An diesem Tag stürmte und schneite es unerbittlich und das Eis am Asphalt war so dick, dass man mit Schlittschuhen zur Arbeit laufen hätte können, aber Anatolij Petrowitsch hatte keine Zeit für solche Späßchen. Er musste dringend der Verlobung seiner Tochter beiwohnen oder noch besser: diese verhindern. Dummerweise hatte seine Tochter von seiner Abgeneigtheit gegenüber ihrem Zukünftigen bereits Wind bekommen und Anatolija deswegen zur Verlobung vorsorglich gar nicht erst eingeladen. Aber nach ein paar Flaschen Jelzin (Anmerkung: Name eines Wodkas) redeten auch Elisawetas beste Freunde gerne und außerdem wurde Anatolij Petrowitsch von den meisten Studienanfängern als Respektperson gesehen, nachdem ihm Putin bei der letzten Schneeräumaktion persönlich die Hand geschüttelt hatte. Er war sogar im Fernsehen gewesen.
„Russland brauche mehr Männer wie Tolja“, verkündete der ewige Präsident mit dröhnender Stimme, „tapfere Gehilfen, die Wind und Wetter trotzen würden und dem Volk etwas Gutes täten, also dem russischen. Die anderen können ihren eigenen Dreck zusammenkehren“, lachte Putin, wobei er den letzten Satz natürlich nicht laut sagte, sondern erst später, als er Anatolij zum Abschied noch kurz die Schulter tätschelte. (S. 9)
Der tätschelnde Putin kommt nur einmal in Katharina Ferners Debüt von 2015 vor. Aber wir lernen einen Protagonisten kennen, der unzählige Male im heutigen Russland vertreten ist. Anatolij Petrowitsch, politisch zwar nicht mit der Linie des Landes einverstanden, aber auch nicht bereit, dieser entgegenzutreten, familiär alles andere als auf der Sonnenseite des Lebens unterwegs und auch hier nicht bereit, die Gründe dafür zu suchen. Schon die Eingangsszene zeigt, mit wem wir es zu tun haben: Anatolij Petrowitsch ist ein Mensch, der vom eigentlichen Geschehen nichts mitkriegt, wenn überhaupt, dann zu spät kommt und sich immer wieder in Situationen verfangen sieht, die er nicht versteht, der aber auch nichts dafür tut, diese aufzuklären. Ein tragischer Held, der aber eines weiß: Er will möglichst ungeschoren und ohne Schwierigkeiten sein Leben leben, und dies so gut wie möglich. Dabei zieht er viel zu oft den Kürzeren, wird zum Spielball und gibt alles ab, verliert seine Autonomie. Ja, Anatolij macht sich – und das ist das Tragische leider selbst zur Witzfigur. Katharina Ferner zeichnet seine Ambivalenz fein, subtil und humorvoll. Dass ihn seine Frau mit einem deutschen Diplomaten noch zu Sowjetzeiten verlassen hat, das ist für ihn Geschichte. Dass aber jetzt die Tochter in eine für ihn unangemessene Beziehung schlittert, das will er verhindern, aber er hat dabei keinen Erfolg. Anatolij meint, die Fäden in der Hand zu halten, er glaubt an seine Autorität, sein Ansehen, sein Können usw. Aber im Grunde hat er zu wenig Traute, will auch gar nicht alles verstehen, zögert allzu oft, hat Angst vor dem Machtapparat und ist dadurch ein paradigmatischer Mitläufertyp, einer, der froh ist, wenn es nicht schlimmer kommt, als es schon ist, und einer, der sich nicht vorstellen kann, dass es einmal ganz schlimm kommen kann. Hierin liegt die größte Kritik des Buches. Die Anatolijs dieser Welt sind Legion.
Anatolij gewinnt zwei Tickets für die Eröffnungsfeier der olympischen Spiele in Sotschi, obwohl er genau weiß, dass er an keiner Lotterie teilgenommen hat. Freude darüber kommt nicht auf, woher diese Tickets stammen, bleibt ungeklärt und er hinterfragt das auch nicht. Er will sie nicht verfallen lassen. Daher nimmt er Michail mit, einen seiner Arbeitskollegen. Anatolij ist durchaus entsetzt, als er das Hotelzimmer sieht, das ihn dazu verdammt, mit dem Arbeitskollegen ein gemeinsames Bett zu teilen. Die ganze Situation ist grotesk: Er ist an einem Ort, an den er nicht will, mit einem Menschen, der ihm nur kollegial nahesteht, und er weiß nicht genau, was das Ganze soll. Seine durchaus erbärmliche Lage wird auf dem Bild über dem Bett gespiegelt:
Über dem Bett in einem schweren Holzrahmen hing ein Porträt des lächelnden Staatsoberhauptes, der mit nacktem Oberkörper vor einem Bären posierte. Anatolij fragte sich, ob der Bär tatsächlich echt war und wie es kam, dass er den Mann vor ihm nicht einfach gefressen hatte. Sein Kollege schüttelte angewidert den Kopf und wollte das Bild entfernen. Es war jedoch nicht möglich, das Bild auch nur irgendwie zu bewegen, weswegen die beiden sich entschlossen, es mit einem Handtuch zu verhängen, von denen im Hotel mehr als genug vorhanden waren. (S. 18f.)
Anatolij arrangiert sich mit allem, was wohl nicht zu verändern ist. Und wenn er Putins Bild schon nicht abhängen kann, dann kann er es wenigstens verhüllen. Diese Haltung ist Programm: Anatolij würde nie weitergehen, als mit Hilfe eines Handtuchs Dinge aus seinem Blickfeld zu entfernen. Zu radikalen Änderungen ist er nicht fähig. Er fühlt sich nicht wohl in seiner Haut, zieht trotzdem den braunen Samtanzug aus Zeiten der Sowjetunion an und wird von seinem Kollegen deswegen ausgelacht. Michail ergreift die Initiative:
Er pickte ein paar bunte Hemden und eine schwarze glänzende Hose aus dem Stapel, reichte sie Anatolij und schob ihn mit den Worten: „Husch, husch, ab in die Umkleide!“ ins Badezimmer. Anatolij Petrowitsch fühlte sich zwar höchst unwohl, traute sich aber nicht zu widersprechen. (S. 20)
Diese Haltung ist Programm. Er erträgt ohne Widerspruch einen Zustand, der ihm zuwider ist. Letztlich trägt er eine viel zu enge Hose, die ihn zwar mehr als beengt, dem anderen aber gefällt.
Immer wieder führt Katharina Ferner ihren Helden in solch absurde Situationen. Sie werden zunehmend tragischer. Anatolij wacht am anderen Tag im Hotel nackt neben seinem Arbeitskollegen im Hotelbett auf, ohne zu wissen, wie es dazu gekommen und was vielleicht passiert ist. Er schämt sich für diese Erinnerungslücke und will bloß noch nach Hause. Um seinen Kopf frei zu bekommen, fährt er für zwei Wochen auf die Krim, ein Urlaub, getarnt als Dienstreise. Kaum dort angekommen, wird er von russischen Soldaten aufgefordert, in seinem Zimmer zu bleiben, bis die Aufregung vorbei wäre.
„Welche Aufregung?“
Anatolij verstand die Welt nicht mehr. Dass er doch nur hier sitzen wolle und die Sonne genießen. Die Soldaten schüttelten den Kopf. (S. 32)
Von der Annexion kriegt er nichts mit oder will nichts mitkriegen. Natürlich versucht er sich zu informieren, aber im Hotel gibt es ausschließlich russische Fernsehsender, sein Lieblingssender ist nicht dabei.
Anatolij Petrowitsch bedauerte das, war es doch der einzige Sender gewesen, auf dem man ab und zu etwas Neues erfuhr. Jetzt blieb ihm allerdings nichts anderes übrig, als den russischen Staatssender einzuschalten, wo der Präsident eine feurige Rede hielt. Anatolij gähnte und versuchte herauszufinden, was diesmal verbrochen worden war. Er hatte natürlich von den Demonstrationen gehört, hatte der ganzen Situation aber nur wenig Bedeutung zugemessen. (S. 32)
Kein Staunen, kein Sich-Wundern, kein Hinterfragen, keine Reflexion. Anatolij will nicht länger in seinem Zimmer stillsitzen, er will raus, er will etwas erleben. Voller Tatendrang betritt er den Aufzug, dieser bringt ihn gemächlich Etage um Etage tiefer und hält plötzlich abrupt an. Nichts bewegt sich mehr. Auch hier wiederum eine absurde Situation. Aufgrund von Unruhen gäbe es technische Probleme, ertönt es aus dem Lautsprecher, die ukrainische Nationalhymne bricht ab und dann folgt in Dauerschleife die russische. Anatolij wartet und wartet. Irgendwann setzt sich der Aufzug wieder in Bewegung. Kein Mensch in der Lobby, niemand im Restaurant. Und auch hier kein Sich-Wundern, kein Suchen nach Antworten. Anatolij geht zurück auf sein Zimmer und liest: Der Tag des Opritschniks. Katharina Ferner verzichtet darauf, ihre Leser darüber zu informieren, dass dies ein Buch von Vladimir Sorokin ist, einem, wenn nicht dem schärfsten Kritiker der politischen Eliten Russlands. Aber auch diese Lektüre heißt nichts; denn Anatolij schaut von seinem Fenster aus auf die aufgebrachte Menschenmenge auf der Straße und begreift wiederum nichts:
Anatolij Petrowitsch war positiv überrascht von dem Auflauf. Er hatte zwar keine Ahnung, was dieser vor seinem unscheinbaren Hotel zu suchen hatte, freute sich aber, dass endlich etwas passierte und beschloss, sich umgehend ebenfalls in die Menge zu stürzen, um herauszufinden, was es mit dem Wirbel auf sich hatte. (S. 37)
Die Ereignisse nehmen ihren Lauf.
Was geschieht hier? Katharina Ferner schreibt keine Science Fiction. Die Annexion der Krim hatte vor der Niederschrift ihres Buches stattgefunden. Nein. Sie erzählt distanziert Episoden aus dem Leben Anatolij Petrowitsch und verdeutlicht mit leisem Unterton, wie rasch ein Mensch, der sich tunlichst unpolitisch verhält, in gefährliches Fahrwasser kommt, insbesondere in einem Regime, bei dem es auf eine weitere Leiche nicht ankommt. Nicht grundlos erscheint der Verweis am Anfang des Buches:
An die russische Regierung:
Diese Geschichten sind frei erfunden
und ausschließlich zum literarischen Genuß gedacht.
Im Vortext zitiert sie eine Passage aus Bulgakovs Meister und Margarita. Allein dieser Prätext ist die beste Interpretation ihres Romans. Bulgakovs Literatur ist alles andere als nur literarischer Genuss, Bulgakov nutzt sein literarisches Können für beißende politische Kritik.
Aus der Sicht der einfachen Menschen à la Anatolij entwickelt Katharina Ferner die groteske Komik der gesamten politischen Situation. Was von außen gut sichtbar ist, was scheinbar allen anderen offensichtlich erscheint, ist diesem Anatolij nicht greifbar. Er lebt sein Leben, als habe er gar nicht verstanden, was um ihn herum geschieht. Und ja, da ist viel schwarzer Humor im Spiel, denn die Ereignisse des Jahres 2022 führen die Konsequenzen des Handelns von Anatolij in erschreckender Weise vor Augen. Der Roman zeigt uns noch viele Facetten von Anatolij. Manchmal bleibt einem dabei das Lachen im Hals stecken, gerade dann, wenn die Maskerade allzu dick aufgetragen ist. Was ist eigentlich nötig, damit diesem Menschen endlich die Augen aufgehen? Der Anblick von gefolterten Kollegen, ja auch geliebten Menschen, scheint nicht für ein Umdenken auszureichen.
Katharina Ferner ist ein zukunftsträchtiges Buch gelungen, Alice Haring hat dazu ein treffendes Cover gestaltet: Ein Harlekin mit einem Sowjetstern auf dem Kopf, allerdings ist dieser blau. Katharina Ferner schreibt das Buch in einer Zeit, in der sie selbst Slawistik in Wien studiert. Sie, 1991 in Salzburg geboren, hat schon als Schülerin bei den Rauriser Literaturtagen die Lust zum eigenen Schreiben entdeckt und ist inzwischen eine der jungen Stimmen Österreichs, die kreativ neue Wege suchen. 2021 liest sie einen ihrer Texte beim Bachmann-Wettbewerb vor. Sie lebt als freie Schriftstellerin in Salzburg, schreibt Prosa, Gedichte und Kolumnen.
Katharina Johanna Ferner: Wie Anatolij Petrowitsch Moskau den Rücken kehrte und beinahe eine Revolution auslöste, Wien (wortreich) 2015