Brüder Grimm: Lebenszeit

Als Gott die Welt geschaffen hatte und allen Kreaturen ihre Lebenszeit bestimmen wollte, kam der Esel und fragte ‚Herr, wie lange soll ich leben?‘ ‚Dreißig Jahre,‘ antwortete Gott, ‚ist dir das recht?‘ ‚Ach Herr,‘ erwiderte der Esel, ‚das ist eine lange Zeit. Bedenke mein mühseliges Dasein: von Morgen bis in die Nacht schwere Lasten tragen, Kornsäcke in die Mühle schleppen, damit andere das Brot essen, mit nichts als mit Schlägen und Fußtritten ermuntert und aufgefrischt zu werden! Erlaß mir einen Teil der langen Zeit.‘ Da erbarmte sich Gott und schenkte ihm achtzehn Jahre. Der Esel ging getröstet weg, und der Hund erschien. ‚Wie lange willst du leben?‘ sprach Gott zu ihm, ‚dem Esel sind dreißig Jahre zu viel, du aber wirst damit zufrieden sein.‘ ‚Herr,‘ antwortete der Hund, ‚ist das dein Wille? bedenke, was ich laufen muss, das halten meine Füße so lange nicht aus; und habe ich erst die Stimme zum Bellen verloren und die Zähne zum Beißen, was bleibt mir übrig, als aus einer Ecke in die andere zu laufen und zu knurren?‘ Gott sah, dass er recht hatte, und erließ ihm zwölf Jahre. Darauf kam der Affe. ‚Du willst wohl gerne dreißig Jahre leben?‘ sprach der Herr zu ihm, ‚du brauchst nicht zu arbeiten wie der Esel und der Hund, und bist immer guter Dinge.‘ ‚Ach Herr,‘ antwortete er, ‚das sieht so aus, ist aber anders. Wenn‘s Hirsenbrei regnet, habe ich keinen Löffel. Ich soll immer lustige Streiche machen, Gesichter schneiden, damit die Leute lachen, und wenn sie mir einen Apfel reichen und ich beiße hinein, so ist er sauer. Wie oft steckt die Traurigkeit hinter dem Spaß! Dreißig Jahre halte ich das nicht aus.‘ Gott war gnädig und schenkte ihm zehn Jahre.

Endlich erschien der Mensch, war freudig, gesund und frisch und bat Gott, ihm seine Zeit zu bestimmen. ‚Dreißig Jahre sollst du leben,‘ sprach der Herr, ‚ist dir das genug?‘ ‚Welch eine kurze Zeit!‘ rief der Mensch, ‚wenn ich mein Haus gebaut habe, und das Feuer auf meinem eigenen Herde brennt: wenn ich Bäume gepflanzt habe, die blühen und Früchte tragen, und ich meines Lebens froh zu werden gedenke, so soll ich sterben! oO Herr, verlängere meine Zeit.‘ ‚Ich will dir die achtzehn Jahre des Esels zulegen,‘ sagte Gott. ‚Das ist nicht genug,‘ erwiderte der Mensch. ‚Du sollst auch die zwölf Jahre des Hundes haben.‘ ‚Immer noch zu wenig.‘ ‚Wohlan,‘ sagte Gott, ‚ich will dir noch die zehn Jahre des Affen geben, aber mehr erhältst du nicht.‘ Der Mensch ging fort, war aber nicht zufriedengestellt.
Also lebt der Mensch siebzig Jahr. Die ersten dreißig sind seine menschlichen Jahre, die gehen schnell dahin; da ist er gesund, heiter, arbeitet mit Lust und freut sich seines Daseins. Hierauf folgen die achtzehn Jahre des Esels, da wird ihm eine Last nach der andern aufgelegt: er muss das Korn tragen, das andere nährt, und Schläge und Tritte sind der Lohn seiner treuen Dienste. Dann kommen die zwölf Jahre des Hundes, da liegt er in den Ecken, knurrt und hat keine Zähne mehr zum Beißen. Und wenn diese Zeit vorüber ist, so machen die zehn Jahre des Affen den Beschluss. Da ist der Mensch schwachköpfig und närrisch, treibt alberne Dinge und wird ein Spott der Kinder.

Jetzt wird wohl jeder schmunzeln und mancher, der vielleicht nicht allzu viel vom achten Lebensjahrzehnt weg ist, wird denken: „Was soll das denn? Mit siebzig ist man doch kein alter „Affe“. Stimmt! Aber stimmt nicht für die Zeit der Brüder Grimm. Da waren siebzig Jahre ein hohes Alter. Die dem Menschen gegebene übliche Lebenszeit war deutlich kürzer. Die Brüder Grimm selbst sind Ausnahmen: Jacob Grimm stirbt im Alter von 78 Jahren, sein Bruder Wilhelm wird 75 Jahre. Sie galten damals wahrlich als Greise, was man heute über Siebzigjährige wirklich nicht mehr sagen kann.

Um 1800 betrug die statistische Lebenserwartung vierzig Jahre. Mit vierzig fangen heute viele erst mit der Kinderplanung an. Wie viele Väter gibt es, die jenseits der 80 sind! Ich will mich zwar nicht als Mutter eines pubertierenden Görs vorstellen, wenn ich 60+ bin, aber mit Hilfe medizinischer Tricksereien wäre das heute schon möglich. Damals hätte es nicht binnen weniger Monate Impfstoffe gegen eine Pandemie gegeben, die Dimension einer solchen Seuche wäre um ein Vielfaches größer gewesen. Oh, was bin ich froh, dass ich heute lebe!

Man kann nicht sagen, dass die Gebrüder Grimm besonders für ihren Humor bekannt sind. Aber in diesem Märchen spiegelt er sich. Die Menschen kommen nicht gut weg dabei. Gruselig die Vorstellung vom Menschen, der nicht genug kriegen kann an Jahren und letztlich als zahnloser Alter nur noch Grimassen zieht und sich zum Gespött macht.

Das Märchen beginnt mit der Schöpfungsgeschichte. Gott erschafft die Welt und teilt jeweils Lebenszeit zu. Er geht dabei nach dem Gleichheitsprinzip vor: Jeder soll die gleiche Anzahl von Jahren bekommen, egal ob Esel, Hund, Affe oder Mensch: Jedem gibt er dreißig Jahre. In allen Märchen wird gern mit Symbolen gearbeitet. Die Tiere sind Symbole, die mit ihren Eigenschaften den Menschen spiegeln und ihn in ein bestimmtes Licht rücken. Der Esel steht für die ganze Last der täglichen Arbeit. Er plagt sich ab, kriegt dafür kaum Anerkennung und will nicht noch länger von Morgen bis in die Nacht schwere Lasten tragen, Kornsäcke in die Mühle schleppen, damit andere das Brot essen mit nichts als mit Schlägen und Fußtritten ermuntert und aufgefrischt werden. Diese Plackerei ist wirklich nicht das, was sich der Esel vom Leben vorstellt, und daher bittet er Gott, ihm achtzehn Jahre zu erlassen. Der dumme Esel ist hier ein sehr kluger. Ich weiß nur nicht, warum die Gebrüder Grimm gerade einen Esel auftreten lassen. Ein solcher kann nun einmal weitaus älter als dreißig Jahre werden. Jedenfalls macht ihn die Aussicht zufrieden, dass er achtzehn Jahre weniger dieser Plackerei von Gott in Aussicht gestellt bekommt. Die Zeit des Esels steht für die Zeit des Arbeitslebens, in dem all das aufgebaut werden muss, was die eigene und die nächsten Generationen am Leben hält.

Als nächstes kommt der Hund an die Reihe, den Gott sogar fragt: Wie lange willst du leben? Und auch der Hund erweist sich als klug, verweist auf seine kurzen Beine und die große Anzahl an Schritten, die er in dreißig Jahren machen müsse, und bittet um Verkürzung, weil er sich nicht als lahmer knurrender Alter von einer zur anderen Ecke schleppen will. Auch hier ist Gott gnädig und erlässt ihm zwölf Jahre. Das ist wiederum realistisch, denn Hunde können gut achtzehn Jahre alt werden. Die Zeit des Hundes steht für das Leben, in dem körperliche Kräfte schwinden, keine Aufgaben und oft auch kein Sinn mehr da zu sein scheinen und die Kraft fürs Beißen und Bellen nicht mehr reicht. Die schöne Redewendung: „Auf den Hund gekommen“, besagt, in bedauernswerte Umstände gekommen zu sein.

Letztlich geht es um den Affen, den Clown unter den Tieren, dessen Rolle es gemeinhin ist, Späße zu machen. Aber der Affe will diese Rolle nicht spielen, ihm ist der Druck zu groß, immer anderen zu gefallen. Er bittet um zehn Jahre weniger, und auch hier ist Gott gnädig und gewährt ihm die Verkürzung. Der närrische Affe steht für die Zeit, in der auch die geistigen Kräfte nachlassen und es nur noch kindisch zugeht. Das Wort Alzheimer war den Brüdern Grimm noch kein Begriff.

Alle drei Tiere sind klug, kann man sagen lebensklug? Sie überschätzen sich nicht und kalkulieren mit Vernunft. Jetzt kommt die Krönung der Schöpfung dran, der Mensch. Er findet, er habe viel zu wenig Lebenszeit erhalten. Gott schenkt ihm die achtzehn Jahre, die er dem Esel, die zwölf Jahre, die er dem Hund, und die zehn Jahre, die er dem Affen erlassen hat. Zu den ursprünglich vorgeschlagenen dreißig Jahren erhält der Mensch nochmals vierzig Jahre dazu, aber auch mit diesem Angebot ist er nicht zufrieden. Gott gibt sie ihm trotzdem. Was ist das Ergebnis? Der Mensch schuftet bis zum Rentenalter, fällt dann ins Loch und wird letztlich närrisch. Keine schöne Aussichten!

Welches Angebot hätte diesen Menschen zufriedenstellen können? Würden die Gebrüder Grimm heute leben, hätten sie vielleicht das Märchen weiterschreiben können. Das neue Märchen zur Lebenszeit wird gerade im Silicon Valley geschrieben. Auf die Frage Gottes, wie lange der Mensch denn leben wolle, hätte der Mensch heute vielleicht geantwortet: „Ewig!“ Viel Geld fließt seit Jahren in Forschungen, die den Menschen unsterblich machen sollen. Larry Ellison, der Gründer von Oracle, einem der größten Anbieter auf dem IT-Markt, hat eine Stiftung ins Leben gerufen, die sich vorrangig mit der Frage beschäftigt, wie man die biologischen Prozesse des Älterwerdens aufhalten kann, und er hat in diese bislang weit über 430 Millionen Dollar investiert. Larry Page, Mitbegründer von Google, will das Altern heilen und unterstützt die Anti-Aging-Forschung mit einem doppelt so hohen Betrag. 2013 sorgte seine „Calico“ (California Life Company) für Schlagzeilen, als es ihr gelang, das Leben eines Regenwurms zu verlängern. Das klingt banal, aber wenn die Methode funktioniert, könnte der Mensch irgendwann 400 oder 500 Jahre alt werden. Ich verzichte auf weitere Beispiele der innovativen Erforschung des ewigen Jungbrunnens. Es gibt viele, die in die gleiche Richtung gehen.

Ist das Märchen also heute out? Müsste es neu geschrieben werden? Warum nicht? Welche Stellung hätte dann der Mensch? Die eines Demiurgen, der letztlich am Hebel sitzt und alles planen kann? Ich weiß gar nicht, ob ich ein solcher sein wollte. Ich denke, ich begnüge mich damit, Vorsorge zu treffen, dass ich nicht als dummer Esel ein Hundeleben führen muss, in dem ich dann auch noch zum Affen werde.

Die Brüder Grimm sind bekannt für ihre Hausmärchen, die sie aus dem Volksgut gesammelt haben. Sie haben aufgeschrieben, was über Generationen erzählt wurde. Zwischen 1812 und 1858 geben sie ihre umfangreiche Sammlung heraus und prägen den Stil des Märchens bis heute. Märchen waren ursprünglich für Erwachsene gedacht und die Lebenszeit ist auch wirklich kein Stoff für Kinder. Ich kann mir aber gut vorstellen, dass sie ab einem bestimmten Alter sehr wohl den Bezug herstellen können zu Mama und Papa, die viel zu viel arbeiten, abends oder am Wochenende in den Seilen hängen statt für lustige Spiele aufgelegt zu sein und ab und zu dann einfach die Sau rauslassen und sich so zum Affen machen.

Jakob Grimm, Wilhelm Grimm: Kinder- und Hausmärchen. Mit einem Anhang sämtlicher, nicht in allen Auflagen veröffentlichter Märchen und Herkunftsnachweisen. Hrsg.: Heinz Rölleke 1. Auflage. Originalanmerkungen, Herkunftsnachweise, Nachwort (Band 3). Reclam, Stuttgart 1980, S. 260

Andreas Gryphius: Es ist alles eitel

Du sihst/ wohin du sihst nur Eitelkeit auff Erden.
Was dieser heute baut/ reist jener morgen ein:
Wo itzund Städte stehn/ wird eine Wiesen seyn/
Auff der ein Schäfers-Kind wird spielen mit den Herden.

Was itzund prächtig blüht/ sol bald zutretten werden.
Was itzt so pocht vnd trotzt ist morgen Asch vnd Bein/
Nichts ist/ das ewig sey/ kein Ertz/ kein Marmorstein.
Itzt lacht das Glück vns an/ bald donnern die Beschwerden.

Der hohen Thaten Ruhm muß wie ein Traum vergehn.
Soll denn das Spiel der Zeit/ der leichte Mensch bestehn?
Ach! was ist alles diß/ was wir vor köstlich achten/

Als schlechte Nichtigkeit/ als Schatten/ Staub vnd Wind;
Als eine Wiesen-Blum/ die man nicht wider find’t.
Noch wil was ewig ist/ kein einig Mensch betrachten!

„J‘en ai marre!“ Mit dem Gedanken bin ich heute in den Tag gestartet. „Ich habe die Nase voll!“ Französisch klingt, wie so oft, schöner. Die Pandemie zieht sich zäh durch die Tage, im Gegensatz zum ersten Lockdown ist das Wetter hauptsächlich schlecht, wann wieder einmal ein gemeinsames Treffen mit fetzigen literarischen Diskussionen vor Ort stattfinden kann, steht in den Sternen, etc. „J‘en ai marre!“

Mein zweiter Gedanke war dann aber wieder besser. „Alles fließt!“, die große Erkenntnis Heraklits, die ihn zwar fast zum Wahnsinn gebracht hätte, weil ihm klar wurde, dass er nichts festhalten kann, ist eine segensreiche Botschaft in solch zäher Zeit wie der jetzigen. Nichts bleibt, alles verändert sich. Das hier ist kein Dauerzustand. Wie oft war in den Jahresrückblicken für 2020 zu hören: Ein verlorenes Jahr. Ein Jahr zum Ausradieren, noch dazu ein Schaltjahr, das einen Tag länger gedauert hat. Woher kommt so eine Einschätzung? Ich finde sie absurd.

In der Geschichte gibt es viele leidgeprüfte Epochen. Ich nehme heute ein Gedicht von Andreas Gryphius aus dem dreißigjährigen Krieg, in dem sich die Haltung gegenüber seiner erbarmungslosen Zeit spiegelt. Die Datierung variiert je nach Quelle, sicher ist, dass es irgendwann zwischen 1637 und 1643 entstand. Der dreißigjährige Krieg tobt, seine Brutalität und die lange Dauer hat die Menschen verändert, Hoffnung auf schnelle Besserung gibt es nicht. Noch dazu ist die Gesellschaft gespalten. Während absolutistische Könige ihre Macht entfalten und ein höfisches Leben im Überfluss führen, lebt der größte Teil der Menschheit in Fron und Leibeigenschaft und führt ein Alltagsleben geprägt von Angst vor Tod und Krankheit. Diese Gegensätze bilden sich in der gesamten Literatur des Barock ab: Dem „carpe diem“ und dem „memento mori“ steht die „vanitas“ gegenüber. Zum einen will man leben, will fühlen, will genießen, man will den Tag pflücken und im Angesicht dessen, dass der Tod kommt, richtig leben. Zum anderen ist da das Wissen um die Nichtigkeit hiesigen Daseins, die sich im Vanitasgedanken bündelt. Die Menschen leben in Angst vor dem Moment, in dem sie vor Gottes Angesicht zu treten haben und dort dann Rechenschaft ablegen müssen über das gelebte Leben. Die Spielregeln sind klar: Der einfache Mensch ist ohnmächtig, für ihn muss das „carpe diem“ geradezu einen zynischen Klang haben. Hingegen ist der Fürst oder Herrscher mächtig mit entsprechend anderen Möglichkeiten, das Leben zu leben. Alle, unabhängig vom Rang, haben aber den Tod vor Augen und mit ihm das dann folgende göttliche Gericht. Auch hier setzen sich die Gegensätze fort: Auf der ohnmächtigen Seite steht der Mensch, auf der mächtigen, der ewigen Seite, steht Gott.

Wir sind weit weg vom Barock. Die damals gültigen Gegensätze gelten schon lang nicht mehr. Können wir diese Epoche wirklich verstehen? Vielleicht hilft uns Gryphius in seinem Gedicht. Ihm geht es darin vorwiegend um die Eitelkeit, die „vanitas“. Zu seiner Zeit war Eitelkeit nicht gleichbedeutend mit Arroganz und Hochnäsigkeit sondern meinte vor allem Nichtigkeit, Wertlosigkeit. Dieses Motiv findet sich in vielen Gedichten der Zeit und zielt auf alles, was vergänglich ist, was keinen Bestand hat, was mit hehren Zielen erbaut, sich dann als Blase erweist. Gryphius beschreibt die Veränderung in der ersten Strophe: Was einer baut, reißt der andere wieder ein, Städte werden wieder zu Wiesen. Man könnte stutzen, eigentlich lief die Entwicklung ja anders, aber derzeit sieht es eher danach aus, dass Innenstädte veröden und wer weiß, vielleicht werden wirklich einmal wieder Wiesen aus ihnen, weil es die Menschen aus der Stadt aufs Land getrieben hat und die Menschen im homeoffice lieber ins Grüne blicken als auf Betonbauten. Wir wissen, dass sich die Natur zurückholt, was der Mensch verlassen hat. Alles ist vergänglich. Die doppelte Leseranrede gleich zu Beginn fällt auf: Du sihst wohin Du sihst. Zweimal „Du“, zweimal „siehst“, eine klare Aufforderung zum aufmerksamen Wahrnehmen.

Die zweite Strophe erweitert die Bilder: Was heute blüht, wird morgen zertreten, die Mühe von heute, Was itzt so pocht und trotzt, ist morgen Asch vnd Bein. Wo heute Glück sind morgen Beschwerden. Gegenwart und Zukunft werden gegenübergestellt und dadurch bewertet. Im letzten Vers der zweiten Strophe werden Glück und Beschwerden personifiziert, es geht ums lachende Glück und die donnernden Beschwerden, das eine kommt, das andere geht. Gryphius nutzt hier Oxymora, also Komposita, die Gegensätze vereinen, sie dadurch grotesk verzerren und ihre Wirkung verstärken. Man spürt geradezu das bedrohliche Grollen des Donners, der das Leben schwer macht. Da braut sich etwas zusammen zu einem Unwetter. Wesentlich ist, dass nichts bleibt, dass sich alles verändert, dass nichts für die Ewigkeit gemacht ist. Die hier genutzten Bilder können durch Bilder ersetzt werden, die für uns heute gültig sind. Stimmt, kann ich sagen, ich habe einmal Kurzschrift gelernt, das kommt mir heute vor wie ein Relikt aus einer vorvergangenen Zeit. Wer braucht so ein Wissen heute noch? Aber so lang ist das nicht her. Ich habe gelernt, wie ein Auto zu fahren ist. Meine Enkel werden vielleicht nur noch lernen, wie man selbständig fahrende Autos startet und ihnen ein Ziel eingibt. Nichts ist für die Ewigkeit gemacht.

Die dritte und vierte Strophe sind durch ein Enjambement verbunden, das heißt, sie sind nur formal getrennt, bilden aber eine inhaltliche Einheit. Sie können als Kommentar der beiden ersten Strophen gelesen werden und beginnen mit einem Vergleich. Der hohen Thaten Ruhm muss wie ein Traum vergehn. Das heißt nichts anderes als Ruhm ist Schall und Rauch, schnell ist er vorbei im Spiel der Zeit. Was ist das Spiel der Zeit?In der Metapher steckt die Vorstellung, dass die Zeit mit mir spielt, dass ich nicht Herrin über sie bin, dass ich ihr gegenüber eher ohnmächtig bin. Die Zeit wird immer gewinnen, sie ist im Gegensatz zum Menschen unendlich. Die rhetorische Frage in der dritten Strophe: Soll denn das Spiel der Zeit der leichte Mensch bestehn? wird durch das Ach! was ist alles diß noch verstärkt. Ach, ein Seufzer, der die Verzweiflung spiegelt. Gryphius fragt hier nach dem Sinn, den der Mensch, leichtfüßig wie er ist, wohl kaum wirklich begreifen kann.

In der letzten Strophe steht eine Akkumulation von Begriffen zur Vergänglichkeit: Schatten, Staub, Wind. Vergänglichkeit hatte im Barock viele Namen und wurde mittels vieler Bilder ausgedrückt. In der Kunst tauchen z.B. immer wieder Sand- und auch Sonnenuhren auf. Auch die Blumenwiese vergeht und ist nicht wieder zu finden. Alles, was dem Menschen kostbar war, ist vergänglich und damit nichtig: Was ist alles diß… als schlechte Nichtigkeit. Meine Nackenhaare sträuben sich, aber ich weiß ja, wir sind im Barock. Welche Botschaft hat ein solches Gedicht für die leidgeprüften Menschen dieser Zeit? Was kann der Mensch machen, um dieser Nichtigkeit zu entfliehen, die ihm seine Ohnmacht immer wieder vor Augen führt? Er möchte bitte das betrachten, so meint Gryphius, was ewig ist. Für den barocken gottesfürchtigen Mensch war klar, was mit diesen Zeilen gemeint war: Der Mensch soll sich um das kümmern, was ihn rettet, er soll sich nicht an dem orientieren, was vergänglich ist. Hier ist sie, die von heute aus gesehen klare Keule, die Leben in gelungen und vergeudet scheidet. Nur der Gottesfürchtige, der dementsprechend lebt, der kümmert sich um das „Ewige“. Bedeutend ist hier das kleine Wort noch. Dieses zeigt an, dass Gryphius die Hoffnung nicht aufgegeben hat, dass sich der Mensch ändern kann. Gryphius sieht den Menschen machtlos der Zeit gegenüber. Er wähnt sich klug, ist es aber nicht. Er versucht, die Natur zu beherrschen, aber die Natur wehrt sich. Noch will der Mensch nicht das Ewige betrachten, noch ist er in der Verblendung, aber es ist nicht ausgeschlossen, dass er einen Ausweg findet. Ein gelebtes Jahr, auch eines, das sich zäh dahinschleicht und Pläne permanent durchkreuzt, ist trotzdem ein wichtiges Jahr aus barocker Sicht. Die Bedrohlichkeit von Vergänglichkeit hat heute abgenommen. Es gibt viele Mittel gegen sie anzugehen, nicht zuletzt all die Anti-Aging-Programme. Die Menschen dieser Epoche kannten nicht nur Krieg, sie kannten auch Seuchen. Diese dauerten Jahre und wüteten grausam. Mir kommt jetzt mein „j‘en ai marre“ nach wenigen Monaten Pandemie in den Sinn. Ich glaube nicht, dass ich gut gerüstet gewesen wäre für ein Leben zu dieser Zeit.

Formal haben wir es bei dem Gedicht mit der Königsform des Barock zu tun: dem Sonett. Hier ist es sogar auf einen Klimax ausgerichtet, also auf einen Höhepunkt. Kein Dichter von Rang und Namen kam um diese Form herum. Sie verlangt akribische Arbeit, da die Struktur klar festgelegt ist. Ein Sonett besteht immer aus 14 Zeilen, beginnend mit zwei Quartetten, denen zwei Terzette folgen. Die Versform ist der Alexandriner, der aus sechs Jamben mit Zäsur nach dem dritten Versfuß besteht. Meist, so auch hier, wird zunächst der umschließende Reim (abba) verwendet, d.h., die erste Zeile reimt mit der vierten und die zweite Zeile mit der dritten. In den Terzetten herrscht, so auch hier, der Schweifreim vor (ccd eed) d.h. die ersten beiden Zeilen der Terzette reimen und die dritte Zeile des ersten Terzetts reimt mit der dritten Zeile des zweiten Terzetts. Männliche und weibliche Kadenzen wechseln einander ab, männliche sind einsilbig, weibliche zwei- oder mehrsilbig, d.h. komplizierter. Wer auf eine solche Benennung kam, weiß ich nicht.

Andreas Gryphius wird 1618 in Glogau (heute Glogow, Polen) geboren. Er ist Sohn eines lutherischen Diakons, der kurz nach seiner Geburt stirbt, und verliert im Alter von 9 Jahren auch seine Mutter. Gryphius erlebt als Kind die Zwangsrekatholisierung der Region mit allen brutalen Konsequenzen, studiert im weltoffenen Danzig, wird Hauslehrer beim Ritter von Schönborn nahe Freyberg und begleitet dessen Söhne zum Studium nach Leiden, eine der fortschrittlichsten Universitäten der Zeit. Dort hört er die Vorlesungen von Descartes, dem Schöpfer der modernen Philosophie mit seiner blasphemischen Forderung: „Ich denke, also bin ich.“ Gryphius bricht zu einer damals üblichen Kavalierstour durch Frankreich und Italien auf, um die Welt zu sehen und erlebt wahrscheinlich in Angers den Einzug der aus England geflogenen Königin Henrietta Maria. Er kehrt zurück nach Schlesien, gründet eine Familie, wird Syndikus der Landesstände, schreibt unermüdlich und mit Erfolg, wird Mitglied der „Fruchtbringenden Gesellschaft“, der ersten deutschen Sprachakademie und stirbt 1664 an einem Schlaganfall. Heute gilt er als einer der bedeutendsten Lyriker des Barock.

Der Text ist entnommen: Der Kanon. Die deutscher Literatur. Gedichte, Bd 1, hg. v. Marcel Reich-Ranicki, Frankfurt (Insel Verlag) 2005

Seneca: Von der Seelenruhe

Aber nimm an, du seiest in eine schwierige Lebenslage geraten und das Schicksal habe dir, sei es im häuslichen oder im öffentlichen Leben, wider alles Vermuten eine Schlinge umgeworfen, die du weder lösen noch zerreißen kannst, so denken die Gefesselten: Anfangs wird es ihnen schwer, sich mit ihrer Last und den hemmenden Fußketten zurecht zu finden; haben sie aber einmal den Vorsatz gefasst, statt darüber in Wut zu geraten, sich in ihr Schicksal zu fügen, so lehrt sie die Not, das Unvermeidliche tapfer, die Gewohnheit, es leichter zu tragen. In keiner Lebenslage wird es dir an Aufmunterungen, Erholungen und Aufheiterungen fehlen, wenn du es über dich gewinnst, das Schlimme lieber erträglich zu halten, als es dir verhasst zu machen. […]

Niemand würde es aushalten, wenn das Unglück bei weiterer Fortdauer immer dieselbe Kraft hätte wie beim ersten Schlag. Wir alle sind an das Schicksal gekettet, die einen mit goldener und gefügiger Kette, die anderen mit eng anschließender und rostiger; doch was kommt darauf an? Wir alle, ohne Unterschied, leben in einer Art Gefangenschaft, und angebunden sind auch die, die uns angebunden haben, […]. Den einen fesseln Ehrenstellen, den anderen Reichtum; einige leiden unter ihrer vornehmen Geburt, andere unter dem Gegenteil; manche müssen sich fremde Herrschsucht gefallen lassen, manche hinwiederum sind Opfer der eigenen.[…]

Darum gilt es, sich an seine Lage zu gewöhnen, so wenig als möglich zu klagen und keine Erleichterung, die es etwa bietet, unbenutzt zu lassen. […]

Hüten wir uns vor dem Neid gegen Höherstehende. […]

Wir dürfen nicht unnütze Ziele verfolgen und dürfen unsere Bemühungen nicht nutzlos verschwenden; das heißt, wir dürfen unsere Wünsche nicht auf Dinge richten, die für uns unerreichbar sind, und dürfen uns andererseits nicht in die Lage bringen, nach Durchsetzung unserer leidenschaftlichen Wünsche, die Nichtigkeit derselben zu spät unter tiefer Scham einzusehen. […] Aufhören muss man mit dem ewigen Hin- und Herrennen, das so viele Menschen in Atem hält.

Denn wer sich auf Vielerlei einlässt, der gibt dem Schicksal häufig Macht über sich, dem gegenüber das sicherste ist, sich nur selten mit ihm auf Proben einzulassen, wenn man auch immer an es denken und sich nichts von seiner Zuverlässigkeit versprechen soll. (S. 35f.)

De trancillitate animi, dt. Über die Seelenruhe, ist ein Traktat des ca. sechzigjährigen Seneca, den er um das Jahr 60 n. Chr. schreibt. Er antwortet in ihm seinem Freund Serenus, der einige Jahre jünger als er selbst ist. Serenus fühlt sich zwischen den stoischen Vorschriften und den Reizen der Welt hin- und hergerissen. Er möchte endlich zufrieden durchs Leben gehen, erreicht aber trotz aller Mühe einfach nicht die Unerschütterlichkeit, die in der stoischen Philosophie angestrebt werden soll. Der Traktat beginnt mit einem Brief von Serenus an Seneca, in dem er klare Fragen stellt und in dem er seinen Seelenzustand folgendermaßen umreißt:

Weder unbedingt frei fühlte ich mich von den Fehlern, die ich fürchtete und hasste, noch auch andererseits völlig in ihrer Gewalt. Ich befinde mich also, wenn auch nicht gerade in der schlimmsten, so doch in einer höchst kläglichen und verdrießlichen Lage: ich bin weder krank noch gesund. (S. 7)

Serenus, das Land vor Augen (S. 13), leidet Not. Er ist unzufrieden und zweifelt daran, dass er die richtige Lebensweise gefunden hat, fühlt sich überfordert mit allem, was von ihm erwartet wird, es ist ihm alles zu viel, der Luxus der Gesellschaft, die Sucht nach Ehrenstellungen, die Verpflichtungen im gesellschaftlichen Leben. Serenus steht vor der roten Ampel und fühlt sich ohnmächtig, das eigene Leben gut zu regeln. Eine Klage auf hohem Niveau, könnte man sagen. Ja, durchaus, aber das würde Serenus nicht weiterhelfen. Er sucht keine Abwechslung, er sucht einen Ausweg. Heute würde er zum Psychologen gehen. In der Antike, insbesondere in der römischen, versuchte man, die stoischen Lehren zu verstehen und daraus einen Wegweiser für sich zu entwickeln. Der Traktat hat eine Länge von gut fünfzig Seiten und gehört zu den großen Schriften Senecas.

Seneca antwortet ausführlich, und er packt die gesamte stoische Weisheit in seine Antworten. Wir brauchen kein großes Vorstellungsvermögen, um die Gedanken, die Seneca vor gut 2000 Jahren formuliert hat, auch heute anzuwenden. Er hat eine klare Sprache, die selbst schlechte Übersetzungen nicht kaputtkriegen.

Auch wir sind gefangen, derzeit mehr als sonst, leben isoliert in unseren Wohnungen und fühlen uns angesichts all der Gefahren, die die Pandemie mit sich bringt, ohnmächtig. Das Warten darauf, dass es besser wird, dauert schon lang. Mehr, als sich an die gegebenen Regeln halten, kann man kaum tun. Die Fußfesseln sitzen fest und keiner will dauerhaft mit ihnen leben. Es zeigt sich aber, dass damals wie heute der Schlüssel, um so eine zähe Zeit zu meistern, offensichtlich im Kopf liegt. Das Schicksal hat zugeschlagen, hat eine Schlinge umgeworfen, die du weder lösen noch zerreißen kannst. Schön ausgedrückt, lieber Seneca, denke ich, aber wie soll ich klarkommen? Wie soll ich das Unvermeidliche tapfer, die Gewohnheit leicht tragen? Wütend werden ist kein Ausweg. Aber wo finde ich Aufmunterungen, Erholungen und Aufheiterungen?

Seneca gibt zu, dass keiner Ketten auf Dauer aushalten kann. Aber er verweist darauf, dass Ketten, unabhängig vom Schicksalsschlag, eigentlich immer eine Rolle spielen. Er findet schöne Namen für sie: goldene, gefügige oder rostige Ketten. Hier muss ich schmunzeln. Was ist das Problem von goldenen Ketten, die sind doch sehr angenehm, oder? Nein, würde da der Stoiker sagen, denn auch sie machen abhängig. Aus einem goldenen Käfig auszusteigen, ist nicht minder schwer als sich aus einem rostigen zu befreien. Und am schlimmsten sind für Seneca die eigenen Ketten, die man sich selbst auferlegt. Er spricht vom Opfer der eigenen Herrschsucht. Wer sieht sich schon gern selbst als herrschsüchtig an? Und doch, hier spricht er Fragen an sich selbst an, die für die Stoiker ganz wichtig sind: Ist im eigenen Leben eine Eigenschaft, z. B. die Herrschsucht zu stark ausgeprägt? Wie komme ich zum erfüllten Leben? Mit Sicherheit nicht, indem ich mir das Leben ständig schwer mache. Mehr Chancen habe ich, wenn ich die Schwere des Lebens akzeptiere und freudig auch nach den Erleichterungen greife: Wirkliche Geistesgröße hat auch im Privatleben Raum genug sich zu entfalten. (S. 20) Diese Einstellung führt weg von der großen Bühne Welt. Der Stoiker kannte sein Tagesprogramm: Immer neu Ausrichtung finden, immer neu Fragen stellen, die neuralgisch die Punkte berühren, die ein Leben in die Schräglage bringen: Bin ich neidisch? Verfolge ich Ziele, die schlicht unerreichbar sind? Verzettele ich mich? Wo, wann, warum? Und all diese Überlegungen führen zur zentralen Frage: Was hat Macht über mich?

Seneca beruft sich in all seinen Schriften auf Grundpfeiler der stoischen Lehre. Der erste ist sicher: Lebe bewusst, lass Dir Dein Leben nicht aus der Hand nehmen. Seneca ist überzeugt davon, dass das Schicksal nicht der Grund ist, der dem Menschen ein Gut oder Übel zuteilt. Er glaubt, das Schicksal liefere lediglich den Stoff, der sich im Menschen zu einem Gut oder Übel entfalte. Daher plädiert er vehement dafür, dass das Einzige im menschlichen Leben, was den Menschen in allem Wandel und Wechsel der Dinge oben hält, der Mut zu sich selbst sei.

Mut zu sich selbst, das ist der Tenor der Antworten an Serenus. Dieser Mut zu sich selbst ist für Seneca der Garant dafür, dass der Mensch sorgenfreier und gelassener leben kann. Er wendet den Blick nicht nach außen, sondern sucht immer wieder die Einsicht für die richtige Lebensrichtung im eigenen Inneren.

Aussortieren ist auch wichtig. Seneca spricht ganz klar die Verzettelung an, die den Menschen immer mehr in Abhängigkeiten bringt und ihn ohnmächtig werden lässt. Hier fordert Seneca dazu auf, dass sich der Mensch nicht mit dem belaste, was für ihn im Hier und Jetzt nicht gilt. Dazu gehört alles, was an Belastendem aus dem vergangenen Leben gezogen wird. Dazu gehört auch die ganze Sorge um das zukünftige Leben. Alles dies hindere den Menschen zu leben.

Und letztlich entscheidend ist die Gesamtsicht. Seneca lehrt die Bedeutung des Gesamtentwurfs für das Leben. Er will den Menschen vor Sinnleere schützen. Bei ihm kommt es allein auf die rechte geistige Haltung an, damit Leben gelingt. Anker dafür ist die stoische Ruhe.

Der Serenus von heute würde vielleicht resigniert Seneca gegenüber argumentieren, dass er genug Mut zu sich habe und eigentlich wisse, wie man schwere Zeiten überbrücke, dass ihm aber doch auch die mangelnden Zukunftsperspektiven Schwierigkeiten mache und dass er in seinem täglichen Mühen um Sinnerfüllung zuweilen am Rand stünde. Und abgesehen davon, würde Serenus vielleicht noch anfügen, sein Geld ginge ihm irgendwann auch aus. Seneca würde verständig nicken und dann aber klar und schnörkellos darauf hinweisen, dass ihn die Umstände niemals aus der Bahn werfen sollten, wie widrig sie auch seien. Das Mühen um die innere Ruhe sei weit wichtiger als die Schrecken dieser Welt. Und bei diesem Mühen gebe die Vernunft die Richtung an. Denken könne man nicht delegieren, das müsse er schon selbst leisten. Das Dasein von innen her zu bestimmen und dadurch frei zu sein, das möge die Ausrichtung sein, die Serenus suchen solle. Zum Hinweis auf den finanziellen Engpass, würde Seneca vielleicht darauf hinweisen, dass Sorge um Zukunft Gegenwart entreiße.

Puh! Ich gebe zu, dass ich hier massive Schwierigkeiten habe, Seneca zu folgen. Ohne Geldsorgen lassen sich solche Thesen gut verteidigen. In der gesamten Antike, nicht nur in der römischen, war Philosophie ein Privileg des gehobenen Standes und da auch nur der Männerwelt. Frauen, Sklaven, Kinder hatten keinen Zugang zu philosophischem Denken. Was würde heute Seneca einem Flüchtling auf Lesbos sagen oder dem Schüler, der gerade von Boko Haram entführt worden ist? Es wäre mehr als zynisch, hier die eine Gefangenschaft mit der zu vergleichen, in der Seneca Serenus weiß.

Seneca selbst, obwohl in Cordoba geboren, hat den Status eines Römers. Finanzielle Sorgen kennt er nicht. Aber er kennt alle anderen Tiefen des Lebens. Krankheiten, Verbannung, Verschwörung, Verfolgung, Todesurteil. Den Tod hat er, der Asthmatiker, zeitlebens vor Augen. Hineingeboren in die Ära des Augustus, Jugendlicher bei Herrschaftsantritt von Tiberius, Anwalt und Senatsmitglied unter Caligula, zwingt ihn Nero, sein einstiger Schüler, in den Tod. Seine Lehre erlebt einen Siegeszug durch alle Epochen abendländischer Geschichte und ist heute besonders gefragt. Die Voraussetzung, sich nicht ohnmächtig dem Schicksal zu beugen, ist der richtige Blick. Von ihm aus wird das Ziel festgelegt, der Weg überlegt, es werden Sachkundige mit einbezogen. Seneca warnt davor, zum Herdenvieh zu werden, und ermuntert dazu, die eigene Urteilsfähigkeit zu pflegen. Auf die Frage, was genau der richtige Blick ist, hätte Seneca vielleicht geantwortet: der des Stoikers. Trump würde antworten: Meiner. Was würde ich antworten? Mir gefällt nach wie vor noch eine Antwort, die Hans Georg Gadamer einst in einem unserer Seminare gegeben hat: „Der andere könnte auch recht haben“. Mit anderen Worten ausgedrückt heißt das: Um den richtigen Blick zu bekommen, ist weit mehr als die eigene Sicht notwendig. Viel gehört dazu, Demut ist nötig, Offenheit und auch Mut.

Seneca: Von der Seelenruhe, übersetzt von Otto Apelt, Köln (Anaconda-Verlag) 2010