Schnee und Sturm und Felsgestein
Stählt den Fuß und übt das Bein.
Immer hinterm Ofen sein,
Macht das Leben arm und klein.
Benedikt findet seinen Rhythmus in dieser Strophe, mit der er geradezu einen intimen Dialog führt: Lass sie unter uns beiden bleiben. Sie gehört ihm, er will sie nicht mit den Männern teilen, aber das kann allein schon wegen des heftigen Windes nicht geschehen, der einander zugeworfene Worte in Fetzen reißt. Gunnarsson beschreibt die Wanderung der Gruppe wie einen Zug durchs Schlachtfeld, von den scharfen Geschossen des Treibschnees durchlöchert. Harkon Grimsdal bietet Schnaps an, beschwört mit einer dunklen Liedstrophe auch die Geister. Der kurze Tag ist bereits wieder vorüber, wieder ist es Nacht und ein Mond zeigt sich hinter zerrissenen Wolken.
Die Leser werden in diese Eiseskälte hineingezogen, in der jeder für sich gegen die Naturgewalten kämpft. Jeder auf seine Weise. Gunnarssons Schilderung ist naturalistisch, die Bilder sprechen für sich, ein Kommentar ist nicht nötig. Seine Wanderer sind Schatten in der Nacht und in der Schneewüste. Maler der Romantik könnten in solch einer Beschreibung eine gute Vorlage für ihre Bilder finden. Auch ich kenne diese Stimmung. Wenn alles zu viel wird, wenn es einfach nicht Tag werden will, wenn mich die Lust und die Energie verlassen, dann ist diese Beschreibung passend. Dazu brauche ich wahrlich nicht die Bergwelt Islands. Alles im Text ist plastisch, so präsent, dass mir unwillkürlich kalt wird und ich die Heizung an meinem Schreibtisch höher drehe. Auch wenn ich hier im Warmen sitze, bin ich doch mitten drin in dieser Nacht, suche Orientierung, überlege mir, ob Benedikt die noch hat. Hier kommt die Frage auf, was trägt, wenn nichts mehr trägt. Eine Frage, die uns im Text noch einige Male begegnet. Was macht ein Mensch, der den Weg nicht mehr sieht, dessen Kräfte zu Ende gehen, der noch nicht einmal weiß, ob die ganze Anstrengung lohnt? Die Männer Harkoms, eigentlich arme Gestalten, schlagen alle Fragen in den Wind. Ihre Devise: Nur gehen. Und dann – ja, ich empfinde es fast als Hohn – kommt der Verweis auf die Vertrauenswürdigkeit von Benedikt, Knorz und Leo, dem Trio, das sie Dreieinigkeit nennen.
Dreieinigkeit hat eine klar umrissene Bedeutung. Gott Vater, Gott Sohn, Gott Heiliger Geist: die Trinität. Aus Sicht der Männer Grimsdals wirken die drei Weggefährten wie die Dreieinigkeit. Das Wort steht für Göttliches, Erhabenheit, Sicherheit, Verlässlichkeit, Achtung, ja auch Unerreichbarkeit. Es bringt zum Ausdruck, dass da eine große Distanz zu allem da ist, was schwach und vergänglich ist. Problematisch ist der metonymische Gebrauch aus dem Munde der Männer Grimsdals. Sie haben mit der eigentlichen Dreieinigkeit nichts am Hut, nutzen aber den Begriff, um ihn auf Benedikt, Leo und Knorz zu übertragen. Die Verhöhnung liegt genau in dieser Übertragung.
Die Männer verlassen das Schlachtfeld der Schneewüste nach achtzehn Stunden Wanderung. Die Kriegsmetaphorik wird beibehalten: Pulver, Blitz, Krach, Kanone, schießen. Das Gefecht ist noch nicht zu Ende, es pausiert nur. Benedikt findet die Hütte, kaum erkennbar unter dem Schnee und zwar haargenau. Er wird aus Sicht der Männer jetzt zum Zauberer und Meister:
Dieser Benedikt war doch ein Zauberer und Meister von Kopf bis Fuß. Sehr viele menschliche Fehler waren jedenfalls an ihm nicht zu entdecken, aber als Ersatz dafür allerdings zwei ganz unmenschliche: er spielte nicht und trank keinen Schnaps.
Zum einen Bewunderung zum anderen Verachtung. Nicht zu spielen und keinen Schnaps zu trinken, das ist geradezu unmenschlich, suspekt und schmälert dadurch aus Sicht der Grimsdals das Ansehen Benedikts. Solange er diese Fehler nicht behebt, wird er nie einer von ihnen werden können.
Das Feuer in der Hütte ist schnell entzündet, Benedikt versorgt erst seine Tiere. Die Hütte, bestehend aus zwei Räumen, von denen einer ein Stall ist, erscheint wie ein Schlösschen. Das einfachste Quartier kann die gleiche Funktion erfüllen wie das prächtigste, welch schöne Aussage. Es ist wahrlich nicht nur in einem Viersterne-Hotel Erholung möglich. Was brauche ich wirklich? steht da als Frage unbewusst im Raum. Die Hütte bietet dem Menschen, was er jetzt braucht. Die Einsamkeit bleibt draußen vor der Tür. Sie ist kein Abstraktum, nein, sie ist Person, Mitspielerin im Geschehen. Die Personifikation, die Gunnarsson hier verwendet, ist bewusst gesetzt. Die Einsamkeit steht vor der Tür, drinnen herrscht Gemeinschaft, aber das Wissen, dass sie dort draußen lauert, das ist da. Ja, drinnen herrscht eine Zweckgemeinschaft, aber immerhin eine Gemeinschaft. Benedikt genießt es, mit Menschen zusammen zu sein, selbst wenn sie manchmal etwas geschwätzig sind.
Aus dem Zauberer und Meister Benedikt, aus der Dreieinigkeit wird nun ein Kleinod.
„Ja, du bist ein Kleinod, Bense“, sagte Harkon.
Auch hier fällt die Geschmacklosigkeit in seinen Worten ins Auge. Bense, so wurde Benedikt bislang nie genannt, das klingt nach Kumpel. Und ein Kumpel ist Benedikt wahrlich nicht. Er sieht sich auch nicht als Lebensretter, dem eine Medaille gebühre. Benedikt wird sich fragen, warum er ausgerechnet mit der Medaille in die Kirche gehen soll, wie Harkon Grimsdal ausführt. Und warum sollte ihm eine Summe Geld aus dem Ausland zustehen? Weder Bense noch Medaille noch Geld sind Begriffe, die für Benedikt passend sind. Hier klafft eine große Lücke zwischen dem, was er ist und dem, was von außen in ihm gesehen wird. Benedikt lässt auch dieses Mal Harkon reden. Seine lange Ansprache bleibt unkommentiert. Prallt sei von Benedikt ab? Hört er sie einfach nicht? Oder ist sie ihm zu unwichtig, um darauf einzugehen? Zwei unvereinbare Welten treffen aufeinander, in denen die Männer unterwegs sind. Auch hier eine unauflösbare Ambivalenz, wie so oft im Text. Harkon Grimsdal weist Benedikt unmissverständlich darauf hin, dass er, ein Mann ohne Schafe, weder Medaille noch Geld herzaubern könne, sprich, ihm nichts geben könne außer der Zusage, er habe beides verdient. Leere Worte, auf die Benedikt wirklich hätte verzichten können. Ja, hol’s der Teufel, für Harkon Grimsdal ist jetzt der Kaffee das Nächstliegende und was die Schafe da draußen machen, das steht in den Sternen. Die Welt des Verantwortungsbewusstseins, die für Benedikt Maß seines Handelns ist, prallt auf die Welt des Fatalismus, für die Grimsdal steht. Willensfreiheit und Vorherbestimmung stehen einander gegenüber. Wie frei ist der Mensch, eine der zentralen Fragen der Philosophie wird hier angedeutet, bleibt aber undiskutiert im Raum stehen. Harkon Grimsdal beendet seine Ansprache mit dem fatalistischen Satz:
„Man weiß nie, wie der nächste Tag aussieht. Und andererseits passiert selten etwas so Schlimmes, dass man sich nicht noch Schlimmeres denken könnte.“
Bla, bla … Geschwätz eben, aus Sicht von Benedikt.
Dieser Satz könnte auch in Denis Diderots Jacques, der Fatalist und sein Herr stehen. Der Roman, 1792 erstmals veröffentlicht, passt weitaus besser in unsere Welt als in die Zeit vor zweihundert Jahren. Ist alles vorherbestimmt, ist also mein Tun nicht der Rede wert oder kann ich Einfluss nehmen auf den Lauf der Dinge? Wir haben bei Gunnarsson zwei Figuren, die ganz anders als bei Diderot ein klares Ziel vor Augen haben – Tiere retten -, aber ihre Vorstellungen davon, wie dies zu geschehen hat, sind unvereinbar. Benedikts Welt ist die Welt der Sorge, des Überlegens und des bedächtigen Handelns, Grimsdals Welt ist die des Geschehenlassens. Gunnarsson bewertet nicht, aber er schreibt so, dass deutlich wird, welche der beiden Sichtweisen die seine ist.
Der heiße Kaffee und das Essen wirken. In der Hütte wird es warm, die Strapazen des Tages fallen ab. Die Stimmung ist gut, die Männer genießen die Erholung, kein Ton trübt die Aussicht auf die Wiederaufnehme des Kampfes, die der nächste Tag bringen wird. Sie sind im Hier und Jetzt, sie leben Gemeinschaft. Aber bald siegt die Müdigkeit und sie legen sich schlafen. Stille.