Advent im Hochgebirge, Teil 3

Benedikt ist gerade bei Sigrid und Pjetur auf Botn angekommen und das Ritual beginnt. Die Bäuerin begrüßt ihn, dann kommt der Bauer, danach eine Horde Kinder. Der älteste Sohn trägt den für die Familie völlig ungewöhnlichen Namen Benedikt, im gesamten Umland gibt es nur zwei, die diesen Namen tragen. Es bleibt in der Schwebe, warum dieser Name gewählt wurde, eine Unzahl an Möglichkeiten sind vorstellbar. Keine wird auch nur angedeutet. Nach der Begrüßung werden erst einmal die Tiere versorgt. Danach gehen Benedikt und Pjetur schweigend zurück zum Haus. Das Ritual ist Teil von Benedikts Wanderung.

Sie schlossen sorgfältig die Tür und gingen nachdenklich zum Wohnhaus hinüber, bei einem unsicheren Mondlicht, das kaum Licht zu heißen verdiente. Es war beinahe Finsternis. Kalte Windstöße umsausten sie merkwürdig plötzlich und drohend aus einer undurchdringlichen Nacht heraus. Seltsam, wie Menschen, die durch die Finsternis wandeln, einander verloren gehen.

Hier ist es wirklich Nacht – keine lichthelle, eine düstere, in der sogar auch der Mond nur unsicheres Licht ausstrahlt. Finsternis, Kälte, Verlust sind geradezu greifbar, alles andere als wohlige Wärme. Menschen gehen auch hier schon einander verloren. Aber es kommt noch dicker. In der Verlassenheit der Berge wartet noch weit mehr an Finsternis Kälte und Verlustgefahr. Da gibt es keine nahen Atemzüge mehr, nur steinerne Tiefe und Schauer bis in die Haarwurzeln.

Auch wenn ich nicht mit Benedikt in dieser feindlichen Kälte bin, schwirren mir viele Beispiele aus unserer Zeit durch den Kopf, auf die diese Bilder zutreffen. Wenn alles kippt, wenn Orientierung fehlt, wenn der Boden unter mir genauso unsicher ist wie das Mondlicht über mir. Das alles sind Situationen, in denen die Kerze einsam brennt. Benedikt und Pjetur gehen zurück zum Wohnhaus, vor dem eine Kerze brennt.

Ein einsames Licht ist fast wie ein Mensch, fast so verlassen wie eine zweifelnde Seele.

Die beiden Männer löschen das Kerzenlicht, bevor sie in die Stube treten mit dem Hinweis, dass dies ein Liebesdienst für ein Licht sei, wenn es man es sich nicht nutzlos verzehren lässt.

Ich halte inne beim Lesen. Wie viel gibt Gunnarsson hier von sich preis? Er betrachtet das Kerzenlicht und sinniert darüber, dass dies fast so verlassen sei wie eine zweifelnde Seele. Ja, es flackert und ein Windstoß kann ausreichen, dass es verlischt. Es ist kein starkes Licht, aber auch kein kaltes. Es ist angreifbar, und es zu vergeuden heißt, ihm den Liebesdienst verweigern. Gunnarsson spielt mit der Lichtmetaphorik, kontrastiert unsicheres Licht mit einsamem Licht und dienendem Licht. Vielleicht sollte ich meinen Kerzen einmal genauere Aufmerksamkeit schenken, kommt es mir in den Sinn.

Drinnen in der Stube herrscht jedenfalls wohlige Wärme, Benedikt erhält ein fürstliches Abendessen. Und dann die Störung: Es klopft und Harkon Grimsdal steht mit seinen Männern vor der Tür. Aber die Herberge ist eigentlich voll. Der erwartete Gast ist da, andere will man gar nicht haben an diesem Abend, der doch so besonders ist, kommt er nur einmal jährlich vor. Die Grimsdals kommen unerwartet und werden entsprechend von Sigrid kalt begrüßt. Wir kennen den weiteren Verlauf schon. Benedikt ist weit milder mit Grimsdal und seinen Mannen als Sigrid. Was können die Schafe dazu, dass ihr Herr nicht wachsam war?

Alle müssen nun warten, da es der Sturm unmöglich macht, das schützende Haus zu verlassen. Wie überbrücken die Einzelnen diese Zeit? Benedikt schnitzt mit den Kindern und erzählt Geschichten und Märchen. Die Grimsdals spielen Karten und gönnen sich ab und zu einen Schnaps, lesen in der Zeitung und kommen zum Schluss, dass im Ausland nicht nur das Vieh, sondern auch Menschen erfrieren, dass also das Schicksal seinen Gang gehe und es sich zeigen wird, ob die Schafe den Sturm überstehen. Und dann spielen sie erneut eine Runde Karten, zu dritt mit dem Vierten blind. Benedikt hingegen macht sich Gedanken um die Tiere, weiß, dass man nicht damit rechnen kann, dass sie verständig genug sind, sich auf die Höhen zu flüchten und also erfrieren werden. Er haushaltet mit seinen Kräften und geht schlafen. Mitten in der Nacht steht er auf, geht nach draußen und beschließt aufzubrechen. Er weckt die Grimsdals, die eigentlich lieber im Bett bleiben wollen, und wird mit der Frage konfrontiert:

Übernimmst du die Verantwortung?

Benedikt reagiert klug. Ja, er übernehme die Verantwortung für Knorz, Leo und sich selbst. Und damit ist klar: Die anderen müssen die Verantwortung für sich selbst tragen. Das Vorhaben ist gefährlich, außer dem großen Mut, es aufzunehmen, gehört auch eine klare Vorstellung dazu, was es heißt, sich in Gefahr zu begeben. Ich muss für mein Leben einstehen, ich kann die Verantwortung nicht abschieben, die Botschaft ist klar, sie braucht keine großen Worte. Daher läuft Harkon Grimsdal mit seinem Geplapper auch ins Leere, ein großer Kontrast zu Benedikt, der ruhig und sorgfältig seine Vorbereitungen zum Aufbruch trifft:

Benedikt holte aus seinem Sack eine kleine Decke hervor, die er Knorz auf den Rücken band, damit sich der Schnee nicht in seine Wolle festsetzte und ihn unterwegs belastete. Der Bauer von Grimsdal fragte, ob Papst Leo nicht auch ein Meßgewand bekäme. Benedikt ließ ihn reden, band eine Schnur um Knorzens Horn und – „Also los!“

Wann rastet ein Mensch aus? Wenn ich mich in Benedikt hineinversetze, dann wäre bei mir jetzt die Geduld endgültig zu Ende. Wohl wissend, dass da ein Weg bevorsteht mit Menschen, die offensichtlich völlig andere Vorzeichen setzen, die ihren Vorteil im Kopf haben, die auf Kosten anderer Scherze machen, die vielleicht noch nicht einmal merken, dass diese Scherze Verhöhnung und Verletzung zugleich sind, würde ich in Benedikts Fall aus tiefster Brust sagen: Eben reicht’s.

Aber Benedikt sagt: „Also los!“ Woher nimmt er diese Kraft so zu reagieren?

Benedikt konzentriert sich auf das, was wesentlich ist. Und jetzt, bei diesem Aufbruch ins Ungewisse, ist es wesentlich, dass seine beiden Begleiter volle Aufmerksamkeit erhalten. Zu den Männern Grimsdals, die nun mitgehen, kein Wort. Knorz blickt den Ernst der Lage und akzeptiert den Entschluss seines Herrn sehr wohl zeigend, dass dieser ihm eigentlich gegen den Strich ginge. Aber er fügt sich. Leo hingegen verhält sich ähnlich wie Benedikt:

Er ließ sich weder reizen noch unterkriegen; er war ja hierin wie in allem ein richtiger Papst, ließ sich nicht anfechten, biss nicht ein einziges Mal wieder, sondern war ganz davon erfüllt zu zeigen, dass er auch nicht von gestern war.

Hier ist es wieder, das Wort Papst. Isländer haben wenn, dann überwiegend protestantischen Glauben. Mit dem Papst in Rom haben sie nichts am Hut. Einen Hund als richtigen Papst zu bezeichnen, das ist im strengen Sinn Ketzerei. Aber ich glaube nicht, dass es Gunnarsson hier um Glaubensbelange geht. Er nimmt Papst als Synonym für Beständigkeit, Weitsicht, Ausdauer, Verlässlichkeit und Zukunftsgerichtetheit: Leo weiß, dass er nicht von gestern war. D. h. er braucht die ihm zugeschriebenen Eigenschaft jetzt konzentriert für die bevorstehende Anstrengung. Er gibt alles, um zu zeigen: Auf ihn kann Benedikt bauen. Und Benedikt steht hier stellvertretend für die Welt. Unwillkürlich kommt mir Mt. 16,18 in den Sinn: „Auf diesem Fels werde ich meine Kirche bauen.“ Ja, Leo wird zu einem Felsen in der Brandung, die als Schneesturm daherkommt. Auf ihn ist Verlass. Er ist Benedikts unverzichtbare Orientierung.

Die Gruppe wandert unverdrossen. Denn wenn man den Fuß vor Fuß setzt und die Richtung einhält, geht es voran.

Ein schönes Bild, bei dem sich die Übertragung auf den Advent geradezu anbietet. Ein Fuß vor den anderen setzen, die Richtung beibehalten, das Ziel vor Augen. Es geht voran, wenn auch langsam. Hier sind die Leerstellen des Textes besonders hervorzuheben. Da steht erst einmal nichts von der Kraftanstrengung, die es kostet, einen Fuß vor den anderen zu setzen, kontinuierlich, immer wieder. Da kann man sich die inneren Widerstände dazudenken, die in jedem kämpfen, die Fragen nach dem Sinn der Aktion, möglicherweise auch die Angst davor, dass das ganze Unternehmen scheitern könnte. Existenzielle Angst, die immer da ist, wenn die Kräfte zu Ende gehen, wenn der Weg nicht mehr sichtbar ist, wenn Orientierungslosigkeit droht.

Die Gruppe kommt auf eine Lichtung, der Sturm verliert an Kraft. Sie erkennen Konturen. Miteinander reden ist nicht möglich, der Wind war immer noch steif. Jeder ist für sich allein, auch wenn sie gemeinsam unterwegs sind. Das Bild der Einsamkeit, der Kraft, die jeder für seinen Weg braucht, ist ständig vor Augen. Ihre Konzentration ist hoch, der Weg unklar und schwer. Mir kommt Hilde Domins Gedicht: Ziehende Landschaften in den Sinn, in dem es mittendrin heißt:

Man muss den Atem anhalten
bis der Wind nachlässt.

Man muss durchhalten, man muss da durch, es gibt keine Alternative. Jede Kraftverschwendung kann tödlich sein. Man darf sich in solchen Situationen nicht verzetteln, keine unnütze Pause machen, man muss haushalten mit der Kraft. Die Wegzehrung der Männer sind Verse und Strophen aus Rimur, Choräle und Lieder. Die Kraft der Literatur, hier der isländischen Literatur. Die Strophen aus Rimur sind alte Volksdichtungen, einfache Vierzeiler ohne großen poetischen Wert, z. T. sogar geschmacklos. Aber sie reimen, leben von Alliterationen und sind eingängig.

Benedikt macht sich seinen eigenen Reim, der ihm den Rhythmus für die Füße vorgibt:

Schnee und Sturm und Felsgestein
stählt den Fuß und übt das Bein.
Immer hinterm Ofen sein,
Macht das Leben arm und klein.

Die beiden ersten Zeilen geben ihm das Programm vor, die Betonung liegt auf stählt. Die beiden weiteren Zeilen kommentieren. Man kann ihre Bedeutung ins Affirmative drehen: Wer wagt, gewinnt.

Aber noch ist nicht absehbar, ob die Kraft ausreicht, um diese Mission gut zu Ende zu bringen. Wir werden sehen.

4 Gedanken zu „Advent im Hochgebirge, Teil 3“

    1. Ich kann mich nur dem Kommentar von Dr.G.Hummel anschliessen und freue mich sehr neue Anregungen zu bekommen.
      Ich persönlich habe meine Kerze ausgemacht als ich die Stelle gelesen habe, da es schon hell wurde.
      Ich denke derjenige der sich auf den Weg macht braucht nichts außer Vertrauen. Der Wanderer oder Camper ist begrenzt auf Gewicht und Notwendigkeit in der Not, was auch sehr wenig sein kann. Auch hier ist das Vertrauen das einzigste was man wirklich braucht.
      VG Steffi

  1. Ich habe mit meiner Familie den 2. Advent im Schwarzwald verbracht. Gunnar Gunnarsons „Advent im Hochgebirge“ hatte ich einige Tage vorher gelesen und in meiner Tasche mitgenommen. In der schon etwas winterlichen Landschaft musste ich ständig an Benedikt denken und war tief berührt von dem Menschen und den beiden Tieren, die eins mit der unwirtlichen Natur wurden und unbeirrt ihren Weg gingen. Mein ältester Enkel trägt übrigens auch den Namen Benedikt.

  2. Danke für diesen unbekannten Textend ,das Erlebnis Ihn eilen zu dürfen.
    Er ist voller Lebensweisheit eines treuen Hirten, dem die Schafe wichtiger sind, als sein Leben. Er weiß um die Gefahr, weiß aber auch, dass er seinen Weg, diesen Weg gehen muss.
    Welche Zuversicht in diesem Advent!
    Da kommt mir Theodor Storm in den Sinn:
    „Man muss sein Leben aus dem Holz schnitzen, das man zur Verfügung hat.“
    Und das zeigt uns Benedikt: Aufrichtig, stoisch. unbeirrt geht er den für ihn als notwendig und wichtig erscheinenden Weg, seine Aufgabe erfüllend- und sein Glück wohl auch darin findend.
    Maud Kreisel

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