Impulse zum Advent

Gunnar Gunnarsson: Advent im Hochgebirge

Ein Land kennenzulernen bedeutet für mich auch, seine Literatur zu lesen. Es bedeutet auch, mit Menschen zu sprechen, Speisen zu kosten und Gebräuche wahrzunehmen, den Blick zu schärfen für das Andere. Mit dem Advent im Hochgebirge im Rucksack bin ich mitten im Sommer durch Island gewandert. Auch wenn Gunnarsson das Geschehen bewusst in die Zeit vor Weihnachten verlegt, so kann dieses Kleinod an Literatur zu jeder Jahreszeit gelesen werden. Benedikt ermöglichte mir einen anderen Blick auf die Landschaft, mein Gehen bekam einen anderen Rhythmus, es wurde geradezu meditativ.

Das Buch von Gunnarsson kann jedes Jahr neu gelesen werden, es bleibt immer aktuell, es erdet und sensibilisiert für das eigentlich Wichtige im Leben. Es kann zum Kompass werden.

Das Buch enthält die Gedanken, Anregungen und Kommentare aus dem virtuellen Literaturkreis vom Advent 2022.

Ulrike Mielke: Impulse zum Advent – Gunnar Gunnarsson: Advent im Hochgebirge.
Heidelberg 2023
Beziehbar über mich oder über alle Buchhandlungen.
ISBN 978-3-758427-87-9, Erscheinungsdatum: 13.11.2023.
Preis: 8,00€

Literarisch unterwegs in der Toskana

Vom 21.10.-28.10.2023 war ein lustiger Trupp unterwegs auf den Spuren von Dante, Boccaccio und Petrarca. Frau de Mars, inzwischen sicher ein toskanisches Urgestein, die bemüht ist, die Liebe zur Region allen ins Herz zu pflanzen, empfing uns und lotste uns zielsicher durch das volle Florenz. Gleich am ersten Abend wurden wir in die Realität Italiens hineingeworfen und merkten: Dort ist die Dichtung Dantes lebendig. Ein grandioses Beispiel der Rezitation gab uns Riccardo, der uns mit seiner wunderbaren Stimme mit in die Hölle Dantes nahm und dadurch schon zeigte: Dante ist präsent, damals wie heute. Jede einzelne Zeile seiner Komödie trägt und ein jeder konnte sich etwas vorstellen unter:

…zum Galgen schuf ich mir mein eigen Haus…“

Wir erschlossen uns das Dante-Viertel, die kleine Welt von damals. Einige setzten sich auf den Stein Dantes, von dem er aus den Bau des Domes beobachtete. Und wir lauschten den Ausführungen von Frau de Mars, die so vertraut ist mit Dantes Welt.

Von San Miniato del Monte genossen wir einen großartigen Blick über die Stadt und die Region – und einen Tag später war dieser Berg das Ziel des großen Friedensmarsches von Muslimen, Juden und Christen, die sorgenvoll auf den Krieg in Israel blicken. Es war eine riesige Kundgebung, ein sehr wichtiges Friedenszeichen an die Kriegsregion.

Es herrschte Pest und Not, als sich junge Menschen zu Boccaccios Zeiten trafen und beschlossen: Wir müssen hier raus. Sie gingen denn auch damals schon beschwerlichen Weg aus aus der Stadt, auf der Suche nach besserer Luft. Wir haben es ihnen nachempfunden. Vom hoch gelegenen Fiesole sind wir herabspaziert (oder gefahren) zur Villa Schifanoia, in deren Garten wir einen Hauch von dem spüren konnten, was Boccaccio in seinem Decamerone beschreibt. Und eine Novelle zeigte uns, wie kreativ Geschichten sein können. Wir haben am gleichen Tag noch das Archiv der EU besucht und erhielten Einblick, was es heißt, Dokumente der EU zu archivieren. Wer entschied damals, wer entscheidet heute, wann ein Text archiviert wird?

Unser Weg führte uns am nächsten Tag mit dem Bus durch den Valdarno nach Arezzo. Die große Überraschung: Sämtliche Wetter-Apps lagen falsch. Wir sahen sogar den Pratomagno, ein Blick, der Petrarca geprägt hat. Wir kamen an Stellen, die ohne Frau de Mars‘ Hilfe wohl niemand für sich entdeckt hätte. Die Balze, die Ponte Buriano… Einige schauen jetzt sicher anders auf die „Mona Lisa“! Wir erfuhren, wie wichtig die Schlacht von Campaldino 1289 war, die den Aufstieg von Florenz besiegelte und neue Städte ermöglichte, z.B. das vom Reißbrett aus geplante Castelfranco, in dem die Macht von Florenz sichtbar wurde. Dem gegenüber wird der große Gegensatz der mittelalterlichen Städte wie z. B. Loro Ciuffenna deutlich. Sicher wird auch die Kirche Pieve di Gropina mit ihren wunderschönen Alabasterfenstern in Erinnerung bleiben.

Der Weg über die Setteponti-Straße führte uns zu Veronica in einem Agriturismo der Fraternità dei Laici, die ihren Sitz in Arezzo hat.

Dort kam dann Boccaccio zu Wort und wir diskutierten, was sein Werk so einzigartig macht und warum er für so viele Dichter späterer Zeiten Vorbild ist. Der Geschmack des geistigen Genusses fand seinen Übergang in dem unvergleichlich guten Geschmack von frisch gepresstem Olivenöl, gepaart mit der Gaumenfreude des toskanischen Weins. Wer den Agriturismo verließ und nicht wusste, was Lebensgenuss ist, der hat etwas falsch gemacht.

Arezzo hat seine Seele noch nicht an den Tourismus verkauft, dafür wirbt die Stadt. Debora zeigte uns Beeindruckendes und sparte nicht mit einem patriotischen Bekenntnis zu ihrem Arezzo. Der Eindruck des Stolzes auf die Stadt und ihre durchaus leidgeprägte Geschichte wurde durch die engagierte Führung seitens des Büros des Bürgermeisters durch das Rathaus noch verstärkt. Man freute sich über unser Kommen und dankte mit großer Gastfreundschaft.

Arezzo, die Stadt, in der Petrarca geboren wurde, beherbergt DAS Haus für Petrarca-Studien: Die Accademia Petrarca. Ihr Bibliothekar Prof. Martini führte uns durch das Haus und erläuterte, was alles bis heute im Zusammenhang mit Petrarca geforscht wird. Petrarca, der dem Humanismus den Kick gab und den wir gerade heute, wo die Welt nach einem neuen Humanismus schreit, so dringend bräuchten.

Der Petrarkismus wird zu einer europäischen Bewegung. Petrarca blieb nicht in der Toskana, mehr als seine beiden anderen Dichterkollegen prägte er die Lyrik der Zeit.

Seine Laura wird zur Muse, und was das bedeutet, diskutierten wir an einem schönen Nachmittag im Salon des Hotels anhand einiger Sonette aus dem “Canzoniere“ .

Spontan und sehr bewegend hat uns Herr Prof. Acker die Leistungen Guido d’Arezzos, dem Begründer der modernen Notenschrift, nahegebracht, über Florenz als Geburtsstätte der Oper gesprochen und uns ermöglicht, Monteverdis Interpretation einer Canzone Petrarcas zu hören.

Zur Toskana gehört das gute Essen, das hatten wir zu Genüge. Und auch die südliche Sonne war uns hold bis auf den Empfang bei der Anreise und an einem Tag in Florenz. Es hätte wahrlich schlimmer kommen können!

Mme de Staël – oder was ein reaktionärer Geist bewirkt

Wir schreiben das Jahr 1790. Germaine de Staël erwartet das zweite ihrer fünf Kinder. Nicht alle sind ehelich. Sie ist unglücklich mit Baron Magnus Staël von Holstein verheiratet, der siebzehn Jahre älter ist, aber dank seines Amtes – er ist schwedischer Botschafter – der Familie immerhin ein Leben in Paris ermöglicht. Germaine de Staël schont sich nicht. In ihrem Salon entsteht der Entwurf für die erste Verfassung von 1791. Als aber die Revolution mehr und mehr zur Schreckensherrschaft wird, flieht sie in das väterliche Schloss am Genfer See, beginnt eine Liaison mit dem Schriftsteller Benjamin Constant, kehrt mit ihm nach Paris zurück, merkt, dass Napoleon dort ein zunehmend diktatorisches Regime aufbauen will und geht in erbitterten Widerstand zu ihm. Sie schreibt ein Buch nach dem anderen, kritisiert, dass in Frankreich eine viel zu große Ehrerbietung gegenüber der Antike auch noch unter den zeitgenössischen Schriftstellern herrscht und fordert ihre Mitmenschen dazu auf, den Blick nicht nur in die Vergangenheit, sondern in die Gegenwart der nord- und mitteleuropäische Kulturen zu richten. Sie lernt Deutsch, was sie allerdings nie richtig beherrscht, reist 1803 nach Weimar, trifft dort Wieland, Schiller und Goethe und verbringt mit August Wilhelm Schlegel mehrere Monate in Italien. Inzwischen ist sie junge Witwe – ihr Mann ist 1802 gestorben – und versucht vergeblich, Benjamin Constant zu einem dauerhaften Bekenntnis zu ihr zu bekehren. In Wien beginnt sie 1807 das Buch, das nicht nur ihren Ruhm zementieren, sondern auch das Bild von Deutschland in Frankreich über Jahrhunderte hinweg beeinflussen sollte. Es trägt den durchaus anspruchsvollen Titel Über Deutschland. Fertiggestellt 1810, wird es in Frankreich sofort zensiert und vernichtet. Man will kein deutsches Vorbild vorgehalten bekommen. Napoleon kann keine anderen Götter neben sich dulden.

Mme de Staël muss außer Landes, verliebt sich am Genfer See erneut, bekommt ein weiteres Kind und tritt eine lange Reise an, die letztlich in London endet. Sie macht währenddessen immer wieder Stimmung gegen Napoleon. Dank der Gewissenhaftigkeit von Schlegel, der die Korrekturfahnen ihres Buches über Deutschland aufgehoben hatte, kann sie es in London drucken lassen. Nach der Abdankung Napoleons kehrt sie nach Paris zurück, unterstützt König Ludwig XVIII., stirbt aber 1817 im Alter von 51 Jahren. Den Siegeszug ihres Buches in ganz Europa erlebt sie aber noch.

Über Deutschland prägt beispiellos das Bild Deutschlands in der französischen Öffentlichkeit. Warum? Lassen wir Germaine de Staël sprechen:

Es gibt in Deutschland Schätze von Ideen und Kenntnissen, welche die übrigen Nationen Europas in sehr langer Zeit nicht erschöpfen werden.

Auch das poetische Genie, wenn der Himmel uns dasselbe zurückgibt, könnte einen glücklichen Antrieb von der Liebe für die Natur, für die Künste und die Philosophie erhalten, welche in allen Gegenden Deutschlands gärt. Zumindest aber wage ich die Behauptung, dass jeder von uns, der sich einer ernsten Arbeit, sie bestehe worin sie wolle, widmen will, in Hinsicht der Geschichte, der Philosophie und des Altertums die Bekanntschaft der deutschen Schriftsteller, die sich damit beschäftigt haben, nicht entbehren kann.

Frankreich kann sich einer großen Zahl von Gelehrten höchsten Ranges rühmen; allein selten sind in ihren Kenntnisse mit philosophischem Scharfsinn verbunden gewesen, während beide in Deutschland gegenwärtig beinah unzertrennlich sind. (…)

Als ich das Studium des Deutschen begann, kam es mir vor, als ob ich in eine ganz neue Sphäre träte, worin sich das auffallendste Licht über alles verbreitete, was ich bis dahin auf verworrenste Weise empfunden hatte. Seit einiger Zeit liest man in Frankreich nur Memoiren und Romane, und wahrlich nicht aus bloßem Flattersinn ist man ernsthafter Lektüre minder fähig. Der Grund liegt vielmehr darin, dass die Begebenheiten der Revolution die Franzosen gewöhnt haben, nur auf die Kenntnis der Tatsachen und der Personen einen Wert zu legen. In den deutschen Büchern über die abstraktesten Gegenstände findet man die Art von Interesse, welche nach guten Romanen lüstern macht, d.h. nach dem, was sie uns über unser eigenes Herz sagen. Der unterscheidende Charakter der deutschen Literatur besteht darin, dass alles auf das innere Dasein bezogen wird; und da dies das Geheimnis der Geheimnisse ist, so knüpft sich darin eine grenzenlose Neugierde. 1

Es ist verständlich, dass Napoleon solche Sätze nicht gefallen. Allein der erste Satz idealisiert Deutschland bereits: Es gibt in Deutschland Schätze von Ideen und Kenntnissen, welche die übrigen Nationen Europas in sehr langer Zeit nicht erschöpfen werden. Da wird Deutschland auf einen Sockel gehoben, als Vorbild stilisiert und im weiteren Verlauf sieht Mme de Staël überall in allen Regionen Deutschlands gar den Nährboden für Natur, Künste und Philosophie. Sie regt an, sich mit deutscher Literatur zu beschäftigen. Und sie lässt die Franzosen, das Volk, dessen Sprache in allen besseren Kreisen Europas gesprochen wurde, schlecht wegkommen. Mme de Staël kreiert ein Bild von Deutschland als Land der Dichter und Denker. Ja, es ist kein Deutscher, der den Weg dieses Begriffes geebnet hat, es ist eine Frau aus der romanischen Schweiz, die mit einem Franzosen verheiratet war und sich schriftstellerisch betätigt. Wahrscheinlich hat Napoleon keine Zeile des Buches gelesen, das immerhin über 800 Seiten dick ist. Frankreich will er als die „grande nation“ sehen, da passt es nicht ins Bild, dass die Franzosen ernsthafter Lektüre nicht fähig seien, wie es Mme de Staël schreibt. Sie nennt den Grund: Die Revolution hat dazu geführt, dass sie nur auf Kenntnis der Tatsachen und Personen einen Wert legen. Nein, nicht die Franzosen seien an diesem Zustand schuld, die alles überschattende Revolution ist die Quelle. Mme de Staël, die die Revolution ja erst unterstützt hat, aber die Ausweitung zum „terreur“, zur Schreckensherrschaft ablehnte, bezieht hier eine völlig andere Position als ein berühmter Deutscher, den es nach Frankreich zog: Der junge Heinrich Heine schaut sehnsuchtsvoll nach Frankreich und merkt: Dort wagt man etwas, da bewegt sich die Zeit, da will ich hin. Man kann Heine viel vorwerfen, sicher aber nicht, dass für ihn nur Tatsachen und Personen entscheidend waren. Beide, er und fast eine Generation vor ihm Mme de Staël, kämpfen für Liebe und Freiheit und doch sind beide in ihrem Zugang zu Frankreich und Deutschland meilenweit voneinander entfernt. Heine widmen wir ein eigenes Kapitel, daher zurück zum obigen Text: Mme de Staël bescheinigt der deutschen Literatur auf das innere Dasein bezogen zu sein. Die innere Welt, das, was zu Herzen geht. Dies zu lesen, das mache – so ihre Worte – die eigentliche Güte der Literatur aus. Und eine solche findet sie vorrangig in Deutschland.

Wie kommt es, dass im frühen 18. Jahrhundert ein solches Bild Deutschlands entstehen konnte? Zwischen 1792 und 1815 wüten überall in Mitteleuropa Kriege. Napoleons Siegeszug und sein Untergang beherrschen die Zeit. Lange sieht es so aus, als wäre er unbesiegbar. Das Heilige Römische Reich deutscher Nation endet 1806 mit der Abdankung des letzten Kaisers Franz II. Deutschland ist weit davon entfernt, ein Nationalstaat zu sein, aber es wird als Kulturnation mit zersplitterten Kleinstaaten angesehen, das zwar kein einigendes kulturelles Zentrum hat, aber eine beachtliche Reihe von Mäzenen, die in ihren Residenzstädten für hohe kulturelle Dichte sorgen. In Deutschland kommt die Romantik zügig in Gang. In Jena treffen sich junge Menschen, allesamt bemüht darum, das Bewusstsein und nicht die Zeit zu revolutionieren. Das ist es, was Mme de Staël anzieht.

Autonomie ist ein Zauberwort, das sich in allen möglichen Schaffensbereichen zeigt. Kein Zentralismus, trotz widrigster politischer Umstände die Möglichkeit einer kulturellen Blüte. Mme de Staël will Deutschland als ein Land zeigen, in dem es anders zugeht als in Frankreich. Ihr geht es nicht um das Territorium Deutschland, nicht um geographische Grenzen, sondern um das „Allemagne pensante“, das denkende Deutschland.

Als das Buch erscheint, ist die Zeit reif für solche Gedanken. Mme de Staël ist wahrlich nicht die erste, die das denkende Deutschland bewundert. Und sie ist Realistin genug, um auch Kritik zu üben. Der Romanist Wolfgang Leiner schreibt:

So falsch es wäre, anzunehmen, Mme de Staël habe ein bis dato völlig unbekanntes Deutschland entdeckt, so verfehlt wäre es auch zu glauben, ihr Deutschlandbild stehe in völligem Gegensatz zu den Vorstellungen all der französischen Beobachter, die das Deutsche als eine Art Umkehrung französischer Ideale gesehen hatten: souplesse/Schwerfälligkeit, Esprit/Pedanterie, Eleganz/naive Unbeholfenheit, Spontaneität/langes Überlegen. Das Deutschlandbild der Mme de Staël ist entgegen einer weitverbreiteten Annahme keineswegs ein Bild, in dem alles in hellen Farben gehalten wird. 2

Germaine de Staël geht auch mitunter hart ins Gericht mit Eigenschaften, die sie bei Deutschen beobachtet:

Dem Deutschen fehlt es, mit wenigen Ausnahmen, an Fähigkeit zu allem, wozu Gewandtheit und Geschicklichkeit erfordert wird. Alles beunruhigt ihn, macht ihn verlegen; er bedarf ebensosehr der Methode im Handeln als der Unabhängigkeit im Denken. (…) Die Deutschen, die sich dem Joche der Regeln in der Literatur nicht unterwerfen können, möchten, dass im Leben ihnen alles vorgezeichnet würde. Sie verstehen sich nicht darauf, mit den Menschen zu verhandeln, und je weniger man ihnen Gelegenheit gibt, sich bei sich selbst Rat zu holen, desto mehr ist man ihnen willkommen. 3 (36)

An dieser Stelle kommt mir der Blick auf Deutschland sehr aktuell vor. Gewandtheit und Geschicklichkeit in Verhandlungen mit Frankreich fehlen, die Nachrichten aus aller Welt beunruhigen uns immer noch, das nennt man heute „German Angst“. Es scheint mir, als hätte sich an dem, was Mme de Staël vor zweihundert Jahren beobachtet hat, nicht viel geändert.

Das Bild der Mme de Staël ist differenziert, es enthält Licht- und Schattenseiten. Sie geht akribisch vor, beschreibt in einem langen ersten Teil Sitten, geht im zweiten Teil über zu Literatur und Kunst und in den folgenden dann zu Philosophie, Moral und Religion. Es ist das Werk einer mutigen Frau, die die Zeit kritisch begleitet, sich nicht unterbuttern lässt und wirkliches Interesse am Nachbarn hat. Sie will den anderen verstehen, ja, aber sie will auch das Gute im anderen für sich nutzbar machen.

Die Rezeption des Werkes ist gewaltig. Am nachhaltigsten ist, dass durch das Buch Deutschland zum Thema in französischer Literatur wird.

Anne Germaine de Staël: Über Deutschland, hg. Von Monika Bosse, übersetzt von Friedrich Buchholz, Samuel Heinrich Catel und Julius Eduard Hitzig auf Grundlage der deutschen Erstausgabe von 1814, Frankfurt (Insel Verlag) 1985

1S. 470f. im Kapitel „Von den literarischen Reichtümern Deutschlands und von seinen berühmtesten Kunstrichtern, August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schlegel“

2S. 87 in: Wolfgang Leiner: Das Deutschlandbild in der französischen Literatur, Darmstadt (Wissenschaftliche Buchgesellschaft) 1991

3S. 36 im Kapitel „Sitten und Charakter der Deutschen“

Besuch im Füllermuseum: Der virtuelle Literaturkreis on tour.…

Am 15.9.2023 herrschte full house im Heidelberger Füllermuseum – einige Damen und Herren, die beim virtuellen Literaturkreis zum Teil seit Jahren mit dabei sind, hatten einen eindrücklichen Vormittag. Das Füllermuseum, – nicht nur einzigartig in der Region sondern das einzige seiner Art überhaupt, wird seit Jahren aufgebaut und geführt von Thomas Neureither, der selbst aus einer Heidelberger Füllfederhalterdynastie stammt. Heidelberg war einst die Hochburg der Produktion, – ein Umstand, der heute nur noch marginal erkennbar ist.

Herr Neureither begeisterte uns. Er erzählte nicht nur vom Unterschied des händischen und maschinellen Schreibens, wir hatten Gelegenheit, die unterschiedlichen Stufen der Entwicklung von der Feder bis zum Füllfederhalter selbst auszuprobieren, wie bekamen einen Einblick in die komplizierte Zusammensetzung eines Füllers und auch erklärt, was einen guten Füller wirklich ausmacht. Herr Neureither hat sich sein enormes Wissen nicht angelernt, er lebt darin.

Der Vormittag verging wie im Flug und wurde durch ein sehr fröhliches Mittagessen in Handschuhheim abgerundet.

Ein gelungener “Betriebsausflug”, der ob des großen Interesses mit Sicherheit erneut von mir angeboten wird.

Literarisch unterwegs in Salzburg und Bad Gastein (17.6.-24.6.2023)

Wunderschöne Sommertage erwarteten uns in Salzburg auf dem herrlichen Mönchsberg, wo wir zu Gast im Johannesschlössel sein durften. Ein magischer Ort, ein wunderbar gepflegter, weitläufiger Garten und eine Oase der Ruhe und trotzdem ganz nah am quirligen Leben der Stadt. Stefan Zweigs Wohnort auf dem Kapuzinerberg gegenüber fast sichtbar, haben wir die Welt Zweigs genauer betrachtet, immer wieder die geradezu erschreckende Aktualität für uns heute thematisiert. Wir sind durch Salzburg geschlendert, haben immer wieder unter kundiger Führung von Inez Reichl de Hoog viele Geschichten von Menschen gehört, die die Stadt inspiriert und geprägt hat, waren zu Gast bei den Künstlern Michael Ferner und Marco Govorcin und haben u.a. über die Kunstszene und ihre Themen nach Corona gesprochen, hatten ein wunderbares Konzert im Schloss Mirabell und natürlich immer wieder dazwischen kulinarische Höhepunkte.

Das herrliche Sommerwetter mit angenehm kühlen Nächten blieb uns auch In Bad Gastein erhalten, nur am letzten Tag fielen Diamanten vom Himmel, wie Grillparzer das so schön ausdrückte. Wir wohnten im Hotel Excelsior, geführt von einem leidenschaftlich um das Wohl der Gäste bemühten Hotelierspaar. Es war fantastisch. In Bad Gastein spazierten wir zu Kraftorten, Almen, Bergspitzen und natürlich dem Wasserfall, der quer durch das Dorf rast, und thematisierten an den unterschiedlichen Orten Texte von Menschen, die hier große Literatur geschrieben haben. Wir lernten Bad Gastein als Filmkulisse kennen und hörten von vielen Stars, die immer wieder kamen und kommen. Unnachahmlich hat Elisabeth Kröll ihrem Spitznamen, das historische Gewissen Bad Gasteins zu sein, alle Ehre gemacht. Der Nationalparkranger Hans Naglmayr sensibilisierte mit eindrücklichen Informationen und Bildern zu den Hohen Tauern für die Verantwortung, die wir alle tragen, wenn wir diese grandiose Natur betreten.

Das Programm war vielfältig. Anhand ausgewählter Passagen haben wir Humboldts Vorstelllungen vom Bildungsideal diskutiert, an dem er in Bad Gastein immer wieder arbeitete, wir stellten anhand eines Textes von Nikolai Gogol die Frage nach der Beurteilung von Theater, eine Frage, die wohl jeden Kunstinteressierten immer wieder beschäftigt, und wir betrachteten lyrische Passagen, die in Bad Gastein entstanden von der Minne bis in unsere Tage. Immer wieder wurde deutlich, warum dieser Ort so viele Menschen in seinen Bann gezogen hat und es weiter tut. Er ist sogar Thema eines Textes von Hermann Burger, mit dem er den Bachmannpreis gewonnen hat.

Derzeit herrscht erneut in diesem Ort Aufbruchsstimmung, Millionen werden in denkmalgeschützte Gebäude investiert, und einmal mehr erobert sich Bad Gastein derzeit ein neues Publikum. Diese Umbruchphase konnten wir voll und ganz genießen.

Der Künstler und das Meer

Der Künstler und das Meer, so lautete die Ankündigung des Programms, das die beiden Salzburger Künstler Michael Ferner, der Maler und Marko Govorcin, der Musiker am Sonntag, 26.3.2023 in Majers Weinscheuer in Schriesheim boten. Ich war gespannt und wusste nicht, was auf mich zukam. Es war mehr als seine 2000 km lange Reise mit dem Kajak an der Küste entlang von Griechenland nach Kroatien, von der Michael Ferner erzählte, kommentiert durch die wunderschöne Stimme von Marko, untermalt mit Foto- und Videoeinspielungen. Es war ein Lehrstück zum Thema Vertrauen, das mich binnem Kurzem in eine völlig andere Sicht auf unsere Welt brachte und mich komplett in Bann zog. Die Kombination aus Humor und Tiefgang, Bild und Ton, die war schon einzigartig. Da haben sich zwei Menschen gefunden, die aus einer Idee eine Geschichte geschrieben haben, die wohl keinen so schnell loslässt, der am Sonntagabend dabei war.


Mein Fazit:
Danke an alle, die gekommen sind und Werbung gemacht haben.
Der Aufwand hat gelohnt. Und einen ganz herzlichen Dank an Frau Majer!
Ich würde die beiden gern wieder hierher einladen, sie haben noch viel mehr zu bieten!

Am 12.5.23 ist Michael Ferner zu seiner Vernissage in Worms in der Galerie Steuer und am 17. und 18.6.23, also unmittelbar vor meiner literarischen Reise nach Salzburg und Bad Gastein finden in Salzburg neue Aufführungen des Musicals Rabazamba statt, das er geschrieben und illustriert hat.

Advent im Hochgebirge,Teil 8

Also ging er und ging aus dem Tag hinaus und in die Nacht hinein, ging und ging.

Benedikt geht mit seinen Tieren und den Schafen zur Hütte. Aber seine Rechnung geht nicht auf, wie es nun einmal im Leben so oft ist. Der erwartete Postkutscher ist nicht da, nur dessen Pferde. Benedikt will auf ihn warten, ihm ist es wichtig, dass die Seinen Nachricht von ihm erhalten. Aber auch dieser Plan geht nicht in Erfüllung. Benedikt besinnt sich und will Knorz nicht zu lange allein mit den Schafen in der Einsamkeit stehen lassen. Die mit Heu versorgten Pferde sollen dem Postkutscher Signal genug sein, um zu wissen, dass er da war. Er hofft, dass der Kutscher diese Botschaft zu den Seinen bringt. Und einmal mehr ist ihm das Wetter feindlich gesonnen. Der Wind wird zum Sturm, zu Gebirgswetter, zu Winterwetter zu richtigem Schneesturm. Und Benedikt ist von diesem Tosen wie von einer Mauer eingeschlossen.

Das Bild geht unter die Haut. Die Weite der Landschaft birgt eine tödliche Gefahr. Sie wird zur Mauer, sie wird zum Gefängnis, da keinerlei Orientierung möglich ist. Benedikt wird sich seiner Schwäche bewusst. Er, der wahrlich ein gutes Gespür für die Unbillen der Natur besitzt, der erfahren ist und dem Übermut oder Tollkühnheit fremd sind, er weiß, was die Stunde schlägt. Er weiß um seine Todesgefahr und vielleicht ist dieses Wissen für ihn lebensrettend. Er verfällt nicht in Panik oder Schockstarre. Er handelt bedächtig und erkennt an, dass er nicht allmächtig ist.

So ohnmächtig ist der Mensch. So wenig nützt es, wider den Stachel zu löcken, wenn er von stärkeren Mächten geführt wird.

Benedikt weiß, dass er sich den Gesetzen der Natur beugen muss, wenn es eine Chance geben soll, dass sein Unternehmen gelingt. Die Hütte, das Loch, irgendein Schutz will sich nicht finden. Aber Benedikt gibt nicht auf.

Aber Benedikt fand doch einen Ausweg. Es ist des Menschen Aufgabe, einen Ausweg zu finden – vielleicht seine einzige. Nicht nachzugeben. (…) Wenn die Füße nicht mehr wollen, gut, dann muss man darauf verzichten.

Wie leicht hört sich das an und wie schwer ist das umzusetzen. Der Mensch hat die Aufgabe, nicht aufzugeben. Das kann in bestimmten Situationen als Hohn aufgefasst werden. Menschen, die am Rande stehen, deren Kraft am Ende ist, wenn man diesen Menschen sagt, dass es ihre Aufgabe sei, nicht aufzugeben, muss man mit heftigen Gegenreaktionen rechnen. „Du hast ja keine Ahnung, was ich hier stemmen muss!“ Das wäre eine mögliche Antwort. So richtig zufrieden ist der Mensch eigentlich nur, wenn alles funktioniert. Wehe, ein Zahn macht Probleme, mag er noch so klein sein, er kann die Welt des Menschen ordentlich in Schräglage bringen. Und was würde wohl der antworten, dessen Füße nicht mehr wollen, wenn man ihm sagt, er möge darauf verzichten? Ich höre im Geiste die Antwort: „Du hast gut reden!“

Aber welche Wahl hat Benedikt? Aufgeben oder weitermachen? Er wählt den zweiten Weg und ruht sich in einer kleinen Schneehöhle aus, eifrig darauf bedacht, nicht einzuschlafen. Wer jetzt einschläft, der wird nicht mehr wach, das weiß er. Draußen ist es noch kälter als üblich, der Sturm wird eher heftiger, seine einzige Chance besteht darin, seine Höhle zu finden. Das nackte Leben zu schützen. Und siehe da, – am wenigsten weiß Benedikt, wie das möglich war – er findet seine Höhle. Und dort kommt er allmählich zu sich.

Was Kaffee ist, weiß nur, wer ihn in einer Höhle unter der Erde getrunken hat, bei 30 Grad Kälte und inmitten einer Wüste von Unwetter und Bergen.

Seine Kleider trocknen. Zwei Tage noch und dann ist Weihnachten, das weiß Benedikt und der Blick auf seine Vorräte sagt ihm: Sie reichen nicht mehr.

Gunnarsson macht nun einen Absatz im Text und schaltet sich mit der rhetorischen Frage auktorial ein:
Ist noch mehr von Benedikt und seiner siebenundzwanzigsten Adventwanderung zu erzählen?

Ja, denn sie ist noch nicht zu Ende. Im Zeitraffer erfahren wir nun, was die nächsten zwei Tage noch geschieht: Der Gletscherfluss ist noch nicht zugefroren, er kann also nicht mit seinen Skiern darüberfahren, sein Versuch, direkt ins Dorf zu gelangen wird dadurch vereitelt. Er findet weitere Schafe und bringt sie erst einmal in die Obhut von Knorz. Der zweite Weihnachtstag bricht an und jetzt beschließt er, dass es nur noch einen Ausweg gibt. Er macht sich ohne Knorz und die Schafe auf nach Botn.

Wie mag es in ihm aussehen? Die Entscheidung, hier aufzugeben, ist ihm nicht leicht gefallen. Es ist aber eine vernünftige Entscheidung, auch wenn er sich eingestehen muss: Mission nicht erfüllt. Völlig ausgemergelt, eher dem Tod als dem Leben nahe, kommt er in der Zivilisation an. Die erste Frage, die er dort stellt, ist:

Wo ist der junge Benedikt?

Er ist nicht zu Haus, er ist mit einigen jungen Leuten in die Berge gegangen. Und siehe da, sie bringen die Schafe und Knorz auf den Hof zurück. Die Bauern, die bereit waren, nach Benedikt und den jungen Leuten zu suchen, brauchen nicht mehr aufzubrechen. Es hat sich alles gefügt. Und die Weihnachtszeit bricht an. Schön an diesem Ende ist, dass es offensichtlich mehrere Menschen gibt, die sich sorgende Gedanken machen und dann auch handeln.

Wir wissen nicht, ob Benedikt nun den Stab abgibt an Jüngere. Wir wissen auch nicht, ob all die, die ihn aufgehalten haben, die Grimsdals, der Bauer, der seinen unreifen Knecht auf die Suche nach den Fohlen geschickt hat, ob sie alle eine Lehre aus ihren Fehlern ziehen. Das alles bliebt im Unklaren.

Wir sind mit Benedikt durch diesen Advent gewandert. Ein Advent, der jedem von uns mit Sicherheit nicht nur die Vorfreude auf Weihnachten beschert hat. Viele Sorgen gehen mit in jeden Tag, egal in welcher Jahreszeit. Wie viele Fragen lässt der Text offen, wie viele nehme ich mit in meine Weihnachtszeit? Mir ist klar, ich hätte weder die Kondition noch das geistige Durchhaltevermögen, um Benedikts Weg zu gehen. Aber er rückt auf so eindrückliche Weise die Welt zurecht, dass es schlicht gut tut, diesen Text zu lesen. Was ist der Mensch? Diese Frage stellt sich am Ende des Lesens mit Klarheit? Er ist begabt mit Denken, aber er ist gleichzeitig abhängig von der anderen Kreatur. Hier im Text sind es Leo und Knorz, ohne die die Suche nach den verlorenen Schafen erfolglos geblieben wäre. Menschliche Größe hängt mit Demut zusammen, mit Einbindung in den großen Kontext der Welt. Es geht hier beileibe nicht um Benedikt. Die Geschichte lese ich als Parabel eines Menschen, der die Natur respektiert, der sehr sensibel auf die Bedürfnisse seiner Umwelt reagiert, der um seine Arbeit für die und in der Welt weiß. Benedikt ist kein Egoist, er ist auch kein Abenteurer, Benedikt ist ein Mensch mit einem klaren Ziel vor Augen, das er zugegebenermaßen nur mit Idealismus erreichen kann.

Lassen wir ihn nun in seiner Weihnachtsfreude wieder zu Kräften kommen. Die Erzählung schließt mit dem Satz:

Und so war denn auch diese Adventswanderung vorüber, der Dienst beendet, und Benedikt wieder unter Menschen – für eine Weile.

Es ist anzunehmen, dass er sich im folgenden Advent wieder aufmacht, um die Schafe zu suchen, die verloren sind. Und es ist anzunehmen, dass sich mancher von den Leserinnen und Lesern, die die vergangenen Wochen mit Benedikt unterwegs waren, im kommenden Jahr wieder das Buch vornimmt und erneut die große Wanderung nach drinnen macht, wie es im Text heißt. Die Geschichte kann zu einem Ritual der Adventszeit werden. Große Literatur. Die zeigt sich bereits im ersten Satz der Geschichte:

Wenn ein Fest bevorsteht, machen sich die Menschen dazu bereit, jeder nach seiner Weise.

Advent im Hochgebirge, Teil 7

Hier draußen in Nacht und Einsamkeit und Mondlicht kam ihm wieder eine Ahnung von Feiertag, von Advent, ein Nachhall von Tönen in der Luft, von Glockenklang, von Erinnerungen an Sonne und Heuduft, von Hoffnung auf ein Sommerland. Oder nicht? Am Ende war es nur eine besondere Art von innerer Stille.

Wieder ist es Nacht, wieder ist da Einsamkeit und Stille und diese Stimmung ist es, die Benedikt an Feiertag, Advent, Glockenklang, Sonne, Heuduft und Sommerland denken lässt. Hinter jedem Begriff stehen klare Assoziationen, positive Bilder, absolut nicht vereinbar mit der rauen Umgebung, die ihn im Moment umgibt. Äußerliche Stille dringt in sein Inneres und erzeugt diese Bilder. Die Tiere um ihn, sein Leo und sein Knorz, tun ihr Übriges. Es ist eine angespannte Stille:

Denn jetzt schlug die Stunde.

Sie brechen auf, noch ist es Nacht, windstill, sie gehen ins Ungewisse.

Doch schön ist’s mit den Sternen zu wandern und gleich ihnen in Bewegung zu sein.

Die drei gehen ihren Weg, ohne Hektik, wohlbedacht, angstfrei, obwohl rundum schwarzblankes nächtliches Eis ist. Die Wanderung wird zu einem Gedicht: sie wurde im Blut zu einem Gedicht. Also im Schmerz? Und wie ein Gedicht wird sie auswendig gelernt, das heißt dann auch vertraut. Was ich auswendig kenne, das ist mir vertraut, das habe ich vielfach bereits erfahren, von dem kann ich vielleicht auch sagen: Das brauche ich. Es ist ein Ritual. Die Psychologie heute weiß um die Wichtigkeit von Ritualen für Menschen. Sie geben Orientierung, sie sind Leitplanken, ohne sie wird Wesentliches nicht sichtbar. Und ja, sie bringen Ruhe.

Endlich kam tiefe Ruhe in Benedikt.

Diese Ruhe kommt mitten in der äußersten Anspannung, mitten im anstrengenden Weg in ihn. Gunnarsson gewährt uns einen tiefen Einblick in seinen Benedikt. Er findet ein starkes Bild für dessen Gemütszustand:

Ihm war wie einem Mann zumute, der am Ertrinken war und plötzlich den Kopf aus dem Wasser streckt und gerettet ist.

Diese Anstrengung, den Kopf über das Wasser zu bringen, führt zum Überleben. Auch diese Metapher lässt sich spielend vervielfachen: Wann sind Menschen am Ertrinken? Sicher nicht nur, wenn sie von Wasser umgeben sind, sondern wenn alles einfach zu viel wird, wenn eigentlich noch nicht einmal die Kraft da ist, den Kopf über Wasser zu halten. Aber ein winziger Moment scheint auszureichen, um den Schalter umzulegen. Benedikt bemerkt, dass ihm die Luft wie Quellwasser entgegenströmt. Hier hätten sicher viele Deutschlehrer einen dicken Bezugsfehler markiert, Luft, die wie Quellwasser strömt! Aber Dichter dürfen so poesievoll schreiben und Leser dürfen diese Poesie auch verstehen. Wie schön! Benedikt erkennt: Dies war sein Leben! Und diese Erkenntnis bringt ihn zum Einssein mit sich, er hadert nicht, er vergeudet keine Kraft, er erkennt: So und wahrscheinlich nur so ist mein Leben. Alle kräfteraubenden Gedanken sind weg. Er heißt dieses absolut heftige und schwere Leben willkommen. Sorgen sind verschwunden, vielleicht bleibt eine: Wer wohl seinen Part übernehmen wird, die Tiere zu retten? Aber auch hier ist er zuversichtlich: Irgendjemand wird wohl kommen. Und diesem Irgendjemand wünscht er solche Begleiter, wie er sie hat: Leo und Knorz, die Tiere, für die er die Verantwortung trägt.

Benedikt kennt sein Ziel. Es ist unverkennbar, dass das eine wesentliche Aussage von Gunnarsson ist, wahrlich kein Vertreter von: Der Weg ist das Ziel. Nein! Sein Protagonist hat ein klares Ziel vor Augen und um dies zu erreichen, ist ein Weg erforderlich. Dieser Weg ist nicht beliebig, er hat eine klare Ausrichtung, auch wenn er oft genug unwegsam ist. Benedikt geht nicht ziellos drauflos, er weiß, wohin er will.

Und es wird Tag und mit dem Anbruch des Tages schwindet die Stille der Nacht. Winde beginnen ihr teuflisches Spiel, lassen Konturen verblassen, schneegraues Land und schneegrauer Himmel werden eins. Ein neuer Schneesturm braust den dreien um die Ohren. Gerade vom Ertrinken gerettet, kommen sie jetzt nicht in säuselnde laue Lüftchen, sondern in einen mörderischen Sturm. Das ist kein guter Weg, gerade jetzt, wo die Kraft ohnehin schon mehr als angegriffen ist. Atmen ist kaum noch möglich, so heftig werden die drei gebeutelt. Benedikt hofft, sein Loch zu finden, das er Hütte nennt und das er bereits vor siebenundzwanzig Jahren gebaut hat. Aber in dieser menschenfressenden Gebirgswüste ist Orientierung nicht mehr möglich.

Leben und Tod liegen hier auf den Schalen der Waage – wohin sinkt die Schale?

Die Balance ist schwer zu halten, alles droht zu kippen. Mut ist der einzige Helfer. Man macht weiter. So einfach ist es.

Benedikts Tastsinn hilft ihm. Er findet einen Stein, den er kennt. Dieser signalisiert ihm: Du bist schon über dein heutiges Ziel hinaus gegangen. Er muss nun zurück, läuft im Zickzack, spielt dabei ein gefährliches Spiel, da Orientierung kaum möglich ist. Und dann – war es Zufall? – findet er sein Loch, seine Hütte. Mit eindringlichen Bildern beschreibt Gunnarsson hier einen Menschen, der allein auf sich gestellt, aber mit Verantwortung für seine Tiere weitermuss, auch wenn die Kraft zu Ende geht. Benedikt ist nicht auf der Flucht, aber die Bilder sind die, von denen auch Menschen erzählen, die den langen Marsch über das zugefrorene Haff im Zweiten Weltkrieg nach Westen hinter sich gebracht haben. In solch existentiellen Situationen gibt es keine Alternativen. Die einzige Möglichkeit ist weitergehen, in Bewegung bleiben, nicht aufgeben. Gunnarsson wechselt jetzt, am Loch angekommen, die Perspektive. Nicht mehr Benedikt, sondern seine Schaufel übernimmt die Regie.

Jetzt begann die Schaufel ihre Arbeit.

Sie wird personifiziert, sie muss jetzt die Arbeit leisten. Und sie gehorcht. Der Mensch braucht solche Werkzeuge zum Überleben. Die drei betreten das schützende Loch und wieder geht das Ritual los: Erst werden die Tiere versorgt, dann der Mensch. Sie teilen ihr Essen und auch wenn das Brot gefroren ist und zwischen den Zähnen knirscht, so scheinen sie zufrieden.

Den Mann mochte er sehen, dachte Benedikt, der es herrlicher auf seinem Schloss hatte und sicherer in den Bedrängnissen des Lebens, dazu noch mit der Aussicht, in den nächsten Tagen ein paar Schafe vom Hungertode zu erretten und seiner Gemeinde wie der Allgemeinheit und Allschöpfung nützlich zu sein. „Denn merk dir das, Leo, selbst der Papst in Rom hat es nicht besser und feiner als du und ich, oder ein reineres Gewissen.“

Den Papst werden keine Sorgen plagen, ob er die nächsten Tage noch satt wird. Wohl aber Benedikt. Nun geht auch noch das Licht im Loch aus. Finsternis. Keine natürliche Finsternis breitet sich aus, sondern eine bedrohliche. Das Atemloch fehlt. Auch wenn Benedikt kaum klare Gedanken fassen kann, er stößt geradezu instinktiv die Tür auf und sorgt im Loch für Frischluftzufuhr. Mitten in der Nacht nach einem bleischweren Schlaf brechen er und Leo auf. Der Tag ist zwar windstill, aber sie finden kein lebendes Schaf, nur noch Kadaver. Benedikt ist ausgezehrt, er hadert mit Gott und der Welt, er zweifelt und er gibt sich seiner Erschöpfung hin. Aber von Aufgeben ist bei ihm keine Spur. Am nächsten Tag ändert sich die Lage, dieses Mal sind alle drei auf der Suche. Und ihre Hartnäckigkeit wird belohnt.

Das Glück, das ihn gestern bei klarem Himmel im Stich gelassen hatte, kehrte wieder und begegnete ihm hier mitten im Schneetreiben.

Sie finden fünf Schafe, welch ein Erfolg. Aber damit ist nicht genug getan. Die Schafe sind untereinander uneins und nur schwer zusammenzuhalten. Das kostet ihn alle Kräfte.

Das Bild ist beeindruckend gewählt. Hier wird eine riesige Anstrengung beschrieben, eine Suche nach verlorenen Schafen, die letztlich belohnt wird. Sie werden gefunden. Aber statt sich zu fügen, driften sie auseinander und drohen die ganze Mühe zunichte zu machen. Auch hier kann leicht die Sinnfrage gestellt werden. Wozu der ganze Aufwand, wenn offensichtlich die, für die er betrieben wird, so undankbar und wenig kooperativ sind?

Die Schafe können nicht ahnen, was ihnen sonst gedroht hätte. Sie wissen gar nicht, dass sie gerettet worden sind und dass Knorz nur bei ihnen bleibt, um sie zu schützen. Der Leithammel erweist sich bei der Suche und dem Heimholen als klug und weitsichtig. Benedikt und seine wachsende Tierfamilie verbringen die folgende Nacht nicht im Loch, sondern in der Hütte. Sie hoffen, dort den Postboten zu treffen, der Nachrichten von Benedikt nach Hause übermitteln kann. Benedikt weiß sehr wohl, dass sich Menschen um ihn sorgen und will ihnen ein Lebenszeichen zukommen lassen. Vom Feld, von feindlicher, gefährlicher Umgebung aus. Wie nah ist der Text jetzt an unserer derzeitigen Situation, wenn wir nach Osten blicken.