Also ging er und ging aus dem Tag hinaus und in die Nacht hinein, ging und ging.
Benedikt geht mit seinen Tieren und den Schafen zur Hütte. Aber seine Rechnung geht nicht auf, wie es nun einmal im Leben so oft ist. Der erwartete Postkutscher ist nicht da, nur dessen Pferde. Benedikt will auf ihn warten, ihm ist es wichtig, dass die Seinen Nachricht von ihm erhalten. Aber auch dieser Plan geht nicht in Erfüllung. Benedikt besinnt sich und will Knorz nicht zu lange allein mit den Schafen in der Einsamkeit stehen lassen. Die mit Heu versorgten Pferde sollen dem Postkutscher Signal genug sein, um zu wissen, dass er da war. Er hofft, dass der Kutscher diese Botschaft zu den Seinen bringt. Und einmal mehr ist ihm das Wetter feindlich gesonnen. Der Wind wird zum Sturm, zu Gebirgswetter, zu Winterwetter zu richtigem Schneesturm. Und Benedikt ist von diesem Tosen wie von einer Mauer eingeschlossen.
Das Bild geht unter die Haut. Die Weite der Landschaft birgt eine tödliche Gefahr. Sie wird zur Mauer, sie wird zum Gefängnis, da keinerlei Orientierung möglich ist. Benedikt wird sich seiner Schwäche bewusst. Er, der wahrlich ein gutes Gespür für die Unbillen der Natur besitzt, der erfahren ist und dem Übermut oder Tollkühnheit fremd sind, er weiß, was die Stunde schlägt. Er weiß um seine Todesgefahr und vielleicht ist dieses Wissen für ihn lebensrettend. Er verfällt nicht in Panik oder Schockstarre. Er handelt bedächtig und erkennt an, dass er nicht allmächtig ist.
So ohnmächtig ist der Mensch. So wenig nützt es, wider den Stachel zu löcken, wenn er von stärkeren Mächten geführt wird.
Benedikt weiß, dass er sich den Gesetzen der Natur beugen muss, wenn es eine Chance geben soll, dass sein Unternehmen gelingt. Die Hütte, das Loch, irgendein Schutz will sich nicht finden. Aber Benedikt gibt nicht auf.
Aber Benedikt fand doch einen Ausweg. Es ist des Menschen Aufgabe, einen Ausweg zu finden – vielleicht seine einzige. Nicht nachzugeben. (…) Wenn die Füße nicht mehr wollen, gut, dann muss man darauf verzichten.
Wie leicht hört sich das an und wie schwer ist das umzusetzen. Der Mensch hat die Aufgabe, nicht aufzugeben. Das kann in bestimmten Situationen als Hohn aufgefasst werden. Menschen, die am Rande stehen, deren Kraft am Ende ist, wenn man diesen Menschen sagt, dass es ihre Aufgabe sei, nicht aufzugeben, muss man mit heftigen Gegenreaktionen rechnen. „Du hast ja keine Ahnung, was ich hier stemmen muss!“ Das wäre eine mögliche Antwort. So richtig zufrieden ist der Mensch eigentlich nur, wenn alles funktioniert. Wehe, ein Zahn macht Probleme, mag er noch so klein sein, er kann die Welt des Menschen ordentlich in Schräglage bringen. Und was würde wohl der antworten, dessen Füße nicht mehr wollen, wenn man ihm sagt, er möge darauf verzichten? Ich höre im Geiste die Antwort: „Du hast gut reden!“
Aber welche Wahl hat Benedikt? Aufgeben oder weitermachen? Er wählt den zweiten Weg und ruht sich in einer kleinen Schneehöhle aus, eifrig darauf bedacht, nicht einzuschlafen. Wer jetzt einschläft, der wird nicht mehr wach, das weiß er. Draußen ist es noch kälter als üblich, der Sturm wird eher heftiger, seine einzige Chance besteht darin, seine Höhle zu finden. Das nackte Leben zu schützen. Und siehe da, – am wenigsten weiß Benedikt, wie das möglich war – er findet seine Höhle. Und dort kommt er allmählich zu sich.
Was Kaffee ist, weiß nur, wer ihn in einer Höhle unter der Erde getrunken hat, bei 30 Grad Kälte und inmitten einer Wüste von Unwetter und Bergen.
Seine Kleider trocknen. Zwei Tage noch und dann ist Weihnachten, das weiß Benedikt und der Blick auf seine Vorräte sagt ihm: Sie reichen nicht mehr.
Gunnarsson macht nun einen Absatz im Text und schaltet sich mit der rhetorischen Frage auktorial ein:
Ist noch mehr von Benedikt und seiner siebenundzwanzigsten Adventwanderung zu erzählen?
Ja, denn sie ist noch nicht zu Ende. Im Zeitraffer erfahren wir nun, was die nächsten zwei Tage noch geschieht: Der Gletscherfluss ist noch nicht zugefroren, er kann also nicht mit seinen Skiern darüberfahren, sein Versuch, direkt ins Dorf zu gelangen wird dadurch vereitelt. Er findet weitere Schafe und bringt sie erst einmal in die Obhut von Knorz. Der zweite Weihnachtstag bricht an und jetzt beschließt er, dass es nur noch einen Ausweg gibt. Er macht sich ohne Knorz und die Schafe auf nach Botn.
Wie mag es in ihm aussehen? Die Entscheidung, hier aufzugeben, ist ihm nicht leicht gefallen. Es ist aber eine vernünftige Entscheidung, auch wenn er sich eingestehen muss: Mission nicht erfüllt. Völlig ausgemergelt, eher dem Tod als dem Leben nahe, kommt er in der Zivilisation an. Die erste Frage, die er dort stellt, ist:
Wo ist der junge Benedikt?
Er ist nicht zu Haus, er ist mit einigen jungen Leuten in die Berge gegangen. Und siehe da, sie bringen die Schafe und Knorz auf den Hof zurück. Die Bauern, die bereit waren, nach Benedikt und den jungen Leuten zu suchen, brauchen nicht mehr aufzubrechen. Es hat sich alles gefügt. Und die Weihnachtszeit bricht an. Schön an diesem Ende ist, dass es offensichtlich mehrere Menschen gibt, die sich sorgende Gedanken machen und dann auch handeln.
Wir wissen nicht, ob Benedikt nun den Stab abgibt an Jüngere. Wir wissen auch nicht, ob all die, die ihn aufgehalten haben, die Grimsdals, der Bauer, der seinen unreifen Knecht auf die Suche nach den Fohlen geschickt hat, ob sie alle eine Lehre aus ihren Fehlern ziehen. Das alles bliebt im Unklaren.
Wir sind mit Benedikt durch diesen Advent gewandert. Ein Advent, der jedem von uns mit Sicherheit nicht nur die Vorfreude auf Weihnachten beschert hat. Viele Sorgen gehen mit in jeden Tag, egal in welcher Jahreszeit. Wie viele Fragen lässt der Text offen, wie viele nehme ich mit in meine Weihnachtszeit? Mir ist klar, ich hätte weder die Kondition noch das geistige Durchhaltevermögen, um Benedikts Weg zu gehen. Aber er rückt auf so eindrückliche Weise die Welt zurecht, dass es schlicht gut tut, diesen Text zu lesen. Was ist der Mensch? Diese Frage stellt sich am Ende des Lesens mit Klarheit? Er ist begabt mit Denken, aber er ist gleichzeitig abhängig von der anderen Kreatur. Hier im Text sind es Leo und Knorz, ohne die die Suche nach den verlorenen Schafen erfolglos geblieben wäre. Menschliche Größe hängt mit Demut zusammen, mit Einbindung in den großen Kontext der Welt. Es geht hier beileibe nicht um Benedikt. Die Geschichte lese ich als Parabel eines Menschen, der die Natur respektiert, der sehr sensibel auf die Bedürfnisse seiner Umwelt reagiert, der um seine Arbeit für die und in der Welt weiß. Benedikt ist kein Egoist, er ist auch kein Abenteurer, Benedikt ist ein Mensch mit einem klaren Ziel vor Augen, das er zugegebenermaßen nur mit Idealismus erreichen kann.
Lassen wir ihn nun in seiner Weihnachtsfreude wieder zu Kräften kommen. Die Erzählung schließt mit dem Satz:
Und so war denn auch diese Adventswanderung vorüber, der Dienst beendet, und Benedikt wieder unter Menschen – für eine Weile.
Es ist anzunehmen, dass er sich im folgenden Advent wieder aufmacht, um die Schafe zu suchen, die verloren sind. Und es ist anzunehmen, dass sich mancher von den Leserinnen und Lesern, die die vergangenen Wochen mit Benedikt unterwegs waren, im kommenden Jahr wieder das Buch vornimmt und erneut die große Wanderung nach drinnen macht, wie es im Text heißt. Die Geschichte kann zu einem Ritual der Adventszeit werden. Große Literatur. Die zeigt sich bereits im ersten Satz der Geschichte:
Wenn ein Fest bevorsteht, machen sich die Menschen dazu bereit, jeder nach seiner Weise.
In der Adventszeit bin ich nicht dazu gekommen, den Text zu verfolgen. Bin aber neugierig geworden und würde es gut finden, wenn sie Ihre Text noch mal zusammenfassend darstellen könnten.
Herzliche Grüße Marita Funk-Schneider