Du sihst/ wohin du sihst nur Eitelkeit auff Erden.
Was dieser heute baut/ reist jener morgen ein:
Wo itzund Städte stehn/ wird eine Wiesen seyn/
Auff der ein Schäfers-Kind wird spielen mit den Herden.
Was itzund prächtig blüht/ sol bald zutretten werden.
Was itzt so pocht vnd trotzt ist morgen Asch vnd Bein/
Nichts ist/ das ewig sey/ kein Ertz/ kein Marmorstein.
Itzt lacht das Glück vns an/ bald donnern die Beschwerden.
Der hohen Thaten Ruhm muß wie ein Traum vergehn.
Soll denn das Spiel der Zeit/ der leichte Mensch bestehn?
Ach! was ist alles diß/ was wir vor köstlich achten/
Als schlechte Nichtigkeit/ als Schatten/ Staub vnd Wind;
Als eine Wiesen-Blum/ die man nicht wider find’t.
Noch wil was ewig ist/ kein einig Mensch betrachten!
„J‘en ai marre!“ Mit dem Gedanken bin ich heute in den Tag gestartet. „Ich habe die Nase voll!“ Französisch klingt, wie so oft, schöner. Die Pandemie zieht sich zäh durch die Tage, im Gegensatz zum ersten Lockdown ist das Wetter hauptsächlich schlecht, wann wieder einmal ein gemeinsames Treffen mit fetzigen literarischen Diskussionen vor Ort stattfinden kann, steht in den Sternen, etc. „J‘en ai marre!“
Mein zweiter Gedanke war dann aber wieder besser. „Alles fließt!“, die große Erkenntnis Heraklits, die ihn zwar fast zum Wahnsinn gebracht hätte, weil ihm klar wurde, dass er nichts festhalten kann, ist eine segensreiche Botschaft in solch zäher Zeit wie der jetzigen. Nichts bleibt, alles verändert sich. Das hier ist kein Dauerzustand. Wie oft war in den Jahresrückblicken für 2020 zu hören: Ein verlorenes Jahr. Ein Jahr zum Ausradieren, noch dazu ein Schaltjahr, das einen Tag länger gedauert hat. Woher kommt so eine Einschätzung? Ich finde sie absurd.
In der Geschichte gibt es viele leidgeprüfte Epochen. Ich nehme heute ein Gedicht von Andreas Gryphius aus dem dreißigjährigen Krieg, in dem sich die Haltung gegenüber seiner erbarmungslosen Zeit spiegelt. Die Datierung variiert je nach Quelle, sicher ist, dass es irgendwann zwischen 1637 und 1643 entstand. Der dreißigjährige Krieg tobt, seine Brutalität und die lange Dauer hat die Menschen verändert, Hoffnung auf schnelle Besserung gibt es nicht. Noch dazu ist die Gesellschaft gespalten. Während absolutistische Könige ihre Macht entfalten und ein höfisches Leben im Überfluss führen, lebt der größte Teil der Menschheit in Fron und Leibeigenschaft und führt ein Alltagsleben geprägt von Angst vor Tod und Krankheit. Diese Gegensätze bilden sich in der gesamten Literatur des Barock ab: Dem „carpe diem“ und dem „memento mori“ steht die „vanitas“ gegenüber. Zum einen will man leben, will fühlen, will genießen, man will den Tag pflücken und im Angesicht dessen, dass der Tod kommt, richtig leben. Zum anderen ist da das Wissen um die Nichtigkeit hiesigen Daseins, die sich im Vanitasgedanken bündelt. Die Menschen leben in Angst vor dem Moment, in dem sie vor Gottes Angesicht zu treten haben und dort dann Rechenschaft ablegen müssen über das gelebte Leben. Die Spielregeln sind klar: Der einfache Mensch ist ohnmächtig, für ihn muss das „carpe diem“ geradezu einen zynischen Klang haben. Hingegen ist der Fürst oder Herrscher mächtig mit entsprechend anderen Möglichkeiten, das Leben zu leben. Alle, unabhängig vom Rang, haben aber den Tod vor Augen und mit ihm das dann folgende göttliche Gericht. Auch hier setzen sich die Gegensätze fort: Auf der ohnmächtigen Seite steht der Mensch, auf der mächtigen, der ewigen Seite, steht Gott.
Wir sind weit weg vom Barock. Die damals gültigen Gegensätze gelten schon lang nicht mehr. Können wir diese Epoche wirklich verstehen? Vielleicht hilft uns Gryphius in seinem Gedicht. Ihm geht es darin vorwiegend um die Eitelkeit, die „vanitas“. Zu seiner Zeit war Eitelkeit nicht gleichbedeutend mit Arroganz und Hochnäsigkeit sondern meinte vor allem Nichtigkeit, Wertlosigkeit. Dieses Motiv findet sich in vielen Gedichten der Zeit und zielt auf alles, was vergänglich ist, was keinen Bestand hat, was mit hehren Zielen erbaut, sich dann als Blase erweist. Gryphius beschreibt die Veränderung in der ersten Strophe: Was einer baut, reißt der andere wieder ein, Städte werden wieder zu Wiesen. Man könnte stutzen, eigentlich lief die Entwicklung ja anders, aber derzeit sieht es eher danach aus, dass Innenstädte veröden und wer weiß, vielleicht werden wirklich einmal wieder Wiesen aus ihnen, weil es die Menschen aus der Stadt aufs Land getrieben hat und die Menschen im homeoffice lieber ins Grüne blicken als auf Betonbauten. Wir wissen, dass sich die Natur zurückholt, was der Mensch verlassen hat. Alles ist vergänglich. Die doppelte Leseranrede gleich zu Beginn fällt auf: Du sihst wohin Du sihst. Zweimal „Du“, zweimal „siehst“, eine klare Aufforderung zum aufmerksamen Wahrnehmen.
Die zweite Strophe erweitert die Bilder: Was heute blüht, wird morgen zertreten, die Mühe von heute, Was itzt so pocht und trotzt, ist morgen Asch vnd Bein. Wo heute Glück sind morgen Beschwerden. Gegenwart und Zukunft werden gegenübergestellt und dadurch bewertet. Im letzten Vers der zweiten Strophe werden Glück und Beschwerden personifiziert, es geht ums lachende Glück und die donnernden Beschwerden, das eine kommt, das andere geht. Gryphius nutzt hier Oxymora, also Komposita, die Gegensätze vereinen, sie dadurch grotesk verzerren und ihre Wirkung verstärken. Man spürt geradezu das bedrohliche Grollen des Donners, der das Leben schwer macht. Da braut sich etwas zusammen zu einem Unwetter. Wesentlich ist, dass nichts bleibt, dass sich alles verändert, dass nichts für die Ewigkeit gemacht ist. Die hier genutzten Bilder können durch Bilder ersetzt werden, die für uns heute gültig sind. Stimmt, kann ich sagen, ich habe einmal Kurzschrift gelernt, das kommt mir heute vor wie ein Relikt aus einer vorvergangenen Zeit. Wer braucht so ein Wissen heute noch? Aber so lang ist das nicht her. Ich habe gelernt, wie ein Auto zu fahren ist. Meine Enkel werden vielleicht nur noch lernen, wie man selbständig fahrende Autos startet und ihnen ein Ziel eingibt. Nichts ist für die Ewigkeit gemacht.
Die dritte und vierte Strophe sind durch ein Enjambement verbunden, das heißt, sie sind nur formal getrennt, bilden aber eine inhaltliche Einheit. Sie können als Kommentar der beiden ersten Strophen gelesen werden und beginnen mit einem Vergleich. Der hohen Thaten Ruhm muss wie ein Traum vergehn. Das heißt nichts anderes als Ruhm ist Schall und Rauch, schnell ist er vorbei im Spiel der Zeit. Was ist das Spiel der Zeit?In der Metapher steckt die Vorstellung, dass die Zeit mit mir spielt, dass ich nicht Herrin über sie bin, dass ich ihr gegenüber eher ohnmächtig bin. Die Zeit wird immer gewinnen, sie ist im Gegensatz zum Menschen unendlich. Die rhetorische Frage in der dritten Strophe: Soll denn das Spiel der Zeit der leichte Mensch bestehn? wird durch das Ach! was ist alles diß noch verstärkt. Ach, ein Seufzer, der die Verzweiflung spiegelt. Gryphius fragt hier nach dem Sinn, den der Mensch, leichtfüßig wie er ist, wohl kaum wirklich begreifen kann.
In der letzten Strophe steht eine Akkumulation von Begriffen zur Vergänglichkeit: Schatten, Staub, Wind. Vergänglichkeit hatte im Barock viele Namen und wurde mittels vieler Bilder ausgedrückt. In der Kunst tauchen z.B. immer wieder Sand- und auch Sonnenuhren auf. Auch die Blumenwiese vergeht und ist nicht wieder zu finden. Alles, was dem Menschen kostbar war, ist vergänglich und damit nichtig: Was ist alles diß… als schlechte Nichtigkeit. Meine Nackenhaare sträuben sich, aber ich weiß ja, wir sind im Barock. Welche Botschaft hat ein solches Gedicht für die leidgeprüften Menschen dieser Zeit? Was kann der Mensch machen, um dieser Nichtigkeit zu entfliehen, die ihm seine Ohnmacht immer wieder vor Augen führt? Er möchte bitte das betrachten, so meint Gryphius, was ewig ist. Für den barocken gottesfürchtigen Mensch war klar, was mit diesen Zeilen gemeint war: Der Mensch soll sich um das kümmern, was ihn rettet, er soll sich nicht an dem orientieren, was vergänglich ist. Hier ist sie, die von heute aus gesehen klare Keule, die Leben in gelungen und vergeudet scheidet. Nur der Gottesfürchtige, der dementsprechend lebt, der kümmert sich um das „Ewige“. Bedeutend ist hier das kleine Wort noch. Dieses zeigt an, dass Gryphius die Hoffnung nicht aufgegeben hat, dass sich der Mensch ändern kann. Gryphius sieht den Menschen machtlos der Zeit gegenüber. Er wähnt sich klug, ist es aber nicht. Er versucht, die Natur zu beherrschen, aber die Natur wehrt sich. Noch will der Mensch nicht das Ewige betrachten, noch ist er in der Verblendung, aber es ist nicht ausgeschlossen, dass er einen Ausweg findet. Ein gelebtes Jahr, auch eines, das sich zäh dahinschleicht und Pläne permanent durchkreuzt, ist trotzdem ein wichtiges Jahr aus barocker Sicht. Die Bedrohlichkeit von Vergänglichkeit hat heute abgenommen. Es gibt viele Mittel gegen sie anzugehen, nicht zuletzt all die Anti-Aging-Programme. Die Menschen dieser Epoche kannten nicht nur Krieg, sie kannten auch Seuchen. Diese dauerten Jahre und wüteten grausam. Mir kommt jetzt mein „j‘en ai marre“ nach wenigen Monaten Pandemie in den Sinn. Ich glaube nicht, dass ich gut gerüstet gewesen wäre für ein Leben zu dieser Zeit.
Formal haben wir es bei dem Gedicht mit der Königsform des Barock zu tun: dem Sonett. Hier ist es sogar auf einen Klimax ausgerichtet, also auf einen Höhepunkt. Kein Dichter von Rang und Namen kam um diese Form herum. Sie verlangt akribische Arbeit, da die Struktur klar festgelegt ist. Ein Sonett besteht immer aus 14 Zeilen, beginnend mit zwei Quartetten, denen zwei Terzette folgen. Die Versform ist der Alexandriner, der aus sechs Jamben mit Zäsur nach dem dritten Versfuß besteht. Meist, so auch hier, wird zunächst der umschließende Reim (abba) verwendet, d.h., die erste Zeile reimt mit der vierten und die zweite Zeile mit der dritten. In den Terzetten herrscht, so auch hier, der Schweifreim vor (ccd eed) d.h. die ersten beiden Zeilen der Terzette reimen und die dritte Zeile des ersten Terzetts reimt mit der dritten Zeile des zweiten Terzetts. Männliche und weibliche Kadenzen wechseln einander ab, männliche sind einsilbig, weibliche zwei- oder mehrsilbig, d.h. komplizierter. Wer auf eine solche Benennung kam, weiß ich nicht.
Andreas Gryphius wird 1618 in Glogau (heute Glogow, Polen) geboren. Er ist Sohn eines lutherischen Diakons, der kurz nach seiner Geburt stirbt, und verliert im Alter von 9 Jahren auch seine Mutter. Gryphius erlebt als Kind die Zwangsrekatholisierung der Region mit allen brutalen Konsequenzen, studiert im weltoffenen Danzig, wird Hauslehrer beim Ritter von Schönborn nahe Freyberg und begleitet dessen Söhne zum Studium nach Leiden, eine der fortschrittlichsten Universitäten der Zeit. Dort hört er die Vorlesungen von Descartes, dem Schöpfer der modernen Philosophie mit seiner blasphemischen Forderung: „Ich denke, also bin ich.“ Gryphius bricht zu einer damals üblichen Kavalierstour durch Frankreich und Italien auf, um die Welt zu sehen und erlebt wahrscheinlich in Angers den Einzug der aus England geflogenen Königin Henrietta Maria. Er kehrt zurück nach Schlesien, gründet eine Familie, wird Syndikus der Landesstände, schreibt unermüdlich und mit Erfolg, wird Mitglied der „Fruchtbringenden Gesellschaft“, der ersten deutschen Sprachakademie und stirbt 1664 an einem Schlaganfall. Heute gilt er als einer der bedeutendsten Lyriker des Barock.
Der Text ist entnommen: Der Kanon. Die deutscher Literatur. Gedichte, Bd 1, hg. v. Marcel Reich-Ranicki, Frankfurt (Insel Verlag) 2005
Vielen Dank für die super relevante Textauswahl! Wiederum eine wunderbare Anregung, die menschliche Situation vor dem Hintergrund der Geschichte verschiedener Epochen zu sehen. Es ist für mich in dieser Zeit der Pandemie wichtig, mir bewusst zu werden, wie es vor geschichtlich gar nicht allzu langer Zeit aussah, als der Dreißigjährige Krieg tatsächlich ganze Landstriche entvölkerte und Seuchen und Krankheiten dazu führten, dass man innerhalb eines (durchschnittlich viel kürzeren Menschenlebens) tatsächlich sehr viele, drastische Veränderungen erlebte. Das Vanitasmotiv, das die Vergänglichkeit beschreibt. Gryphius, als Vertreter seiner Zeit, war von Anfang an mit dem Verlust seiner Eltern, Geschwister und anderer, ihm nahe stehenden Menschen, konfrontiert. Tod war ein ständiger Begleiter, wie man ja so schön symbolisiert auf den barocken Stillleben sehen kann.
Im heutigen Zeitalter herrschte, zumindest bei mir, lange Zeit eher der Gedanke der Permanenz oder linearen Entwicklung (zum Besseren hin) vor. Durch Bildung, gescheite Lebensentscheidungen und harte Arbeit kann ich eine Art permanenten, guten Lebenszustand hier auf Erden erreichen, so dachte ich. In unserer Gesellschaft wird der Gedanke an die Vergänglichkeit eher in den Tabubereich des Themas “Tod” verdrängt.
Und nun kommt die Pandemie und es wird langsam klar, dass es wahrscheinlich nie wieder so wird, wie es einst war. Pläne werden immer wieder durchkreuzt, alles fühlt sich an, als sei es auf Treibsand gebaut, nichts ist mehr richtig planbar und vorhersehbar. Ich wohne in Englands Süd-Osten, wo es gerade besonders schlimm ist. Uns wurde gesagt, die strikten Regelungen und Reisebeschränkungen würden noch mindestens bis in den Sommer andauern.
Bei der Lektüre von Gryphius Gedicht packte mich als erstes die Bedeutungstiefe, die im Wort “eitel” mitschwingt. Ich googelte etwas und anscheinend hatte das Wort im Mittelhochdeutschen auch die Bedeutung “leer, wertlos.” Das passt eigentlich ganz gut zum Bedeutungsfeld um den Begriff der “Eitelkeit.” Jemand, der nach “falschen,” vergänglichen Werten wie Reichtum und Prahlerei strebt, ist im Bezug auf die eigene Sinnfindung “leer.”
Also, für mich wirft das Gedicht die Frage nach der Sinnfindung im eigenen Leben auf, im Zusammenhang mit Permanenz und Vergänglichkeit. Viele Leute berichten, dass sie sich aufgrund der Pandemie dazu angehalten sehen, sich darüber Gedanken zu machen, was wirklich wichtig ist – also abgesehen davon, alle drei Wochen den modischen Haarschnitt aufzufrischen. Meistens sind das die geliebten Menschen im Leben, und das hat sich seit Gryphius Zeiten wahrscheinlich gar nicht so viel verändert.
In Zeiten der Pandemie finde ich ein Gedicht von Andreas Gryphius auszuwählen besonders treffend. Gerade uns moderne Menschen hat das Virus kalt erwischt. Wir glaubten das alles machbar ist und wir uns für alles versichern können. Es stimmt das „alles fließt“ und sich ständig verändert. Die Pandemie hat uns aber auch gelehrt Innezuhalten. Da gibt es ein anderes Gedicht ebenfalls von A. Gryphius, das er im Jahr 1663 also ein Jahr vor seinem Tod unter dem Titel „Betrachtung der Zeit“ geschrieben hat.
Mein sind die Jahre nicht , die mir die Zeit genommen;
Mein sind die Jahre nicht, die etwa möchten kommen;
Der Augenblick ist mein, und nehm ich den in acht,
So ist der mein, der Jahr und Ewigkeit gemacht.
Das Innehalten war für mich die schönste Erfahrung in dieser Pandemie, die leider immer neue Formen annimmt.
So An diesem hoffnungsvollen Schluss des Gedichts