Man muss ihn nicht kennen, diesen Gunnar Gunnarsson. Aber wenn man einmal anfängt, ihn zu lesen, besteht Suchtgefahr.
Er beginnt 1910 zu schreiben. Königssohn. Eine alte Geschichte aus Norwegen ist sein erstes Buch, aber nicht das erste, das er veröffentlicht. Er debütiert mit Die Leute auf Borg, ein mehrteiliger Roman, der ihn gleich berühmt macht. Und dann schreibt er ein Buch nach dem anderen, meist auf Dänisch. Erst spät, 1940, publiziert er sein erstes Werk in seiner Muttersprache Isländisch. Die Gesamtausgabe seines Werkes beträgt acht dicke Wälzer. Schwarze Vögel, erschienen 1929, giltbis heute als Islands Krimi Nr. 1. Schnell erscheinen deutsche Übersetzungen seiner Bücher: Advent im Hochgebirge ist hierzulande sein bekanntestes Werk.
Wer ist dieser Gunnar Gunnarsson? Warum kennen wir ihn nicht oder kaum?
Geboren wurde er 1889 in Fljótsdalur als Sohn von Bauern unweit vom Hengifoss, einem der höchsten Wasserfälle Islands. Er wächst in ärmlichen Verhältnissen auf. Als er neun Jahre ist, stirbt seine Mutter, mit achtzehn Jahren geht er nach Jütland in Dänemark, lernt in der dortigen Volkshochschule Dänisch und heiratet 1912 Franzisca Jörgensen.
Er will Dichter werden. Ein Mann, ein Wunsch, ein Ziel. Daher lernt er Dänisch in extrem hoher Geschwindigkeit und sehr erfolgreich. Er will nicht nur das isländische Publikum erreichen.
1938 ziehen die Gunnarssons zurück in den Nordosten Islands, später lassen sie sich in Reykjavík nieder. Hier beginnt er, seine Werke ins Isländische zu übertragen. Den Nobelpreis, für den er insgesamt achtmal vorgeschlagen wurde, hat er nie bekommen. Aber er gilt als einer der wichtigsten Autoren Islands. Gunnar Gunnarsson stirbt 1975 im Alter von 86 Jahren.
Jón Kalman Stefánsson, einer der wichtigsten zeitgenössischen Schriftsteller Islands schreibt in seinem Nachwort zum Advent im Hochgebirge:
In der Literatur jedes Volkes existieren Werke, die wir ihre Gipfel, Höhepunkte oder Markensteine nennen könnten, und sie sind den Leuten so bekannt, dass man sie gar nicht mehr eigens erwähnen muss. (S. 86)
Der Advent im Hochgebirge gehört nach Stefánsson eindeutig dazu. Er verweist darauf, dass heutige isländische Leser Gunnarsson dreifach lesen können: Zum einen im Original in Dänisch, sofern sie der Sprache mächtig sind, dann in der Übersetzung von Halldór Laxness oder aber in der isländischen Ausgabe, die Gunnarsson als alter Mann selbst anfertigte. Drei Werkausgaben, keine ganz einfache Entscheidung.
Egal wie, Gunnarsson lebt in zwei Welten, der Dänemarks und der Islands. Aber Schauplatz seiner Literatur ist ausschließlich die Stille Islands. Dort befindet sich seine innere Heimat.
Der Advent im Hochgebirge führt Leserinnen und Leser mit Benedikt, seinem Hund Leo und dem Hammel Knorz zusammen. Sie werden im Laufe des Lesens zu Freunden. Allein in den USA wurden binnen kurzem 250,000 Exemplare verkauft und immer wieder wird die Vermutung geäußert, Hemingways habe sich seinen Anstoß zu Der alte Mann und das Meer von Gunnarsson geholt.
Gunnarsson geht oft von einer wahren Begebenheit aus, so auch hier. Um diesen Kern herum baut er eine wunderbare Geschichte auf. Stefánsson schreibt in seinem ausführlichen Nachwort einen bemerkenswerten Satz, der mir aus dem Herzen spricht:
Es bereitet natürlich Vergnügen, die Vorgeschichte eines Buches in Erfahrung zu bringen, die Vorbilder für seine Figuren kennenzulernen, das Ereignis, das die dichterische Einbildung derart inspirierte, dass eine eigene Welt neben der wirklichen entstand, all das ist Wissen, das Spaß macht und erfreut, und doch ist es nur nebensächlich, Tand, Beiwerk, denn worauf es ankommt, das ist die Welt im Buch, das Literarische, und nur darauf sollte man ein Buch lesen, damit steht oder fällt es, und mit nichts anderem. (S. 94)
„Ja, ja, ja“, rufe ich ihm zu. Weg mit den Kommentaren, rein ins eigene Erleben. Das ist viel schöner und auch viel ergiebiger. In diesem Sinne starten wir. Mal sehen, wohin uns dieses Experiment bringt.
Gunnar Gunnarsson: Advent im Hochgebirge, übersetzt von Helmut de Boor, Stuttgart (Reclam) 2020
Liebe Frau Mielke,
herzlichen Dank für den tollen Literaturtipp zum Advent.
Ich freue mich auf die Lektüre, habe schon angefangen damit.
Mir kommt in erster Linie das religiöse Bild des
„guten Hirten“ in den Sinn, der nicht nur im Christentum von hohem symbolischen Wert ist.
Ein Bild, das keiner großen Erläuterung bedarf, fast selbsterklärend ist.
Ich wünsche Ihnen von Herzen einen gesegneten Advent und freue mich auf Ihre weiteren Impulse.
Eva Berghof