1664 führt Molière Tartuffe in Versailles auf. Ludwig XIV. ist begeistert, der Erzbischof von Paris entsetzt. Im Tartuffe treffen Macht und Ohnmacht in geradezu teuflischer Weise aufeinander: Der Geistliche Tartuffe hat es auf Elmire, die Gattin von Orgon, abgesehen, schleimt sich in deren Haus ein, verschafft sich den unterwürfigen Respekt des Hausherrn und verfolgt skrupellos sein Ziel, die Hausherrin zu verführen. Molière überschreitet in seiner Komödie alle Grenzen des Anstands und der Sitte, kritisiert überspitzt zeitgenössische Formen religiöser Praxis, und scheut sich nicht, religiöses Heuchlertum komödiantisch auf die Bühne zu bringen. Es war klar, dass dieses Wagnis nur scheitern konnte. Molière muss mehrfach umarbeiten, erst fünf Jahre später erhält er die Rechte zur Aufführung. Am Tartuffe hängt nicht nur sein Ruf, sondern auch seine Existenz. Leider ist nur die letztlich erlaubte Textfassung überliefert: Diese ist mit Sicherheit um ein Vielfaches gegenüber den früheren Versionen abgeschwächt. Aber man kann sagen, dass diese dritte Version den Siegeszug des Stückes durch die Bühnen der Welt begründet. Und klar ist auch, dass der Tartuffe ein Meilenstein der Diskussion um die gesellschaftliche Relevanz von Komödien ist. Molières Botschaft ist eindeutig: Er will die Menschen nicht betrüben, sondern mit den Mitteln der Komik auf ihre Laster aufmerksam machen und sie dadurch läutern.
Wir springen in den dritten Akt, in dem die Hauptfigur Tartuffe erstmalig auftritt. Vorausgegangen ist, dass der Hausherr Orgon geschmeichelt ist, einen so angesehenen Geistlichen in seinem Haus zu empfangen. Es war damals durchaus gängige Praxis in aristokratischen und wohlhabenden Familien, sich geistliche Führer ins Haus zu holen, die dafür Sorge tragen sollten, dass die Familie anständig lebte. Orgon tut alles, um es Tartuffe recht zu machen und ist sogar bereit, seine Tochter Mariane mit ihm zu vermählen, obwohl diese Valère versprochen ist. Orgons Frau Elmire ist verzweifelt. Sie will das Unglück ihrer Tochter verhindern und bittet Tartuffe um ein vertrauliches Gespräch. Bei dieser Gelegenheit zeigt er seine wahren Absichten.
Elmire: Was ich mir wünsche, ist nur ein Gespräch
In dem Ihr Herz sich offen zeigen soll.
Tartuffe: Auch ich erbitte nichts als diese Gunst,
Vor Ihnen meine Seele auszubreiten.
Elmire: So versteh ich‘s
Es war die Sorge um mein Seelenheil.
Tartuffe (preßt ihre Fingerspitzen) Gewiß so groß ist meine Leidenschaft.
Elmire: Au, nicht so fest!
Tartuffe: Das war Übereifer. Denn niemals möcht ich Ihnen wehtun, und ich
Würde viel lieber…
(Er legt ihr die Hand aufs Knie)
Elmire: Was tut Ihre Hand da?
Tartuffe (befühlt ihr Kleid) Der Stoff ist so geschmeidig
Elmire: Um Himmels willen nicht, ich bin so kitzelig.
(Sie rückt mit ihrem Stuhl fort, Tartuffe rückt mit seinem Stuhl nach) (S. 36)
Wortkomik und Situationskomik wechseln sich ab, Elmire durchblickt das Spiel Tartuffes, sie spielt mit, um ihr Ziel zu erreichen. Tartuffe packt alles aus, was er, der Fromme, wo auch immer, an Liebesbekenntnissen gelernt hat. Er ist alles andere als der weltabgewandte Geistliche, er ist zielgerichteter Verführer, dem dabei jedes Mittel recht ist. Die Thematik des lüsternen Geistlichen … Wie viel wäre auch heute zu dieser Thematik zu sagen und wie viel wird auch heute noch darüber tabuisiert!
Immerhin, hier handelt es sich wenigstens nicht um Missbrauch an Kindern. Tartuffe umschmeichelt Elmire, preist sie als vollkommenes Geschöpf, bekennt, dass sein Herz in Liebe entbrannt ist. Ja, er weiß sogar, dass seine Leidenschaft keine Sünde ist und sich sehr wohl mit Sittsamkeit vereinbaren lässt, Elmire sei sein Hoffen, sein Wohl, sein Frieden. Elmires Erstaunen über diese Eröffnung ist nachvollziehbar:
Elmire: Dieses Bekenntnis ist durchaus galant
Doch kommt es mir ein wenig überraschend.
Sollten Sie nicht Ihr Herz viel besser wappnen
Und eine solche Absicht überdenken?
Ein frommer Mann wie Sie, von dem man spricht …
Tartuffe: Bin ich auch fromm, so bin ich doch ein Mann;
Der Anblick Ihrer himmlischen Gestalt
Ergreift das Herz; es denkt nicht lange nach. (…)
Elmire: Ich höre zu, und mit gewandten Worten
Erklären Sie sich mir recht unverblümt
Fürchten Sie nicht, ich könnte meinem Mann
Von der galanten Leidenschaft erzählen? (S. 38f.)
Sie ringt Tartuffe das Versprechen ab, ihrem Gatten nichts von Tartuffes Absichten zu erzählen, wenn er, Tartuffe, im Gegenzug auf Mariane verzichtet und deren Verbindung zu Valère unterstützt.
Im 4. Akt, 4. Aufzug, folgt die Fortsetzung dieser Szene. Orgon ist weiter geblendet von der Bigotterie Tartuffes. Um ihn zur Vernunft zu bringen und ihm vor Augen zu führen, um welchen Scharlatan es sich bei Tartuffe handelt, zwingt Elmire ihren Gatten, das folgende Gespräch zu belauschen und auf ihr Zeichen, ein Husten, einzuschreiten. Er muss sich unter dem Tisch verstecken. Molière gestaltet hier eine der schönsten Szenen klassischen Theaters. Gleichzeitig bricht er mit mehreren Tabus: Die Verführung einer verheirateten Frau durch einen Geistlichen vor den Augen des unter dem Tisch sitzenden Ehemanns, ein Glanzstück des Spiels im Spiel, nicht gemacht für devote Zuschaueraugen der Zeit. Die Macht dieser Verführungsszene konterkariert aufs Schärfste die Ohnmacht des gehörnten Ehemanns. Anders als im 3. Akt gibt sich Elmire nun bewusst offen gegenüber Tartuffe, ihre Kalkulation geht auf, Tartuffe kommt in Fahrt:
Tartuffe: Nichts scheint mir köstlicher, als solche Worte
Aus einem Mund zu hören, den man liebt:(…)
Ich traue solchen süßen Reden nicht,
Solange nicht ein Zeichen Ihrer Gunst
Mir das bestätigt, was mir jene sagen (…)
Elmire: (hustet, um ihren Mann aufmerksam zu machen)
Wie denn? In solcher Eile wollen Sie
Die Neigung eines Herzens ganz ausschöpfen. (..)
Tartuffe: Das Unverdiente wagt man nicht zu hoffen,
Und Worte sind kein Pfand für unsere Wünsche.
Um sich für solch ein Los erwählt zu halten,
Muss man genießen, ehe man es glaubt. (S. 55f.)
Tartuffe verlangt ein sicheres Zeichen der Liebe Elmires. Diese versucht geschickt, ihn daran zu erinnern, dass doch der Himmel einer solchen Verbindung nicht zustimmen würde. Sie hustet und hustet. Orgon scheint das vereinbarte Zeichen vergessen zu haben, er bleibt jedenfalls unsichtbar. Tartuffe wischt die Einwände Elmires regelrecht vom Tisch:
Tartuffe: Die lächerliche Furcht kann ich zerstreuen
Und Ihre Skrupel weiß ich zu beheben
Der Himmel, ja, verbietet manche Freuden
Doch kann man sich mit ihm schon einigen;
Es gibt so eine Lehre, nach Bedarf
Die Bande des Gewissens leicht zu lockern,
Um dann das Schlechte einer Handlung durchaus.
Die Reinheit unserer Absicht gleich zu läutern (…)
Wer im Geheimen sündigt, sündigt nicht.
Elmire (nachdem sie nochmals gehustet hat)
Ich muss mich wohl entschließen nachzugeben
Und muss bereit sein, alles zu gewähren. (S. 56f.)
Diese letzten Worte sind an beide Männer gerichtet: An Tartuffe, der sich auf dem Tisch nah an sie herangemacht hat und an ihren Mann unter dem Tisch, der sich weiter mucksmäuschenstill verhält. Es dauert noch eine ganze Weile, bis endlich Orgon unter dem Tisch hervorkommt und die Situation eskaliert. Der Skandal nimmt seinen Lauf. Der Verführer ist zwar auf frischer Tat ertappt, aber immer noch glaubt Orgon an das Gute in ihm.
Heutige Tartuffes sind nicht mehr devot in Soutane und mit triefenden Bibelzitaten auf der Bühne, sie sind macht- und geldlüsterne Verführer, die sich mit Unschuldsmiene einschleichen, um bislang klardenkende Menschen in folgsame unterwürfige Opfer zu verwandeln, die bereit sind, alles aufzugeben, um dem vermeintlichen Heil zu folgen. Tartuffe als Verschwörungstheoretiker, Tartuffe als Guru, Tartuffe als Lichtgestalt für ein neues Leben. Man kann sich viele Gesichter vorstellen, hinter denen sich Tartuffe verbirgt.
Alle Tartuffes sind selbstsicher, zynisch und wissen genau, wo Schwachstellen sind. Sie merken z.B., dass der gut situierte Orgon in die Midlife-Crisis gerutscht ist, seine bis dato gut gefestigte Machtposition innerhalb der Familie ins Wanken gerät, die Frau sich mehr und mehr emanzipiert, die Kinder flügge werden und all das macht ihn empfänglich für die Suche nach neuen Perspektiven. Ja, auch Orgon ist ein Opfer Tartuffes, er, der eigentliche Herr im Haus, wird verführt, ohne dass er es bemerkt. Tartuffe braucht seine Soutane oder seine weiße Weste, seine Bibel oder sein Offenbarungsbuch, er braucht aber auch ein Gegenüber, das mitspielt. Ein Gegenüber, das verblendet genug ist, um die Verführung nicht zu bemerken. Er braucht eine Person, die ihm hörig ist, die bereit ist, ihm Frau und Kind und Vermögen zu überlassen, er braucht einen, der auf seine aalglatten Betrügereien hereinfällt und seiner Demagogie auf den Leim geht, frei nach dem Motto: Wem genug der Bart gestreichelt wird, der ist bereit, sein eigenes Todesurteil zu unterschreiben. Tartuffe wird nicht aussterben, er kleidet sich in immer neue Gewänder und er findet verlässlich immer neue Opfer, egal zu welcher Zeit.
Molière (1622-1673) ist D E R große Komödiendichter Frankreichs. Bevor ihm mit den Précieuses Ridicules (Die lächerlichen Kleinodien) 1659 der Durchbruch gelingt, tingelt er mit seiner Truppe durch Frankreich, immer auf der Suche nach einem Gönner. Zu seiner Zeit wurden Schauspieler durch Exkommunikation gebrandmarkt und waren vollends von ihrem jeweiligen Mäzen abhängig. Mit der Ecole des femmes (Schule der Frauen) aus dem Jahr 1662 erwirbt er sich die Gunst des Königs und dieser wird sein Auftraggeber. Um diese Gunst zu behalten, muss Molière den Geschmack des Königs genau treffen und einen regelrechten Frondienst für ihn leisten, ein Stück nach dem anderen schreiben und mit seiner Truppe immer dort sein, wo der König gerade weilt. Molières Erfolgsdruck ist gewaltig. Er hält diesem Druck nicht stand, unterliegt im Kampf mit seinem Rivalen Lully und kommt durch die Auseinandersetzungen um den Tartuffe an physische und psychische Grenzen. Molière stirbt nach der 4. Aufführung des Malade imaginaire (Der eingebildete Kranke), den er selbst interpretiert und fällt vom einst gefeierten Arrangeur königlicher Zerstreuung auf den Status des aus der Kirche ausgestoßenen Asozialen. Molières Themen sind zeitlos. 2022 wird dem 400. Geburtstag Molières gedacht. Es wäre mehr als wünschenswert, wenn viele seiner Stücke für unsere Zeit neu interpretiert auf die Bühnen kämen.
Jean-Baptiste Molière: Tartuffe, übersetzt von Monika Fahrenbach-Wachendorf, Stuttgart (Reclam) 1989