Benedikt liegt völlig erschöpft auf seinem Lager, er weiß, dass die schwerste Arbeit jetzt erst kommt. Ohne die Aktion Grimsdal wäre er vielleicht bereits auf dem Heimweg. Nun hat er die gesamte Mühe, die verirrten Schafe aufzuspüren, noch vor sich. Was wäre, wenn …? eine Frage, die wohl jeder kennt.
… stattdessen lag er hier, verschlissen wie seine alten Kleider. Auch innerlich zerrissen.
Und wie er so liegt in der finsteren Hütte, da klopft es. Ja, er hat sich nicht verhört.
Es war ein junger Mann, daheim aus der Nachbarschaft, Jon auf Fjall. „Hast du unsere Füllen gesehen?“
Ein weiterer Umweg für Benedikt bahnt sich an. Hier steht ein völlig unerfahrener junger Mann vor ihm, geschickt von seinem Bauern, um verlorene Füllen aufzuspüren. Grimsdal hatte wenigstens Männer dabeigehabt. Die konnten Verantwortung für sich selbst tragen. Hier aber steht ein junger Mann, dessen Alter uns nicht genannt wird, aber Benedikt weiß, dass er viel zu unerfahren ist, um sich in dieser rauen Landschaft zu orientieren. Benedikt selbst war 27 Jahre, als er zum ersten Mal in die Berge ging, um Schafe aufzuspüren, die den Winter sonst nicht überleben würden. Dieser junge Mann muss demnach viel jünger sein. Keine Spur von Wut über die Verantwortungslosigkeit des Bauern ist bei Benedikt zu spüren. Aber er übernimmt sofort die Verantwortung für den jungen Mann und entscheidet blitzschnell, dass er ihm helfen wird. Er überlegt dabei sogar, dass ein Ruhetag seinem Knorz auch gar nicht schaden kann.
„Meinst du wirklich, du hättest Zeit, dass wir uns zusammen etwas umsehen könnten“, fragte Jon, unfähig zu Hintergedanken und Heimlichtuerei.
Diese Textstelle berührt mich in besonderem Maß. Der junge Mann hat keine hinterlistigen Gedanken. Er hat einen Auftrag zu erfüllen und er muss gehorchen, um seine Stellung zu behalten. Benedikt hingegen weiß, dass der große Fehler nicht beim jungen Mann und erst recht nicht bei den Füllen liegt, sondern bei dem Bauern, der alles andere als umsichtig handelt, weder gegenüber seinen Tieren noch gegenüber seinem Knecht. Er kommt nicht gut weg hier in der Textstelle. Und nun bekommt Benedikt eine Frage gestellt, die viele von uns sicher in einem anderen Kontext kennen. Die Frage, ob er Zeit habe, ihm beim Suchen der Füllen zu helfen. Wir können sogar umformulieren: Hast Du Zeit, dich um das eigentlich Wichtige im Leben zu kümmern? Was ist Zeit? Wofür verwende ich sie? Was ist mir wichtig, was muss auf Platz 2? Auch hier entscheidet jeder nach seiner Weise. Benedikt hat eigentlich keine Zeit zu verlieren, er hat wenig Proviant, er hat nur ein überschaubares Maß an Kräften und er weiß auch, dass die Tiere nicht endlos fit sind. Er weiß, dass er unter Zeitdruck steht. Und doch ist die Frage, ob er Zeit hat, für ihn obsolet. Zeit ist dann besonders kostbar, wenn sie nicht da ist. Nein, das ist kein Paradoxon, das ist die Quelle für den Weg, den er bestreitet.
„Was heißt Zeit“, antwortet Benedikt, und es tat ihm einerseits wohl, aber doch auch ein bisschen weh, dass der Bursche mit seiner Hilfe offenbar nicht gerechnet hatte.
Hier ist er mir so sympathisch, dieser Benedikt. Er ist nicht altruistisch. Nein, es tut ihm auch gut, dass er signalisiert bekommt: Hey, ich brauche Dich! Und ja, das kann ich sehr gut nachvollziehen. „Mama, hast du Zeit für meine Kinder?“, diese Frage ist mein Kontext. Und ja, sie tut gut, ich merke, da ist großes Vertrauen in mich gegeben und das freut mich. Gleichzeitig würde ich mich wundern, ja, vielleicht fühlte ich mich sogar übergangen, wenn meine Töchter erst gar nicht fragen würden. Zu merken, dass man gar nicht gefragt wird, obwohl eine Frage das Naheliegendste wäre, das kann auch wehtun. Von daher hat mich diese Textstelle wirklich berührt.
Die Fohlen werden am nächsten Tag gefunden, Benedikt verabschiedet sich von dem jungen Mann mit dem Hinweis:
„Und wenn ich auch nicht weitergekommen bin, es muss doch jeder einsehen, dass diese Woche nicht verloren war.“
Weiß Gott, Zeit für den anderen zu haben, das ist nie verlorene Zeit. Und hier wird sogar angefügt, dass er die Worte als Entschuldigung dafür versteht. Benedikt entschuldigt sich. Bei wem? Für was? Hier spielt der Unbekannte mit, der hinter dem Text steht und vielleicht „Gesellschaft“ heißt. Bei wem muss ich mich entschuldigen, wenn diese oder jene Aufgabe nicht fristgemäß erledigt ist? Jeder müsse einsehen, dass die Woche nicht verloren gewesen sei. Ist Benedikt hier nicht zu blauäugig? Unsere Gesellschaft tickt anders, jedenfalls fallen mir genügend Beispiele ein, in denen die Zeit für den anderen, in der man normalerweise nichts verdient, in der man nicht an der eigenen Karriere bastelt, in der man schlicht nur menschlich ist, nicht immer als sinnvoll angesehen wird.
Benedikt macht sich noch am gleichen Tag auf in die Berge. Er ist müde. Er weiß, dass das Bisherige nur ein Kinderspiel war gegen das, was noch kommen wird. Aber er bricht auf. Advent.
In anderen Jahren war er um diese Zeit schon zurück in der Zivilisation. In seinem Kirchspiel, in seiner Gemeinde im sonntäglichen Gottesdienst. Und sein Herz war da jeweils voller Dankbarkeit und Festtagsstimmung. Er überdenkt, dass er auch in manchen Predigten, in denen es um Furcht und Angst geht,
diese Angst erkannt hat, die er selbst auch vor dem Tod, ja und auch vorm Leben hatte. Aber er hat diese Angst in den Bergen begraben. Jetzt ist es meist so still in ihm und um ihn. Still wie in den Bergen.
Die meditative Stimmung, die hier beschrieben wird, der Zustand der Furchtlosigkeit und Ruhe, den viele Menschen anstreben und nie erreichen, den hat Benedikt gefunden. Wie nur? Das Bild vom Grab in den Bergen, in dem die Angst liegt, ist rätselhaft. Er hat seine Angst in den Bergen begraben. Berge sind groß, ihnen gegenüber wirke ich winzig. Sie sind erhaben, machen demütig, sie fordern Respekt ein und gleichzeitig sind sie Inbegriff der Schönheit der Natur und lassen im Staunen verstummen. Vielleicht fühlt sich Benedikt als Teil dieser Bergwelt, die hält und trägt, aber auch unberechenbar sein kann. Dieses Wissen, Teil eines Großen zu sein, nimmt ihm womöglich die Angst. Und dann hat er begriffen, dass er weitermachen muss:
Er muss die Müdigkeit und Schwere abzuschütteln, suchen und den Tag ausnutzen, um hinein- und hinaufzukommen – ein Stück Weges.
Er will hinein und hinauf in die Berge, ins unwegsame Gelände, ins Offene eben. „Was sich ins Bleiben begibt, schon ist’s das Erstarrte“, hat Rilke wunderbar formuliert. Der Antrieb, der von innen kommt, die Quelle am Sprudeln halten, das ist die große Aufgabe, deren Reichweite Benedikt in voller Dimension kennt. Und wieder kommt eine Störung: Der Postmann mit seinem Gehilfen zieht vorbei, sie haben noch nicht einmal Zeit für einen Kaffee, ihre Ablösung sitzt irgendwo fest, sie müssen sie suchen. Auch dieser Postmann handelt, auch er ist nicht dem Fatalismus erlegen. Stattdessen nimmt Grimur von Jökli, der Fährmann, den gekochten Kaffee Benedikts dankend an. Die Männer sprechen miteinander. Dabei zeigt sich, Jökli hat die unlautere Absicht von Grimsdal und auch von dem Bauern sehr genau durchschaut. Er hätte anders gehandelt, er kritisiert scharf Benedikts Handeln. Er steht eher auf der Seite Sigrids, in dessen Haus Benedikt eingekehrt war am Beginn seines Weges. Sie hatte ja auch die Absichten Grimsdals sehr schnell durchschaut. Grimur redet Benedikt ins Gewissen, er benennt klar, was aus anderer Sicht auch kritisiert werden könne an seiner Jahresschlusstour, wie er sie nennt. Das er nämlich seinen Tieren etwas zumute, das allein aus Tierschutzgründen schon verwerflich sei. Dass es offensichtlich sei, dass Benedikts Vorräte nicht reichen würden und er daher jetzt mit ihm, Grimur nach Hause gehen müsse und und und. Ja, keine Widerrede.
Der Text springt unkommentiert gleich nach diesem Abschnitt in eine völlig andere Welt. Benedikt geht unbeirrt seinen Weg weiter hinauf in die Berge. Aber erst übermannt ihn ein Traum: Er überlegt, was es bedeutet, über einen Gletscherstrom zu setzen.
… das ist, als käme man in ein anderes Land, fast in ein anderes Leben. Innerlich geht ein Riss durch einen – wie wird man wiederkommen?
In rascher Beschreibung – ein großer Kontrast zu den langsamen akribischen Passagen –findet er Schafe, arbeitet sich schwer durch den Schnee, Leo und Knorz sind teils bei ihm, im anderen Moment wieder fort, die Schafe sind so, wie sie sind, teils faul, teils widerspenstig, alles andere als dankbar, es ist nicht leicht, sie zusammenzuhalten und der Weg ist beschwerlich.
Da taucht ein Mann neben Benedikt auf, ihm zugleich freundlich und feindlich gesinnt. Benedikt läuft weiter, wie ein Gletscherstrom. Der Text unterschlägt, dass er erneut in einer bewohnten Hütte unterkommt. Hier sind Sprünge, die das Lesen schwer machen. Benedikt schläft jedenfalls in der Nacht in der Hütte, steht mittendrin auf und bricht auf in Begleitung des Knechts der Hüttenleute, der ihm beim Tragen hilft. Er wird ihn bis zu dem Loch im Berg begleiten, das dann der Ausgangspunkt für seine weitere Tour wird. Sie überqueren den Fluss und hier verabschiedet er sich von dem Knecht:
„Schönen Dank und komm gut über – und grüß daheim!“
Wir verlassen Benedikt für heute, der nun in der völligen Einsamkeit angekommen ist. Die Bilder seines Traums stehen mir klar vor Augen. Er ist im anderen Land, er hat den Fluss überquert. Innerlich geht ein Riss durch ihn. Er weiß, dass er jetzt Bärenkräfte braucht. Und natürlich schwingt die Frage mit:
Wie wird man wiederkommen?