Advent 2022 – die Welt ist aus den Fugen. Die Weihnachtsmärkte sind brechend voll. Nach drei Coronawintern fallen alle Hemmungen. Die Straßen sind glühweingesättigt. Weihnachtsbeleuchtung scheint keine Energiekrise zu kennen.
Deutschland ist aus dieser unseligen Weltmeisterschaft ausgestiegen. Die Medien haben langsam Mühe, die furchtbaren Nachrichten aus der Ukraine und anderen Teilen der Welt so zu präsentieren, dass sie noch die verdiente Aufmerksamkeit bekommen. Es ist ein Zuviel an Katastrophen überall, die Gefahr des Abstumpfens ist kaum abzuwenden. Unwillkürlich kommt mir Fitzgeralds The Great Gatsby in den Sinn, der 1922 spielt und eine kippende Gesellschaft beschreibt. Die Roaring Twenties. Auch da eine Welt aus den Fugen.
Ich schaue auf Gunnarssons Buch und weiß, dass ich mit Benedikt jetzt ein Stück weitergehe, nach drinnen, wie er schreibt, ins Hochgebirge, dorthin, wo es kalt, gefährlich und einsam ist. Er geht das siebenundzwanzigste Mal diesen Weg, verlässt ganz bewusst seine Umgebung und begibt sich in eine raue Welt, die voller Ungewissheit steckt. Was treibt ihn an? Er steigt aus, er scheint einer Mission zu folgen, die sich wie ein Ritual jährlich wiederholt. Benedikt macht etwas Absurdes, etwas, was nur Menschen tun, die auf einem Grat zwischen Sinn und Wahnsinn wandeln. Er sucht verlorene Tiere, um sie nach draußen zu bringen, dorthin, wo die Zivilisation dafür sorgt, dass sie überwintern können. Ich suche nach Wörtern, die diesen Benedikt beschreiben. Naiv? Nein, das ist er nicht. Idealist? Schon eher, aber auch das trifft nicht den Kern. Abenteurer, nein, das auf keinen Fall. Ich finde noch nicht das Wort, das für ihn passt. Mutig ist er, zweifelsohne, sensibel auch, denn er braucht ein sehr feines Gespür für sein Unternehmen, das nur gelingen kann, wenn er alles genau im Blick hat, was ihn umgibt: die Natur und seine Begleiter. Benedikt steigt auf alle Fälle aus, vielleicht sehen ihn die einen als Spinner, andere bewundern ihn. Aber eines ist sicher: Benedikt ist kein Vertreter eines Mainstream, auch keiner, der den Kick braucht, der es sich beweisen muss. Aber er ist auch kein Altruist, der völlig selbstlos sein Leben dem Tierschutz widmet. Benedikt braucht diese Zeit im Hochgebirge für sich, diese wenigen Tage des Jahres, in denen er frei ist und seinen Weg justiert, mehr oder weniger ausgetretene Pfade nutzend. Benedikt braucht diese Woche für seine eigene Orientierung.
Gunnarsson macht keinen Heiligen aus seinem Benedikt. Er stellt ihn in eine Welt, die ihn oft nicht versteht und die er selbst auch nicht versteht. Der Bauer, der ihn mit Blick auf das Wetter warnt,
stand stumm und ließ ihn ziehen. Da gingen sie, die drei, und ein unsicherer, mit sich selbst, mit ihnen und der Welt unzufriedener Mann blieb zurück, sah ihnen nach und kaute Tabak.
Der Bauer versteht nicht, warum Benedikt so handelt. Und er ist mit sich und der Welt unzufrieden. Umgekehrt versteht auch Benedikt den Bauern nicht:
Vermutlich begriff Benedikt den vorsichtigen Bauern ebenso wenig.
Aber Benedikt scheint nicht unzufrieden zu sein. Zwei Sichtweisen werden hier angesprochen, diametral entgegengesetzt stehen sie hier einander gegenüber. Sie werden nicht aufgelöst. Diese Ambivalenz gibt es immer wieder in der Geschichte, vielleicht ist sie einer ihrer roten Fäden: das aushalten, was unvereinbar ist. Wir erfahren, dass Benedikt ein Knecht war, ein Dienstknecht. Das Wort macht stutzig. Was soll ein Knecht anderes tun als dienen? Ich gäbe etwas darum, wenn ich Dänisch könnte und das Original vor mir hätte. Ein Knecht dient, das ist nun einmal seine Aufgabe. Was soll mir diese Hyperbel sagen? Vielleicht ein Hinweis darauf, dass Benedikt gerade, weil er so unfrei ist, sich (s)eine Freiheit verschafft und damit beweist, das autonomes Denken auch in einer Knechtschaft möglich ist.
Den Sommer über arbeitete er gegen Lohn auf dem Hof, wo er das ganze Jahr wohnte. Im Winter besorgte er dort die Schafe gegen Kost und etwas Kleidung. Nur kurze Zeit im Frühjahr und Herbst und dann während seiner Bergwanderung vor Weihnachten war er sein eigener Herr.
Sein eigener Herr sein. Hier ist er es, der bestimmt, hier erledigt er nicht Aufträge, sondern gibt sich selbst welche. Eine Woche im Jahr ist ihm Quelle fürs ganze Jahr, und das schon lange. Wir erfahren sein Alter:
Nun, jedenfalls war er jetzt schon ein älterer Mann, vierundfünfzig, da gab es für ihn nicht mehr viele oder lange Irrwege, auf denen er sich verlaufen konnte.
Sind Vierundfünfzigjährige ältere Menschen? Ich spüre inneren Protest in mir. Damals, in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, in denen die Geschichte spielt, vielleicht schon, aber heute wirklich nicht mehr. Benedikt hat in all den Jahren Erfahrung angesammelt, ist sicher weiser geworden. Aber ist er deshalb gefeit vor Irrtümern? Beileibe nicht. Das ist wohl der isländische Humor, der hier zuschlägt. Mit siebenundzwanzig geht Benedikt das erste Mal am ersten Advent ins Hochgebirge. Da ist er jung und kräftig, vielleicht noch wirklich Idealist und Abenteurer in einem. Er erinnert sich:
Siebenundzwanzig Jahre – so tief lagen seine Träume verschüttet. Jene Träume, die nur Gott und er selbst kannte. Und die Berge, in die er sie hinausgeschrien hatte in seiner Qual.
Der Satz lässt viel Spielraum, genau das, daran ist erkennbar, was gute Literatur ist. Träume – Gott – Berge – Qual. Vier Worte, die ein Leben umreißen. Ein Kampf, der nicht nach außen dringt, den nur er und Gott und die Berge kennen. Schon damals war er offensichtlich ein Mensch mit Tiefgang. Jedes Mal, wenn er die letzten bewohnten Häuser hinter sich lässt auf seiner Wanderung, nimmt er bewusst Abschied:
… der Abschied von der Zivilisation mahnt ihn immer daran, dass es einmal für immer sein könnte.
Damit ist alles gesagt. Aber Gunnarsson ist das noch nicht genug. Er webt in die Gedankenwelt Benedikts seine eigenen, weit philosophischeren Reflektionen ein und weitet dadurch die Thematik um ein Vielfaches.
Der Mensch hängt an den Seinen, an sich selbst und den Seinen bis über den Tod hinaus und bangt davor, das Leben aus den Händen zu verlieren – dies Wirklichste von allem Wirklichen, dies Erbärmlichste von allem Erbärmlichen, dies Unendlichste von allem Unendlichen; bangt vor der Einsamkeit, auf der sein Selbst beruht, die sein Selbst ist, bangt davor, ohne Mitmenschen ringsum zu sein – und vielleicht von Gott vergessen.
Hier wird es klar gesagt: Die Angst vor der Einsamkeit, die kennt jeder. Auch Benedikt. Aber die Flucht vor ihr bringt keine Lösung. Benedikt stellt sich ihr freiwillig, selbstbestimmt. Im Haus von Sigrid und Pjetur kehrt Benedikt wie jedes Jahr ein, um noch ein letztes Mal Kraft zu schöpfen vor der ungewissen Zeit, die ihm bevorsteht. Es ist ein kleines Fest, das in aller Bescheidenheit gefeiert wird. Ein Wiedersehen. In diesem Jahr gibt es eine unvorhergesehene Störung: Grimsdal und seine Männer klopfen an. Auch sie wollen in die Berge, ihre Schafe einholen. Das bewirtende Ehepaar, insbesondere die Frau, durchblickt die durchaus zweideutige Absicht dieses Besuchs. Die Männer wissen, dass Benedikt in die Berge geht, und nehmen ungefragt an, dass er ihnen helfen können wird, die Tiere zu finden. Selbst haben sie nicht rechtzeitig dafür gesorgt, dass ihre Schafe ins Trockene kommen. Benedikt ist die Absicht klar, aber er geht nicht so streng mit ihnen ins Gericht, wie das Sigrid tut. Er freut sich nicht über die neue, unvorhergesehene Mühe, wie er es nennt, aber er hadert auch nicht damit.
„Ihr hättet sie schon vor mindestens einer Woche einbringen sollen“, sagte Benedikt ruhig, aber keineswegs vorwurfsvoll; er stellte es nur fest.
Und dann beginnt der Sturm draußen zu wüten, ein Sturm, der das ganze Unternehmen verzögern wird, da alle die nächsten Tage in dem Schutz der Hütte bleiben müssen. Wenn einem der Wind um die Ohren fegt, heißt es warten, bis sich alles klärt. Keine ganz leichte Botschaft für unsere aus den Fugen geratene Welt. Der Bedeutung des Wartenkönnens wird hier besondere Aufmerksamkeit gezollt.
Wir verlassen nun Sturm und spielende Grimsdals, duftendes Dörrfleisch von Sigrid und wohliges Ausruhen von Knorz im Stall und warten, bis der Sturm seinen Zenit überschritten hat.
Für mich eine christlich geprägte Erzählung.
Text- im Laufe der Jahre war Advent zum Inhalt fast seines ganzen Lebens geworden.Was war sein Leben was war das Leben der Menschen überhaupt anderes , als ein unvollkommenes Dienen, das doch von Erwartung und Vorbereitung aufrechterhalten wurde ((erfülltes Leben.)
Benedikt hat sich eine Aufgabe gestellt und weiß um seine Verantwortung