du das jetzt? Du hättest es ja hindern können. Aber das ist so deine Art, hinterher den Feigen zu spielen. Wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist, decken die Ratsherren den Brunnen zu.“
„Ach Luise, komm mir doch nicht mit solchen Geschichten. Effi ist unser Kind, aber seit dem dritten Oktober ist sie Baronin Instetten. Und wenn ihr Mann, unser Herr Schwiegersohn, eine Hochzeitsreise machen und bei der Gelegenheit jede Galerie neu katalogisieren will, so kann ich ihn nicht daran hindern. Das ist eben das, was man `sich verheiraten‘ nennt.“
„Also jetzt gibst du das zu. Mir gegenüber hast du das immer bestritten, immer bestritten, daß die Frau in einer Zwangslage sei.“
„Ja, Luise, das hab ich. Aber wozu das jetzt. Das ist wirklich ein zu weites Feld.“ (S. 39f.)
Ein weites Feld … Günter Grass nimmt dieses Bild als Titel für seinen Wenderoman und knüpft dadurch an Fontane an. Hier wie da steht dieses Bild für ein ausuferndes Thema mit dem kleinen Unterschied, dass bei Fontane noch zu steht: ein zu weites Feld. Diese kleine Nuancierung, ausgesprochen von Briest gegenüber seiner Frau, bedeutet nicht anders als: „Für dich, meine liebe Luise ist dieses Feld zu weit“, eine klare Wertung, die den Gepflogenheiten der Zeit entsprechend, die Ohnmacht der Frau zeigt. Das Gespräch zwischen den Eltern von Effi zeigt aber noch mehr: Ihr Vater sieht die Zwangslage der Frau als gegeben an und ihre Mutter leidet unter dieser genauso wie Effi. Effis Tragik wird durch das Rollenverhalten der Eltern noch verstärkt.
Effi und Instetten kehren von ihrer Reise zurück in eine zweigeteilte Welt mit festen Strukturen: Noch in der Kutsche nach Kessin erklärt Instetten die Unterschiede zwischen Stadt und Land, in denen sich das künftige Leben Effis abspielen sollte. Über die Kessiner sagt er:
„Daß sie wirklich gut sind, will ich nicht gerade behaupten, aber sie sind doch anders als die andern; ja sie haben gar keine Ähnlichkeit mit der Landbevölkerung hier.“
„Und wie kommt das?“
„Weil es eben ganz andere Menschen sind, ihrer Abstammung nach und ihren Beziehungen nach. Was du hier landeinwärts findest, das sind sogenannte Kaschuben, von denen du vielleicht gehört hast, slawische Leute, die hier schon tausend Jahre sitzen und wahrscheinlich noch viel länger. (S. 42)
In der Stadt hingegen wohnen viele auch von fern Eingewanderte, die Handel treiben.
„Die ganze Stadt besteht aus solchen Fremden, aus Menschen, deren Eltern oder Großeltern noch ganz woanders saßen.“
„Höchst merkwürdig. Bitte sag mir mehr davon. Aber nicht wieder was Gruseliges. Ein Chinese, finde ich, hat immer etwas Gruseliges.“
„Ja, das hat er,“ lachte Geert. „Aber der Rest ist, Gott sei Dank, von ganz anderer Art, lauter manierliche Leute, vielleicht ein bißchen zu sehr Kaufmann, ein bißchen zu sehr auf ihren Vorteil bedacht und mit Wechseln von zweifelhaftem Wert immer bei der Hand. Ja, man muss sich vorsehen mit ihnen.“ (S. 43f.)
Von Stadt und kaschubischen Landbewohnern grenzt sich die Adelsgesellschaft ab, auch nochmals zweigeteilt in Land- und Stadtadel. Fontane lässt keinen Zweifel daran, dass sich der Landadel als der eigentlich richtige versteht. Die gesellschaftliche Einteilung ist starr, Veränderungen sind nicht vorgesehen, geschweige denn möglich. Es steht nicht in der Macht des Einzelnen, die gesellschaftlichen Grenzen zu überschreiten. Fontane zeichnet ein sehr genaues Bild, vor welchem gesellschaftlichen Hintergrund sich die Tragödie um Effi abspielt. Machtstellung und Selbstwertgefühl sind fest an Stand, Titel und auch Größe des Grundbesitzes gebunden. Man ist stolz auf Familientraditionen, man denkt in Kategorien von „oben“ und „unten“ und man weiß: Zwischenmenschliche Beziehungen gründen nicht auf Neigung, sondern sind durch Notwendigkeit und Nützlichkeit geprägt.
„Daran hängt doch am Ende Leben und Sterben“ (S. 65), so Instetten.
Die Szenen am Anfang des Romans legen die Umgangs- und Verkehrsfrage (S. 64) fest, die klarstellt, unter welchem Erwartungsdruck die Figuren stehen. Rollentypisches Verhalten, ständeadäquate Karrieren und Ehen, das alles ist bereits mit Geburt festgelegt und ein Ausscheren aus diesen Schienen ist gesellschaftlich unmöglich. Individuelle Freiheit gibt es nicht. Die Moral orientiert sich im spätbismarckschen Preußen an Pflicht und Ehre.
Effi kommt in der Welt Instettens an. Sein Haus ist ihr zu dunkel, sie will es umgestalten und sprüht nur so vor Ideen. Instetten hört ihr wohlwollend zu, spricht aber am Ende den Satz:
„Es wird aber wohl am besten sein, wir lassen es beim alten.“ (S. 56)
In den kommenden Wochen lernt Effi bei Ausfahrten mit Instetten die Umgebung kennen und merkt schnell, dass ein Leben auf sie wartet, vor dem sie sich fürchtet. Instettens Frage:
„Wirst du dich einleben?“ (S. 65) impliziert nicht sein Interesse daran, dass sich Effi wohlfühlt. Nein hier ist der nachfolgende Text eindeutig:
„Wirst du populär werden und mir die Majorität sichern, wenn ich in den Reichstag will? Oder bist du für Einsiedlertum, für Abschluß von der Kessiner Menschheit, so Stadt wie Land?“ (S. 65)
Instetten hat hier klare Erwartungen. Effi muss spuren. Sie soll eine Rolle spielen, die ihren Mann weiterbringt. Heute würde man sagen, sie wird für die Karriere des Mannes instrumentalisiert, damals war das etwas, worauf man stolz war.
Ist das ein Thema von gestern, das unsere Gesellschaft gottlob überwunden hat? Beliebe nicht. Wir haben heute keinen Bismarck und auch keinen Kaiser Wilhelm mehr und wollen wirklich nicht zurück in diese Zeit. Wir haben andere Ordnungs- und Wertgefüge und es gibt die standeshomogene Ehe nur noch vereinzelt in westlichen Gesellschaften. Wir haben uns vom Duell verabschiedet, wenn es darum geht, Ehre zu verteidigen. Aber wenn es um die Karriere geht, sind Menschen nach wie vor bereit, sich zu verbiegen und Verträge zu unterschreiben, hinter denen sie im Grunde nicht stehen. Die Gesellschaft hat weiter einen Erwartungsdruck, er ist nicht minder grausam als damals, aber er hat andere Formen. Wie sähe die Effi von heute aus? Was würde sie tun, wenn sie bemerkt, dass sich das nicht erfüllen wird, was sie erwartet hat, dass sie nicht im siebten Himmel, sondern in einem goldenen Käfig gelandet ist? Gibt es heute nach wie vor Frauen, die ihr Leben nach der Karriere des Mannes ausrichten?
Wer Effi Briest heute, fern von jeglichem Schulzwang liest, entdeckt darin brandaktuelle Gesellschaftskritik. Nicht ohne Grund gibt es immer wieder Neuverfilmungen und Versuche, den Roman mit heutigem Blick in Szene zu setzen. In unserer globalisierten Welt gibt es weiter Ehrenmorde und auch nach wie vor die Problematik, dass die Konvention zum Druck für Menschen werden kann.
Die Geschichte von Effi erscheint zwischen 1894 bis 1895 in sechs Folgen in der Deutschen Rundschau und wird 1896 als Roman veröffentlicht. Fontane erzählt im für ihn typischen Stil: auktorial. Ein scheinbar allwissender Erzähler ist am Werk, der mit klar aufgebauten, teils sehr langen Sätzen exakt und atmosphärisch dicht beschreibt, kommentiert und auch wertet. Man hat den Eindruck, jedes Detail ist wichtig und ja, das ist auch so. Gleich zu Beginn wird der Garten des Briestschen Hauses beschrieben, der alles bietet, was das Herz begehrt, aber umrahmt ist von dicken Mauern, die wie ein Gefängnis wirken. Und dieses Bild ist geradezu Sinnbild für Effis Leben, in dem die Mauern um sie im übertragenen Sinn immer höher werden. Aber es wird nicht nur erzählt. Dieser große Gesellschaftsroman besteht weitgehend aus Dialogen, die den auktorialen Erzähler zurücktreten lassen und das Geschehen freigeben für eine personale Erzählhaltung aus der Sicht seiner Hauptfigur Effi. Plaudernd geht es zu wie in allen Romanen Fontanes, plaudernd beschreibt er eine Katastrophe, die sich heute mit anderen Vorzeichen noch genauso abspielen könnte, allein dass heute die Medien beteiligt wären und weiteres Öl ins Feuer gießen würden.
Theodor Fontane (1819-1898) beginnt im Alter von 20 Jahren zu schreiben und stirbt mit 80 Jahren. Das heißt, er hat 60 Jahre geschrieben. An seinem Werk kann man den kulturellen Epochenwandel von der Romantik zum Naturalismus verfolgen. Neben seiner schriftstellerischen Arbeit ist er Auslandskorrespondent, Zeitungsredakteur, Kriegsberichterstatter, Theaterkritiker und von Hause aus Apotheker. Seine sozialkritischen Romane der späten Schaffensperiode gelten als Gipfel seines Werkes. Fontane hat hugenottische Vorfahren und ist sich seiner nicht-deutschen Herkunft sehr bewusst. Daher kommt sehr filigran seine Distanz zum Preußentum zum Ausdruck. Er durchwandert die Mark Brandenburg und schreibt darüber vier Bücher, die bis heute lesenswert sind und darüber hinaus DIE Quelle für seine Romane darstellen, die allesamt in der Mark Brandenburg spielen. Theodor Fontane gehört zu den deutschen Schriftstellern, deren posthumer Ruhm ständig wächst.
Theodor Fontane: Effi Briest, (Hera Verlag) Berlin und Hamburg 1949