Freude sprang in seines Vaters Herz über den Sohn, den Gelehrigen, den Wissdurstigen, einen großen Weisen und Priester sah er in ihm heranwachsen, einen Fürsten unter den Brahmanen.
Wonne sprang in seiner Mutter Brust, wenn sie ihn sah, wenn sie ihn schreiten, wenn sie ihn niedersitzen und aufstehen sah, Siddharta, den Starken, den Schönen, den auf schlanken Beinen Schreitenden, den mit vollkommenem Anstand sie Begrüßenden. (S. 11f.)
Hermann Hesse schildert am Beginn seines Buches, dass Siddharta wohlbehütet im Kreis einer Familie der Brahmanen aufwächst. Brahmanen sind im indischen Kastensystem Angehörige der obersten Kaste. Die Eltern sind stolz auf ihn, ihm winkt eine aussichtsreiche Zukunft. Hesse lässt das Herz des Vaters über den wissdurstigen und gelehrigen Sohn springen und die Mutter voller Wonne seine schöne und starke Gestalt betrachten. Bei allem hat dieser Siddharta vollkommenen Anstand. Er scheint der perfekte Sohn zu sein. Alles passt, Siddharta wirkt nicht aufmüpfig, rebellisch oder pubertär sondern stellt eher das Gegenteil dar. Alle lieben ihn, allen ist er eine Freude, aber …
Siddharta hatte begonnen, Unzufriedenheit in sich zu nähren. Er hatte begonnen zu fühlen, dass die Liebe seines Vaters und die Liebe seiner Mutter, und auch die Liebe seines Freundes Govindas, nicht immer und für alle Zeiten ihn beglücken, ihn stillen, ihn sättigen, ihm genügen werde. Er hatte begonnen zu ahnen, dass sein ehrwürdiger Vater und seine anderen Lehrer, dass die weisen Brahmanen ihm von ihrer Weisheit das meiste und beste schon mitgeteilt, dass sie ihre Fülle schon in sein wartendes Gefäß gegossen hätten, und das Gefäß war nicht voll, der Geist war nicht begnügt, die Seele war nicht ruhig, das Herz nicht gestillt. (S. 13)
Siddharta hatte damit begonnen hatte, Unzufriedenheit in sich zu nähren. Was muss geschehen, damit ein Mensch beginnt, Unzufriedenheit in sich zu nähren? Ein wunderbares Bild, das Hesse hier gestaltet, es geht mit mir durchs Leben, und Hesses Siddharta ist immer dann besonders nah, wenn ich in mir spüre, dass etwas nicht in Ordnung ist, ohne schon genau sagen zu können, was es ist. Siddharta merkt jedenfalls, dass sich etwas ändern muss und wahrscheinlich merkt er auch, dass diese Änderung nicht von außen, sondern allein von ihm ausgehen muss. Er merkt, dass das Gefäß nicht voll und der Geist nicht begnügt, die Seele nicht ruhig war, das Herz nicht gestillt. Hesse bietet uns hier ein Feuerwerk an Gründen für die Unzufriedenheit. Sie hat nicht nur eine Quelle, nein, der Geist verlangt nach mehr, er ist innerlich unruhig und sein Herz sucht nach Erfüllung. Im Grunde kennt sich Siddharta sehr gut; wir kennen nicht sein genaues Alter, aber offensichtlich hat er viel beigebracht bekommen und ist fähig zu erkennen, was für ihn stimmig und nicht stimmig ist. Man könnte also geradezu sagen: Aufzucht gelungen! Hesses Siddharta ist keine Figur, die null Bock auf nichts hat, nein, sein Siddharta will etwas aus seinem Leben machen, er sucht nach seinem eigenen und er spürt, dass er das im elterlichen Haus, das ihm sicher lieb und wichtig ist, nicht findet.
Siddharta trat in die Kammer, wo sein Vater auf einer Matte aus Bast saß, und trat hinter seinen Vater und blieb da stehen, bis sein Vater fühlte, dass einer hinter ihm stehe. Sprach der Brahmane: „Bist du es, Siddharta? So sage, was zu sagen du gekommen bist.“
Sprach Siddharta: „Mit deiner Erlaubnis, mein Vater. Ich bin gekommen, dir zu sagen, dass mich verlangt, morgen dein Haus zu verlassen und zu den Asketen zu gehen. Ein Samana zu werden, ist mein Verlangen. Möge mein Vater dem nicht entgegen sein.“ (S. 17)
Peng! Mit anderen Worten heißt das: Tschüss, Papa, ich gehe. Und zwar schon morgen. Du wirst das schon hinkriegen, ohne mich. Ich mache mein Ding. Das hier ist nicht mein Leben. Ich weiß, dass das für mich richtig ist. Und sag bitte jetzt aber: Alles Paletti. Adieu und goodbye!
Ich kann mir vorstellen, dass dem Vater erst einmal die Luft wegbleibt. So eine Ansage würde wohl die meisten Eltern fassungslos machen. Siddharta will weg von all dem, mit dem er groß geworden ist, will zu den Asketen gehen, den Samanas, den Bettlern. Was ist da schiefgelaufen? Oder ist überhaupt etwas schiefgelaufen? Warum sucht der Sohn das Gegenteil dessen, was er gewohnt ist? Siddharta will hier nicht mit dem Elternhaus abrechnen, nein, er legt es nicht darauf an, im Streit zu gehen. Er will, dass die Eltern seine Suche nach dem eigenen Weg bejahen und ihn ziehen lassen. Das klingt einfach, ist es aber nicht. Denn die Konsequenzen sind den Eltern klar: Er wird ein Leben in Armut führen, ein Leben, das hart ist, ein Leben, das er nicht hätte haben müssen. Sie sehen seine Gaben, sie wissen wahrscheinlich auch, dass diese Gaben in diesem Leben keine Entfaltung finden können und es ist daher nachvollziehbar, dass der Vater alles versucht, den Sohn umzustimmen.
Was nun folgt, gehört zu mich zu den besten Szenen eines Ringens zwischen Vater und Sohn, die ich aus der Literatur kenne. Siddharta bittet den Vater um die Erlaubnis, zu den Asketen gehen zu dürfen. Und ungesagt bittet er ihn dafür auch um seinen Segen. Die Passage zeigt, dass es hier nicht nur um autoritäres Gehabe seitens des Vaters geht. Hier geht es um den Kampf zwischen Autonomie und Tradition. Der Vater kann nicht aus dem heraus, was seine Väter ihn schon gelehrt haben und was er mit bestem Wissen und Mühen weitergegeben hat. Der Sohn will aber etwas anderes. Siddharta will nicht einfach abhauen, sondern will, dass der Vater ihn im Frieden ziehen lässt. Was verlangt Siddharta da vom Vater? Dass er freudig zustimmen solle: Ja, werde Bettler, darauf habe ich nur gewartet? Nein, das kann der Vater nicht gutheißen. Und was verlangt der Vater von Siddharta: Dass dieser weiter auf dem Weg bleibe, den er für ihn vorgesehen hat. Im Grunde verlangen beide voneinander das Unmögliche. Hesse lässt uns teilhaben an den Gedanken des Vaters:
Der Brahmane schwieg und schwieg so lange, dass im kleinen Fenster die Sterne wanderten und ihre Figur veränderten, ehe das Schweigen in der Kammer ein Ende fand. Stumm und regungslos stand mit gekreuzten Armen der Sohn, stumm und regungslos saß auf der Matte der Vater, und die Sterne zogen am Himmel. Da sprach der Vater: „Nicht ziemt es dem Brahmanen, heftige und zornige Worte zu reden. Aber Unwille bewegt sein Herz. Nicht möchte ich diese Bitte zum zweiten Male aus deinem Munde hören.“
Langsam erhob sich der Brahmane, Siddharta stand stumm mit gekreuzten Armen.
„Worauf wartest du?“ fragte der Vater.
Sprach Siddharta: „Du weißt es.“
Unwillig ging der Vater aus der Kammer, unwillig suchte er sein Lager auf und legte sich nieder.
Nach einer Stunde, da kein Schlaf in seine Augen kam, stand der Brahmane auf, tat Schritte hin und her, trat aus dem Hause. Durch das kleine Fenster der Kammer blickte er hinein, da sah er Siddharta stehen, mit gekreuzten Armen, unverrückt. Bleich schimmerte sein helles Obergewand. Unruhe im Herzen, kehrte der Vater zu seinem Lager zurück.
Nach einer Stunde, da kein Schlaf in seine Augen kam, stand der Brahmane von neuem auf, tat Schritte hin und her, trat vor das Haus, sah den Mond aufgegangen. Durch die Fenster der Kammer blickte er hinein, da stand Siddharta, unverrückt, mit gekreuzten Armen, an seinen bloßen Schienbeinen spiegelte das Mondlicht. Besorgnis im Herzen, suchte der Vater sein Lager auf.
Und er kam wieder nach einer Stunde, und kam wieder nach zweien Stunden, blickte durchs kleine Fenster, sah Siddharta stehen im Mond, im Sternenschein, in der Finsternis. Und kam wieder von Stunde zu Stunde, schweigend, blickte in die Kammer, sah den unverrückt Stehenden, füllte sein Herz mit Zorn, füllte sein Herz mit Unruhe, füllte sein Herz mit Zagen, füllte es mit Leid.
Und in der letzten Nachtstunde, ehe der Tag begann, kehrte er wieder, trat in die Kammer, sah den Jüngling stehen, der ihm groß und wie fremd erschien.
„Siddharta“, sprach er, „worauf wartest du?“
„Du weißt es.“
„Wirst du immer so stehen und warten, bis es Tag wird, Mittag wird, Abend wird?“
„Ich werde stehen und warten.“
„Du wirst müde werden, Siddharta.“
„Ich werde müde werden.“
„Du wirst einschlafen, Siddharta.“
„Ich werde nicht einschlafen.“
„Du wirst sterben, Siddharta.“
„Ich werde sterben.“
„Und willst lieber sterben, als deinem Vater gehorchen?“
„Siddharta hat immer seinem Vater gehorcht.“
„So willst du dein Vorhaben aufgeben?“
„Siddharta wird tun, was sein Vater ihm sagen wird.“
Der erste Schein des Tages fiel in die Kammer. Der Brahmane sah, dass Siddharta in den Knien zitterte. In Siddhartas Gesicht sah er kein Zittern, fernhin blickten die Augen. Da erkannte der Vater, dass Siddharta schon jetzt nicht mehr bei ihm und in der Heimat weile, dass er ihn schon jetzt verlassen habe. (S.17f.)
Hesse beschreibt die Seelenkämpfe des Vaters in dieser Nacht und denen gegenüber die Standhaftigkeit Siddhartas. Über die Gedanken Siddhartas schreibt er nichts. Stumm und regungslos stand mit gekreuzten Armen der Sohn, stumm und regungslos saß auf der Matte der Vater, und die Sterne am Himmel zogen. Der Sohn steht, geradezu in Kriegerpose, stark und entschlossen, der Vater sitzt, in sich gekehrt, beide sind stumm und entschlossen und die Zeit verstreicht. Ich sehe förmlich die Sterne wandern. Siddharta weiß, dass der Kampf mit dem Vater lang wird. Aber er will seine Zustimmung erreichen. Beide sind mächtig und ohnmächtig zugleich. Die geradezu erschütternde Ohnmacht des Vaters wird spürbar, als er bemerkt, dass der Sohn ihm groß und fremd erschien. Am Ende der Passage kommt der Vater zu der Einsicht, der Sohn habe ihn schon jetzt verlassen. Ich kann mir das Leid vorstellen, das dieser Mann durchmacht. Und ich sehe da auch eine Ohnmacht seitens des Sohnes, der weiß, was seine Entscheidung vom Vater und der Mutter abverlangt, der aber nicht feige einfach abhauen, sondern in Frieden ziehen will. Er will seine Eltern nicht verletzen und weiß, dass er es tun muss. Welch ein Konflikt.
Der Vater berührte Siddhartas Schulter.
„Du wirst“, sprach er, „in den Wald gehen und ein Samana sein. Hast du Seligkeit gefunden im Walde, so komm und lehre mich Seligkeit. Findest du Enttäuschung, dann kehre wieder und lass uns wieder gemeinsam den Göttern opfern. Nun gehe und küsse deine Mutter, sage ihr, wohin du gehst. Für mich aber ist es Zeit, an den Fluß zu gehen und die ersten Waschungen vorzunehmen.“
Er nahm die Hand von der Schulter seines Sohnes und ging hinaus. Siddharta schwankte zur Seite, als er zu gehen versuchte. Er bezwang seine Glieder, verneigte sich vor seinem Vater und ging zur Mutter, um zu tun, wie der Vater gesagt hatte. (S. 19)
Die Nacht verstreicht. Der Sohn steht, der Vater findet keine Ruhe, geht immer wieder hin und schaut nach dem Sohn. Die Arme des Sohnes sind gekreuzt, nicht offen, sein Entschluss steht, der Vater erkennt, dass er diesen akzeptieren muss. Er lenkt ein, nicht der Sohn. Von diesem kommt am Ende kein Wort mehr gegenüber dem Vater, aber es kommt eine Verneigung, eine Geste, die Unterwürfigkeit und Respekt gleichermaßen ausdrückt. Unklar ist, ob der Vater diese überhaupt sieht oder nicht schon draußen ist, er hatte sich ja zum Gehen gewandt.
Wir lassen Siddharta seinen Weg ziehen und verlassen ihn in dem Moment, wo er sich von der Mutter verabschiedet. Uns interessiert hier nur die Sicht auf die Thematik, die in jeder Familie in mehr oder weniger starker Form existiert. Irgendwann gehen die Kinder aus dem Haus, sie gehen vielleicht andere Wege als die, die die Eltern sich für sie wünschen. Sie suchen ihr eigenes Leben und die Eltern sind damit konfrontiert, loszulassen und zu akzeptieren, dass gelungen ist, worum sie sich jahrelang bemüht haben: Das Kind zur Selbständigkeit zu erziehen, es auf eigenen Füßen seinen Weg gehen zu lassen.
Wer ist hier Sieger im Kampf? Hesse berichtet aus Sicht des Vaters und lässt uns weit mehr an dessen Gefühlsleben teilnehmen als an dem Siddhartas. Ist er hier parteiisch? Nein. Hesse selbst sieht sich weit mehr als Siddharta als als Vater. Und Hesse selbst hat oft genug andere, auch die eigene Frau, im Stich gelassen, um seinen Weg zu suchen. So wortgewaltig er in seiner Dichtung war, so stumm war er selbst oft genug gegenüber den Menschen, die ihm am nächsten waren. Vielleicht, wirklich nur vielleicht, bringt Hesse hier den zarten Versuch zum Ausdruck, dass ihm wohl bewusst war, dass der andere durchaus unter seinen Entschlüssen gelitten hat. Der Vater lässt den Sohn ziehen, legt seine Hand auf dessen Schulter, bemerkt vorher, das Zittern in dessen Knien, aber die Festigkeit in dessen Blick und zeigt ihm an, dass die Tür des elterlichen Hauses offen stehe und dass der Sohn, wenn er die Seligkeit im Wald gefunden habe, zurückkommen könne, um sie ihm, dem Vater, zu lehren. Und wenn er keine Seligkeit, aber Enttäuschung fände, so solle er auch zurückkommen. Und dann geht er wahrscheinlich mit tiefer Traurigkeit im Herzen zum Fluss, um das zu tun, was er täglich tut.
Siddharta hingegen steht und wartet, weiß, dass er müde werden wird, aber nicht einschlafen wird und dass er sterben wird und das tun wird, was sein Vater ihm sagt. Warum gibt es hier keine Passage, in der Siddharta dem Vater zu verstehen gibt, dass er ihn liebt? Warum verweist er nur darauf, dass er immer seinem Vater gehorcht hat und auch jetzt das tun wird, was der Vater ihm sagt? Ja, Siddharta entscheidet sich klar gegen Anpassung und Traditionen, aber seine Radikalität wirkt auf mich auch stur. Zwingt er nicht letztlich den Vater dazu, ihm das zu sagen, was er hören will? Muss nicht der Vater kapitulieren, weil er weiß, dass sein willensstarker Sohn nicht einlenken wird?
Das Buch begleitet Siddharta auf seinem Weg, vom Vater ist nichts mehr zu hören. Von daher wissen wir nicht, was aus ihm geworden ist, wie er damit klarkommt. Und auch Siddharta denkt nur in einem Moment, als es ihm ganz schlecht geht, an das elterliche Haus zurück und geht ansonsten seinen durchaus holprigen Weg. Die Frage nach dem langfristigen Sieg bliebt also offen, in der zitierten Passage ist es aber so, dass Siddharta sein Ziel erreicht hat.
Hesses schreibt Siddharta im Alter von etwa 45 Jahren. Zwischen dem ersten und zweiten Teil liegen gut zwei Jahre Schaffenspause. Er veröffentlicht das Werk 1922. Das Buch wird zu einem der einflussreichsten Bücher des 20. Jahrhunderts. Hesse war und ist Kult. Bei seinem Erscheinen las man das Buch anders als zu Zeiten der 68er und heute ist es wieder insbesondere bei jungen Menschen, die auf der Suche nach dem eigenen Leben sind, hoch im Kurs. Mit Siddharta hat sich Hesse nach eigener Auskunft vom indischen Denken selbst befreit, es sei ein sehr europäisches Buch, das stark vom individualistischen Denken geprägt ist. Im Grunde bietet die beleuchtete Passage auch heute noch eine ideale Vorlage, um über die Problematik von Machtstrukturen und die Bedeutung von Traditionen innerhalb der Familie zu diskutieren.
Hermann Hesse: Siddharta, Frankfurt (suhrkamp) 2004