Am 1.11.2021 ist dem 100. Geburtstag von Ilse Aichinger gedacht worden. Ihr Name ist unweigerlich damit verbunden, dass man sie neben Ingeborg Bachmann zu den großen Damen der Gruppe ‘47 einreiht, jener Vereinigung von Schriftstellern, die sich 1947 locker zusammenfinden, um nach einer neuen literarischen Sprache zu suchen, die es nach dem verheerenden Krieg und dem Deutsch der Nazis braucht. 1952 liest sie bei einem Treffen der Gruppe die Spiegelgeschichte, für die sie den Preis der Gruppe erhält und die sie schlagartig berühmt macht. Bei der gleichen Tagung lernt sie Günter Eich kennen, den sie heiratet und mit dem sie eine Familie gründet.
Ilse Aichinger, geboren in Wien, darf als Jüdin nicht studieren. Sie beginnt nach dem Krieg mit dem Medizinstudium, verdient sich aber ihren Unterhalt mit Schreiben. Ihr Werk lässt sich nicht in eine Richtung einordnen, frühe Texte sind eher surrealistisch gefärbt, späte verzichten oft auf eine zusammenhängende Handlung. Heute gilt sie als eine der großen Autorinnen der literarischen Moderne.
Das Fenster-Theater ist eine Kurzgeschichte aus dem Jahr 1963.
Sie ist aus Sicht einer Frau geschrieben, die aus dem Fenster ihrer Wohnung in einem der oberen Stockwerke des Gebäudes schautlehnt und dabei einen Mann in der gegenüberliegenden Wohnung beobachtet, der sich aus ihrer Sicht sehr waghalsig und seltsam verhält:
(…) Die Frau blieb am Fenster.
Der Alte öffnete und nickte herüber. Meint er mich? dachte die Frau. Die Wohnung über ihr stand leer, und unterhalb lag eine Werkstatt, die um diese Zeit schon geschlossen war. Sie bewegte leicht den Kopf. Der Alte nickte wieder. Er griff sich an die Stirne, entdeckte, dass er keinen Hut aufhatte, und verschwand im Innern des Zimmers.
Die Szene ist nachvollziehbar. Heute gibt es zwar immer weniger Menschen, die aus dem Fenster schauen und das Geschehen auf der Straße beobachten, aber 1963 war das kein Stalken, sondern gute Tradition. Meine Oma machte jeden Tag die Fensterläden im Erdgeschoss zu: Ein Vorgang, der lange dauern konnte, je nachdem, wer da gerade zu einem Schwätzchen auf der Straße vorbei kam. In meiner Erinnerung hat meine Oma am Fenster einen festen Platz. In Aichingers Geschichte wird die durchaus plausible Situation geschildert, dass sich eine Frau die Welt vom Fenster aus ansieht. Was geschieht nun mit dem Mann gegenüber?
Gleich darauf kam er in Hut und Mantel wieder. Er zog den Hut und lächelte. Dann nahm er ein weißes Tuch aus der Tasche und begann zu winken. Erst leicht und dann immer eifriger. Er hing über die Brüstung, dass man Angst bekam, er würde vorn überfallen. Die Frau trat einen Schritt zurück, aber das schien ihn nur zu bestärken. Er ließ das Tuch fallen, löste seinen Schal vom Hals – einen großen bunten Schal – und ließ ihn aus dem Fenster wehen. Dazu lächelte er. Und als sie noch einen weiteren Schritt zurücktrat, warf er den Hut mit einer heftigen Bewegung ab und wand den Schal wie einen Turban um seinen Kopf. Dann kreuzte er die Arme über der Brust und verneigte sich. Sooft er aufsah, kniff er das linke Auge zu, als herrsche zwischen ihnen ein geheimes Einverständnis. Das bereitete ihr so lange Vergnügen, bis sie plötzlich nur mehr seine Beine in dünnen, geflickten Samthosen in die Luft ragen sah. Er stand auf dem Kopf. Als sein Gesicht gerötet, erhitzt und freundlich wieder auftauchte, hatte sie schon die Polizei verständigt.
Was tut der Mann da eigentlich? Man kann sich die Panik geradezu vorstellen, die diese Frau ergreift. Sie kann ihn stimmlich nicht erreichen, alle ihre warnenden Gesten bleiben ungehört, sie hat Angst, es könne etwas passieren: Da ist es nachvollziehbar, dass sie handeln muss. Man fühlt sich geradezu an den Film von Hitchcock: Das Fenster zum Hof von 1954 erinnert, in dem, großartig gespielt von James Stuart und Grace Kelly, der Mann im Rollstuhl Zeuge eines Verbrechens wird, das in der gegenüberliegenden Wohnung geschieht und bei dem er im Grunde machtlos zusehen muss. Hier geschieht kein Verbrechen. Wir wissen ja noch gar nicht, was da überhaupt passiert und warum sich der Mann so verhält.
Und während er, in ein Leintuch gehüllt, abwechselnd an beiden Fenstern erschien, unterschied sie schon drei Gassen weiter über dem Geklingel der Straßenbahnen und dem gedämpften Lärm der Stadt das Hupen des Überfallautos. Denn ihre Erklärung hatte nicht sehr klar und ihre Stimme erregt geklungen. Der alte Mann lachte jetzt, so dass sich sein Gesicht in tiefe Falten legte, streifte dann mit einer vagen Gebärde darüber, wurde ernst, schien das Lachen eine Sekunde lang in der hohlen Hand zu halten und warf es dann hinüber. Erst als der Wagen schon um die Ecke bog, gelang es der Frau, sich von seinem Anblick loszureißen.
Das in die Luft geworfene Lachen ist ein wunderschönes Bild. Wem gilt es? Spannung wird aufgebaut. Die Situation spitzt sich zu. Unten auf der Straße kommen in Hektik Polizeiautos zusammen, oben am Fenster scheint eine andere Welt zu existieren. Die Polizisten stürmen die Wohnung. Sie gehen vorsichtig vor, wie bei einem Menschen, der suizidgefährdet ist und nicht erschreckt werden darf. Sie brechen die Wohnung des Mannes auf, die Frau, die die Polizei gerufen hat, ist bei allem dabei.
Als die Tür aufflog, stand der alte Mann, mit dem Rücken zu ihnen gewandt, noch immer am Fenster. Er hielt ein großes weißes Kissen auf dem Kopf das er immer wieder abnahm als bedeutete er jemandem, dass er schlafen wolle. Den Teppich, den er vom Boden genommen hatte, trug er um die Schultern. Da er schwerhörig war, wandte er sich auch nicht um, als die Männer schon knapp hinter ihm standen und die Frau über ihn hinweg in ihr eigenes finsteres Fenster sah.
Noch immer sind die Leser im Unklaren über das Geschehen. Es wirkt skurril. Ein erwachsener Mensch, der offensichtlich mit seinem Kissen Zeichen setzt und sich den Teppich umgelegt hat. Ein Mensch, der völlig aufgeht in seiner Welt und dann als Kontrast die Frau, die mit den Polizisten in die Wohnung eingebrochen ist und in ihre eigene finstere gegenüber sieht. Kein Wort ist hier zu viel. Hier der agierende Mann, da die in die Finsternis blickende Frau.
Die Werkstatt unterhalb war, wie sie angenommen hatte, geschlossen. Aber in die Wohnung oberhalb musste eine neue Partei eingezogen sein. An eines der erleuchteten Fenster war ein Gitterbett geschoben, in dem aufrecht ein kleiner Knabe stand. Auch er trug sein Kissen auf dem Kopf und die Bettdecke um die Schultern. Er sprang und winkte herüber und krähte vor Jubel. Er lachte, strich mit der Hand über das Gesicht, wurde ernst und schien das Lachen eine Sekunde lang in der hohlen Hand zu halten. Dann warf er es mit aller Kraft den Wachleuten ins Gesicht.
Hier endet die Geschichte. Bis zum Lockdown las man sie sicher anders. Seitdem hat die Kommunikation mit dem Nachbarhaus über das Fenster, oft der einzige Kontakt zum Nächsten, eine neue Dimension erfahren. Die Geschichte ist skurril und rührend zugleich. Sie hat ein ernstes Thema, das leicht erzählt, geradezu mit viel Ironie untermalt ist: Die Einsamkeit in unserer modernen anonymen Gesellschaft. Die Frau hatte gar nicht bemerkt, dass die Wohnung über ihr wieder bewohnt war, sie war fest davon überzeugt, dass sie selbst Adressatin der Gesten und der Mimik des Mannes sei und als er nicht auf ihre Zeichen reagierte, musste sie davon ausgehen, dass sich da etwas Schlimmes anbahnen würde. Sie kam gar nicht auf die Idee nachzusehen, ob auch noch ein anderer Adressat möglich gewesen wäre. Eine sehr eingeschränkte Sichtweise. Deren Folgen werden hier von Aichinger auf den Punkt gebracht. Die Frau ist nun blamiert, ihr Verhalten war voreilig und überflüssig und ja, sie denkt auch ohne große Fantasie. Demgegenüber haben wir es mit einem Theaterspieler zu tun, der noch dazu schwerhörig, aber sehr wohl kommunikationsbereit ist, der aktiv und dem Leben zugewandt aus der Situation kreativ etwas macht. Und der Dritte im Bunde ist das Kind, gefesselt an sein Gitterbett, und sicher auch fasziniert von dem, was da gegenüber gespielt wird. Es bekommt die volle Aufmerksamkeit des Mannes, die beiden vergessen alles um sich herum, sie verstehen sich, haben ihre Freude miteinander und sie lassen sich auf das Spiel ein, das von außen nicht verstanden wird.
Interessant ist der Schluss: Er greift das zugeworfene Lachen nochmals auf. Der Junge lachte, strich mit der Hand über das Gesicht, wurde ernst und schien das Lachen eine Sekunde lang in der hohlen Hand zu halten. Dann warf er es mit aller Kraft den Wachleuten ins Gesicht. Die metaphorische Weitergabe des Lachens: welch genialer Schachzug. Wir wissen nicht, wie die Polizisten oder auch die Frau reagieren. Ob sie das Lachen aufnehmen können? Ob sie selbst in befreiendes Lachen übergehen können? Oder ob sie verbissen über die Nutzlosigkeit ihrer Aktion erbost sind?
Ilse Aichinger: „Das Fenster-Theater“, in: dieselbe: Der Gefesselte. Erzählungen. Frankfurt (Fischer) 1963